Tim Wegner
Tim Wegner
07.10.2010

chrismon: Als Sie klein waren: Wie fanden Sie da Ihre Eltern?

Moritz Netenjakob: Ich hab mich schon als Kind über sie lustig gemacht. Meine Eltern sind typische 68er. Diesen Spruch "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment" haben sie phasenweise gelebt. Zur Silberhochzeit hab ich ihnen eine Karikatur geschenkt: Meine Eltern vor der Zahl 25, um sie herum gruppierten sich noch 20 andere Männer und Frauen. Meinen Eltern hab ich Sprechblasen gemalt: "Natürlich waren wir uns treu! " Mir blieb nicht viel anderes übrig, als aus meiner Kindheit ein Comedy-Programm zu machen.

Maya Onken: Meine Eltern kommen auch aus der 68er-Bewegung. Julia Onken, meine Mutter, ist quasi die SchweizerAlice Schwarzer. Sie steht für Emanzipation, macht das Maul auf, wo es nur geht, ist zu Gast in Talksendungen und schreibt Bücher.

Netenjakob: Und war sie dir als Kind peinlich?

Onken: Nein. Ich vertrete die These: Peinlich werden die Eltern erst den Zweitgeborenen. Meine jüngere Schwester hat sich für alles geschämt! Wir lebten in einem kleinen Dorf, und meine Mutter lief im Glitzerkostüm rum, sehr extravagant. Manche Kinder im Dorf durften nicht mit uns spielen. Ich hab trotzdem nicht geschnallt, dass wir anders waren.

Netenjakob: Als Kind übernimmt man die Einstellungen seiner Eltern. Später hab ich auch mal ernste Sachen auf den Tisch gepackt: Mein Vater hat meine Kindheit immer als idyllisch hingestellt - er hatte den Krieg erlebt, dagegen waren meine Probleme für ihn Pipifax. Als ich ihm das mal vorwarf, verschanzte er sich in seinem Arbeitszimmer. Als er rauskam, rümpfte er die Nase und sagte: "Du hast recht."

Hatten Ihre Eltern Berufswünsche für Sie?

Netenjakob: Früher meinte mein Vater immer, dass ich zu kommerziell arbeite. Am liebsten hätte er es gesehen, ich wäre freischaffender Künstler geworden. Ich dürfte kein Geld verdienen, würde aber irgendwann weltberühmt werden - natürlich erst posthum. Heute sieht er das anders.

Onken: Ich hab mich immer für Literatur interessiert. Für meine Mutter war klar, dass daraus ein Beruf wird. Und dann musste ich aus Trotz Biochemie studieren - für genau drei Wochen. Über eine Freundin kam ich doch zur Germanistik.

Sie haben beide Bücher geschrieben, in denen Sie sich kritisch oder humorvoll mit Ihren Eltern auseinandersetzen. Warum?

Onken: Meine Mutter hat immer argumentiert: "Die Autobahn ist frei, du kannst mit 180 auf der Überholspur rasen, wir haben alles für dich erkämpft - du kannst studieren, was du willst; du kannst den Mann nehmen, den du willst; du kannst Karriere machen." Aber schon als ich während der Schwangerschaft einen Krippenplatz suchte und einen Deal mit der Firma machen wollte, damit ich meinen Managementjob behalten kann, merkte ich: Das geht nicht auf. Mein Mann unterstützt mich, er hat auch Karriereeinbußen hinnehmen müssen. Er ist promovierter Chemiker, aber auf seiner Teilzeitstelle arbeitet er unter seinem Ausbildungsniveau. Trotzdem: Meistens bin ich diejenige, die Schuldgefühle hat. Und meistens bin ich es, die die Kinder bringen und holen muss. Die Krippenfrau ruft nicht meinen Mann, sie ruft mich an, wenn das Kind krank ist. Ich habe unendlich Kraft gebraucht, um den Alltag zu organisieren. Mir wurde klar: Die Strukturen sind nicht so, dass Frauen mit Kind auf der Autobahn unterwegs sind - die müssen allesamt abfahren.

Woran mangelt es in der Schweiz?

Onken: An funktionierenden Ganztagesbetreuungen, an genügend bezahlbaren Krippenplätzen, an interessanten Teilzeitjobs - auch in Führungspositionen.

Und die Männer?

Onken: Nur ein geringer Prozentsatz der Männer denkt gleichberechtigt und lässt sich auf eine faire Aufgabenverteilung ein.

Netenjakob: Ein Freund von mir ist Hausmann, und sie macht dafür Karriere.

Onken: Viele reden davon - nur ganz, ganz wenige machen es. Es gibt ja auch kaum Teilzeitjobs für Männer. Schon gar nicht in Führungspositionen. Es schwirrt diese blöde Idee umher, dass nur 100-Prozent-Menschen wirklich gut arbeiten können.

Aber viele Frauen stehen total auf erfolgreiche Männer!

Onken: Frauen müssen ihr Männerbild revidieren. Sie wollen den neuen Mann, der seine Gefühle zeigt - dann müssen diese Männer auch zu ihnen sagen dürfen: "Ich hab Angst da im Keller! Guckst du mal, was da so einen Krach macht?"

Netenjakob: Das ist das Dilemma. Die netten Männer werden links liegen gelassen. Ich bin in einem extrem feministischen Umfeld aufgewachsen, Alice Schwarzer wohnte nebenan. Mein Freund Norbert hatte ein Poster von Prinzessin Stéphanie von Monaco im feuchten Badeanzug - hätte ich mich nie getraut!

Onken: Kam Alice Schwarzer in dein Zimmer?

Netenjakob: Ja klar, wir waren befreundet. Wenn ich Stéphanie sehen wollte, musste ich zu Norbert gehen. Selbst da stand die imaginäre Alice neben mir und schimpfte. Später traute ich mich nie, Frauen anzuflirten. Ich war der beste Freund, der toll zuhört. Ins Bett sind sie mit den anderen. Aber ehrlich gesagt: Viele Männer fahren auch erst mal auf die Tusse ab, die sie erotisiert.

Onken: Du sagst Tussi. Ich sage es noch brutaler: die geile Sau.

Netenjakob: O Gott! (lacht) Wenn Alice das liest!

Onken: Jetzt kommt das Phänomen: Sobald der Mann mit ihr zusammen ist, darf sie keine geile Sau mehr sein, sonst wäre sie ja noch für andere Männer eine geile Sau. Und wenn sie ein Kind bekommt, muss sie zur Mutter Maria werden, aber manchmal hat der Mann auch wieder Lust auf die geile Sau. Ein Riesendurcheinander, die Frau weiß nicht mehr, wer sie sein soll. Sie ist nur noch Objekt, nie selbstbestimmtes Subjekt. Das muss sich ändern.

Haben Männer Angst vor selbstbewussten Frauen im Bett?

Netenjakob: Auf jeden Fall. Das schüchtert Männer total ein. Mit solchen Frauen trifft man sich zehn Mal zu netten Kinoabenden, und nichts passiert.

Onken: Aber wenn sie dir sagt: "Ich find dich gut, komm mit! "?

Netenjakob: So war's bei uns. Meine türkische Frau Hülya hat gesagt: "Komm, lass uns küssen." Mich hat da ein kulturelles Missverständnis lockerer gemacht. Türken sind ja viel körperlicher als wir, und als Hülya mich zum ersten Mal angefasst hat, dachte ich: Boah, das läuft ja sehr gut! Dann hab ich gesehen: Um Gottes willen, die macht das bei jedem. Als wir zusammen waren, hatte ich damit mal ein Problem, ich wurde eifersüchtig. Aber Eifersucht geht ja auch gar nicht, da sagt meine innere Alice Schwarzer: "Moritz, du schränkst gerade eine Frau in ihrer Freiheit ein." In der türkischen Kultur scheint alles noch klarer zu sein. Meine Schwiegermutter hat mal zu meiner Frau gesagt: "Warum willst du denn arbeiten, er verdient doch Geld! " Bei uns Deutschen sind die Rollen nicht mehr so definiert. Das geht bei der Frage los: Halte ich einer Frau die Tür auf oder nicht? Die einen finden es chauvinistisch, wenn man die Tür aufhält - die anderen finden es unhöflich, wenn man die Tür nicht aufhält.

Onken: Sehe ich auch so, es gibt eine totale Verwirrung.

Netenjakob: Ganz besonders bei den Männern.

Onken: Die kriegen Druck von den Frauen. Deswegen kriegen wir weniger Kinder. Die Frauen sagen sich: "Ich brauche den passenden, emanzipierten Mann dazu." Die Männer sagen sich: "Das ist mir zu kompliziert, dann muss ich täglich alles verhandeln."

"Ich wäre gern ein paar Generationen später geboren, wenn alles klar wäre"

Beneiden Sie die türkischen Männer?

Netenjakob: Nein, abermanchmal spüre ich diese Sehnsucht nach Einfachheit. Dass man sich an Werten festhalten kann, die jetzt wirklich gelten - ich weiß nicht, warum haben wir die noch nicht gefunden? Das braucht vielleicht noch ein paar Generationen. Denn eigentlich sind wir ja die Versuchskaninchen, die erste Generation, die jetzt damit klarkommen muss.

Onken: ...und die dann auch Vorbild für die nächste sein kann. Was viele ja nervt, ist dieses ständige Verhandeln. Viele fallen wieder zurück und sagen: "Ich bleib zu Hause, du gehst arbeiten, und wir wissen wenigstens, woran wir sind." Dann tritt tatsächlich eine Entspannung ein. Nicht für lange Zeit, denn wenn die Frau eine Begabung hat, die sich anstaut, gibt es auch Probleme. Aber ich verstehe: Dieses Verhandeln ist ekelhaft, zermürbend.

Netenjakob: Ja, man muss die Rollen aufteilen. Es muss ja nicht die traditionelle Verteilung von Aufgaben sein. Aber man rutscht da schnell rein. Das Alte hat eine Anziehungskraft, solange man nichts klares Neues dagegensetzen kann.

Onken: Eine Krux ist ja: Egal, welchen Lebensentwurf die Frau wählt - er ist falsch. Kriegt sie keine Kinder, ist sie die Karrieretussi und schuld am Loch in der Rentenkasse. Wird sie Hausfrau, heißt es: "Und was machst du noch so nebenbei?" Wenn sie Job und Familie unter einen Hut bringen will, ist sie die Rabenmutter. Die Frau hat immer das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Netenjakob: Das ist bei meiner Frau auch so. Sie hat ihre Karriere als Unidozentin für Schauspiel in der Türkei aufgegeben, weil sie den Machismo nicht mehr ausgehalten hat und nach Deutschland wollte. Hier hat sie bei null angefangen. Und jetzt wird sie oft gefragt: "Du hast doch keine Kinder, warum bist du nicht schon viel weiter in deiner Karriere? Warum bist du noch kein Star?" Onken: Jeder Entscheid wird angemäkelt. Und in der Zeit, in der Frauen sich am Kindergartentor rechtfertigen müssen, welches Lebensmodell sie gewählt haben, machen Männer Karriere.

Netenjakob: Als Mann reicht es auch nicht mehr, Karriere zu machen. Früher - in der Türkei ist das heute noch so - hast du als Mann deine Schuldigkeit getan, wenn das Geld auf dem Konto war. Heute muss man noch drei Stunden netter Papa sein, nachdem man zehn Stunden gearbeitet hat.

Profitiert man als Comedian von dieser Verwirrung?

Netenjakob: Mario Barth füllt das Olympiastadion, indem er den Leuten sagt, dass Frauen immer noch Frauen sind und Männer immer noch Männer. Frauen können heute zwar auf den Mond fliegen, aber wenigstens immer noch nicht rückwärts einparken. Das beruhigt die Menschen.

Onken: Ich bin die beste Rückwärtseinparkerin von Zürich!

Netenjakob: Das können wir jetzt schlecht überprüfen. Aber die Leute, die zu Mario Barth gehen, wollen nichts Böses, die wollen Spaß haben und die freuen sich, dass vielleicht doch noch alles so ist, wie es immer war. Wie die Volksmusik. Es grünt die Heide so grün - da vergessen wir jetzt gleich mal das Atomkraftwerk.

Herr Netenjakob, bei Ihrem Romanhelden heißt es, er habe das Pech, in den 70er Jahren geboren worden zu sein. Warum?

Netenjakob: Ich wäre gern vorher geboren oder ein paar Generationen später, wenn alles schon geklärt wäre.

Haben Sie in puncto Männlichkeit von den Türken gelernt?

Netenjakob: Dass ich hier so einigermaßen nett angezogen sitze. Das war mir früher total egal. Da bin ich zweimal im Jahr zu C & A und fertig. Als Teenager wollte ich gerne mit einer jungen Frau zusammenkommen, lief aber im Garfield-T-Shirt rum. Das konnte nicht klappen. Da haben mir die Türken echt geholfen.

Frau Onken, wie viel Macho darf es denn sein?

Onken: Klar wollen wir kein Gegenüber, das wie Pudding ist. Wir brauchen kantige, eigenständige Partner, auch wenn das nicht immer angenehm ist. Zum Beispiel bauen wir gerade ein Haus um, und wenn er partout die blauen Badezimmerfliesen will, kann das schon mühsam sein. Unsere Lösung heißt dann: "Du machst das untere Bad, ich das obere." In solchen Grundsatzfragen zwischen Mann und Frau ist der unbeugsame Macho schon mühsam, vor allem, wenn ich mitbestimmen will.

Netenjakob: Komisch, bei uns ging das reibungslos. Wir haben auch gerade ein Haus bezogen und alles bei Ikea eingekauft. Es gab nur einen größeren Krach. Ich vermute, das ist das Türkische bei meiner Frau. Tief drinnen denkt sie: "Komm, lass ihm die Kacheln, dafür such' ich die Möbel aus." Das ist bei Türken so aufgeteilt: Draußen ist er der Macho, damit er sein Gesicht wahrt, drinnen entscheidet sie. Das hat eine gewisse Klarheit.

"Meine Mutter hat Mauern eingerissen, ich muss die Feinarbeit machen"

Also muss Ihre Generation wieder kämpfen. Was ist der Unterschied zu Ihren Eltern?

Onken: Wir sind die Generation ohne Gebrauchsanweisung. Unsere Vorgänger hatten es gut. Meine Mutter sagt: "Wir haben gekämpft, ich hätte das Gotthardmassiv in Joghurtbechern abgetragen- und du redest von Erschöpfung! " Die hatten noch Ziele. ..

Netenjakob: ... Aufbruchstimmung!

Onken: Die haben Mauern eingerissen. Wir dürfen dübeln und die knarrenden Dielen ausbessern. Nur noch Feinarbeit.

Netenjakob: Und dann merken wir erst, was noch alles da ist von dem alten Gerümpel.

Onken: Das ist in unseren Genen, das braucht noch ein paar Generationen, bis sich das auswäscht. Wofür sind Sie Ihren Eltern dankbar?

Netenjakob: Für den Freigeist, den sie mir mitgegeben haben.

Was verbindet Sie heute?

Netenjakob: Ich gehe mit meinem Vater ins Fußballstadion, zum 1. FC Köln. Am Anfang hielt er noch Vorträge über die koloniale Vergangenheit der farbigen Spieler. Jetzt grölt er einfach mit.

Und wofür sind Sie dankbar, Frau Onken?

Onken: Fürs selbstständige Denken. Dass ich selber Zusammenhänge knüpfen kann und die auch anders knüpfen darf als meine Mutter. Und: Egal, welche Phase ich gerade durchgemacht habe - sie hat mir das Grundgefühl gegeben: Du machst es gut!

Was wünschen Sie sich für Ihre eigenen Kinder?

Onken: Ich halt mich da zurück. Ich hoffe, die machen ihren Weg, unabhängig von Normen - seien es meine oder die der Gesellschaft. Am besten mit dem gleichen Selbstbewusstsein wie ich.

Wie soll sich ein Kind gegen so eine nette Mutter abgrenzen?

Onken: Die werden genug Material finden, mich blöd zu finden. Sei es, dass ich nie da war oder über den Büchern gehangen hab. Netenjakob: Aber schwer ist es schon, sich von netten Eltern abzugrenzen. In der Pubertät sagten meine Kumpels: "Du hast ja sooo nette Eltern." Ich hatte gar keinen Impuls zu rebellieren. Das habe ich mit 23 nachgeholt, als ich das erste Mal geheiratet habe: mit einer Hochzeitsreise ins Disneyland Paris. 

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