Einst war er verschmäht, jetzt kommt er wieder ganz groß raus: Die Bachstadt Leipzig feiert das Jubiläum des genialen Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Am Bahnhof wartet eine junge Musikerin mit rotem Cellokasten auf die Straßenbahn. Am Bahnsteigende überqueren fünf junge Männer im Pulk den Willy-Brandt-Platz, alle in schwarzen Anzügen. Einer trägt einen Trompetenkoffer. Es ist Musikfest in Leipzig, Bachfest. Seit 1999 wird es jährlich gefeiert: mit Konzerten in Kirchen, im Gewandhaus, auf dem Augustusplatz und im Zoo, mit Ensembles, Jazzmusikern, Musik aus Afrika und dem Thomanerchor. An jeder Straßenecke kleben überdimensionierte Plakate, darauf das Bild eines zufrieden blickenden älteren Herrn mit Doppelkinn und schwarzem Rockkragen. Johann Sebastian Bach, einst Kantor an der Leipziger Thomaskirche, als Popikone stilisiert.

Bach im Hauptbahnhof, wo Mädchen in langen Gewändern zu Schalmeien tanzen und ein Posaunenquartett Barockwerke verjazzt. Bach auf dem Augustusplatz zwischen Gewandhaus und Oper, wo der Geiger Nigel Kennedy mit Klezmerklängen experimentiert. Bach in der Nikolaistraße, wo sich ein einsamer Gitarrist mit näselnden Gesängen ein paar Euro zu verdienen versucht, in der Grimmaischen Straße vor der Mädlerpassage, aus der Barockmusik düdelt. Und Bach auf dem Thomaskirchhof, wo eine schwarz gekleidete Geigerin, ein Klarinettist in olivgrünen Shorts und lila Sweatshirt, eine Akkordeonspielerin, ein Kontrabassist und ein Percussionist slawische Tänze zum Besten geben.

Dabei ist der eigentliche Star des Festivals ein ganz anderer - zumindest in diesem Jahr: Felix Mendelssohn Bartholdy, Pianist, Komponist der deutschen Romantik, Dirigent und Gründer einer Leipziger Musikhochschule. Als 20-Jähriger machte er die in Vergessenheit geratene Musik Johann Sebastian Bachs wieder bekannt, als er die "Matthäuspassion" des alten Meisters aufführte. In diesem Jahr am 3. Februar war Mendelssohns 200. Geburtstag. 1847 starb er mit nur 38 Jahren, acht Jahre seines Lebens hatte er da in Leipzig gewirkt. Beim Bachfest stand sein Name ganz oben mit im Programm. 135 Werke von Bach waren zu hören, 68 aus der Feder des romantischen Kompositionsgenies -und 33 aus der von Max Reger, von 1907 bis 1908 Musikdirektor der in diesem Jahr 600 Jahre alten Leipziger Universität.

Die Nazis lehnten den Protestanten ab - wegen seiner jüdischer Herkunft

Leipzig feiert Mendelssohn. Und das parallel zu einem mehrwöchigen Mendelssohn-Fest im Berliner Dom, bei dem all seine großen Oratorien erklingen, dazu A-cappella-Chorwerke und Orchestermusik. Doch gerade in Leipzig boomen Musikfeste. Mehr als 55 000 Interessierte hat das diesjährige Bachfest angelockt. Dabei mussten die Leipziger seit Anfang Mai bereits ein A-cappella-, ein Wave-/Gothic-Festival und ein Stadtfest über sich ergehen lassen. Bis Ende November werden sie noch Jazztage erleben, das Tanztheaterfest "euro-scene" und ein Dokumentarfilmerfestival. "Die Hotellerie und Gastwirtschaft in Leipzig wünscht sich sogar ein zusätzliches Festival im Sommer", sagt Dettloff Schwerdtfeger, Geschäftsführer des Bach-Archivs, das auch das Bachfest organisiert. "Leipzig ist eben die Musikstadt in Deutschland. In Europa", verbessert er sich selbst.

Nun also Mendelssohn zum Bachfest. Zu seinem Jubiläum gilt es, ein Unrecht wiedergutzumachen. Die Nazis hatten den zum Protestantismus konvertierten Musiker als Juden abgelehnt. Seine Musik sei gefällig, hieß es, ihr fehle es an "Tiefenverwurzelung". Johann Sebastian Bach hingegen ließ Reichspropagandaminister Joseph Goebbels zum Prototyp des deutschen Komponisten stilisieren.

Jahrzehnte nach dem Krieg wirkte das Unrecht gegen Mendelssohn fort. Im 1983 erschienenen "Großen Konzertführer" monierte Musikwissenschaftler Otto Schumann, der zu Nazizeiten Karriere gemacht hatte, das "gepflegte Leben an der Oberfläche" bei Mendelssohn, das "Halbechte" an ihm und "zu viel formale Glätte und zu wenig Erlebensfähigkeit".

Solche Schmähurteile sind nun Geschichte. Im Eisenacher Bachhaus dokumentiert derzeit die Sonderausstellung "Blut und Geist" an Mendelssohns Beispiel, wie die nationalsozialistische Ideologie bis in die jüngste Zeit fortwirkte.

Zur Eröffnung des Leipziger Bachfestes führten Musiker aus Berlin und Jerusalem gemeinsam Mendelssohns "Elias" auf. "Ein Symbol", frohlockte Thomaskantor Georg Christoph Biller in der "Leipziger Volkszeitung": "Ein deutscher Chor, ein israelisches Orchester mit Mendelssohns Musik in Bachs Kirche."

Und in der ausverkauften Thomaskirche donnerten an die zweihundert Jungen aus Dresdner Kreuzchor und Leipziger Thomanerchor Mendelssohns katholische Messe "Lauda Sion". Ein gewissenhaft komponiertes Werk, versichert das Programmheft. Zehn Monate lang habe Mendelssohn Auskünfte über die lateinische Messe eingeholt, über liturgische Melodien und Abfolgen, über ortsübliche Bräuche. Von "gründlicher Auseinandersetzung mit dem Text" ist die Rede, von der "besonderen Sorgfalt" des Komponisten, als gelte es, jeden Verdacht musikalischer Oberflächlichkeit zu zerstreuen.

"Unter beiderlei Gestalten hohe Dinge sind enthalten ...", besingen die Knaben auf Lateinisch das Geheimnis der Eucharistie. Ein Sopran mit langen Haaren und Pony hat offenbar seine Noten vergessen. Er beugt sich über die Schulter seines Nachbarn. Dann starren sie wieder gebannt auf den Dirigenten, "in den Zeichen tief verhüllt", so endet der Chorsatz aus der Messe. Ganz leise und mystisch.

Im August startet das Gewandhaus Leipzig seine neue Saison mit Mendelssohn-Festtagen. Mit der Motette in der Thomaskirche, mit Konzerten an verschiedenen Orten der Stadt und Open-Air-Auftritten auf dem Augustusplatz. Schon jetzt dürfte Felix Mendelssohn Bartholdy wieder unbestritten zu den ganz Großen der deutschen Musikgeschichte zählen.

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