Ariane Friedrich springt sehr hoch. Der Rekord aber liegt noch ein winziges Stückchen höher.
07.10.2010

Schon wieder gerissen, das dritte Mal. Sie hebt die Hände über den Kopf, sie klatscht und steigt von der Matte. Es war ihr letzter Sprung an diesem Tag. 1,95 Meter hat sie übersprungen - an den zwei Metern ist sie gescheitert.

Ariane Friedrich zieht ihren rechten Schuh und Socken aus. Der große Zeh ist blutverschmiert, der Nagel gerissen. "Warum sagst du mir das nicht?", fragt der Trainer. "Mensch, Günter, ich wusste nicht, dass es so wehtut." Es muss vor ein paar Tagen passiert sein, sie weiß aber nicht wie. Die zwei Aspirin vor dem Wettkampf haben nicht geholfen.

"Man weiß, da geht noch was."

An diesem Tag, bei den Deutschen Hochschulmeisterschaften in Darmstadt, bleibt die Enttäuschung. Obwohl Ariane Friedrich gewonnen hat. Es war ihr erstes Turnier seit ihrer Goldmedaille bei den Halleneuropameisterschaften in Turin, wo sie 2,01 Meter übersprang. Einen Monat zuvor hatte sie in Karlsruhe ihre persönliche Bestleistung aufgestellt: 2,05 Meter in der Halle. Der deutsche Rekord von Heike Henkel 1991 liegt zu dem Zeitpunkt bei 2,05 Meter. Allerdings im Freien. Ein Zentimeter mehr und Ariane Friedrich würde den Rekord brechen. Biomechaniker haben nach ihrem Sprung über 2,05 Meter berechnet, dass bei ihr mehr drin ist. Sie sagt: "Man weiß, da geht noch was." Sie denkt in Zentimeterschritten.

Eine Woche zuvor auf dem Trainingsgelände in Frankfurt-Niederrad. Eine Sportanlage wie so viele, ein paar Rasenplätze, eine Laufbahn, eine Hochsprungmatte. Es ist früher Abend. Ein paar Läufer drehen schweigend ihre Runden. Ariane Friedrich fällt auf. Diese große, magere Frau mit den blondierten Haaren ist die derzeit beste deutsche Hochspringerin. Wenn sie mit ihrem Trainer flachst, dann tut sie es immer eine Spur zu laut.

Als Günter Eisinger sie zum ersten Mal ins Trainingslager des Landeskaders mitnahm, war Ariane Friedrich 16. "Ich wusste gleich: Aus der wird mal was." Nach dem Abi verließ sie ihr nordhessisches Winzdorf Helsa-Sankt Ottilien und zog nach Frankfurt am Main, um bei Eisinger zu trainieren. Aber ihr Leben entsprach so gar nicht dem einer Leistungssportlerin. "Sie war ein Flippi", sagt Eisinger. Es gab Nächte, in denen hat sie nur zwei Stunden geschlafen vorm Training. Einmal bekam Eisinger um zwei Uhr nachts eine SMS, in der sie schrieb, sie hätten gerade einen Bock geschossen. Sie hatte mitten in der Nacht auf einem Hochstand gesessen. Zwei Tage nach den Junioren-Europameisterschaften hat sie sich die Bänder im Fuß gerissen, als sie mit Freunden um die Wette eine Rolltreppe in die verkehrte Richtung hinuntergelaufen war.

Ob es für den Zentimeter mehr reicht?

Irgendwie kann er sie ja auch verstehen, sagt Eisinger, während Friedrich sogenannte U-Läufe macht. Sie läuft an, wird schneller, legt sich in die Kurve, aber statt zu springen, läuft sie an der Matte vorbei. "Du warst zu dicht dran." Sie nickt und verschiebt die Markierung, an der sie losläuft, ein wenig nach hinten. Nicht nur in der Höhe kommt es auf Zentimeter an, sondern auch im Absprung. "Hochsprung", sagt Eisinger, "ist Anlauf. Wenn beim Absprung alles stimmt, kann man kaum noch Fehler machen." Ariane Friedrich hat diesen Bewegungsablauf Tausende Male trainiert und trotzdem weiß sie nie, ob es für den Zentimeter mehr reicht.

Im September 2006 saß Eisinger mit ihr im Zimmer ihres Sportinternats und erklärte ihr: Entweder du stellst dein Leben um oder ich bin nicht mehr dein Trainer. Dreißig Punkte hatte er notiert, die sie ändern müsse. Dazu gehörten: mehr Schlaf, nicht mehr rund um die Uhr telefonieren, eine bessere Ernährung. Nach zweieinhalb Stunden und vielen Tränen habe sie ihm hoch und heilig versprochen, sich zu ändern, sagt er. Jetzt ist das Handy abends irgendwann aus, sie geht um 23 Uhr ins Bett und schläft neun Stunden. Freizeit bedeutet für sie: eine Stunde abends gemeinsam mit ihrem Freund, dem polnischen Schwimmer Lukasz Wóijt. Zehn Trainingseinheiten hat sie in der Woche, und sie studiert an der Polizeihochschule. Im vergangenen Jahr hat Eisinger ihr zum Geburtstag eine Karte geschenkt, die er gefunden hatte, eine blaue Werbekarte, auf der stand: "2008 - Das wird dein Jahr." Er hat sie gerahmt. Es ging um sein Vertrauen in sie. Es wurde ihr Jahr, zum ersten Mal sprang sie über zwei Meter. Innerhalb eines Jahres hat sie sich um neun Zentimeter gesteigert, und natürlich kamen Fragen nach Doping auf.

Eisingers Erklärung: "Der Kopf war nicht da." Und er meint damit nicht nur den Lebenswandel, er meint auch, dass man bereit sein muss für große Höhen. Heute sagt Ariane Friedrich: "Hochsprung ist zu 80 Prozent Kopfsache."

"Hochsprung ist zu 80 Prozent Kopfsache."

Friedrich und Eisinger, sie sind wie Vater und Tochter, Eisinger selbst hat keine Familie, nur zwei Katzen, die er von Ariane bekam. Kurz vor den Europameisterschaften in Turin ist seine Mutter gestorben und er hatte überlegt, ob er es Ariane überhaupt sagen soll, weil er Angst hatte, es könne sie in ihrer Konzentration ablenken. Im Nachhinein ist er froh, dass er es gemacht hat. Sie hat nach ihrem Siegsprung in den Himmel gezeigt und anschließend auf der Pressekonferenz gesagt, den Sprung widme sie der Mutter ihres Trainers. Sie sagt, er sei ihr Trainer, Manager und Ersatzvater. Ihre Eltern halten sich raus aus ihrem Sport.

Nach dem Training in der Kneipe. Ariane Friedrich hat Hunger, auf der Karte stehen Cevapcici und Raznjici, aber sie will einfach ein Putenschnitzel. Vor den Wettkämpfen ist sie auf Diät. Beim Hochsprung gilt: je leichter, desto besser. Jedes Kilo mehr potenziert sich beim Absprung. Ariane Friedrichs Idealgewicht liegt bei etwa 57 Kilo bei einer Körpergröße von 1,79 Meter. "Wir haben die anderen Weltklassespringerinnen analysiert", sagt Eisinger, "im Verhältnis zur Körpergröße haben alle nur ganz wenig Gewicht." Friedrich sagt: "Die Gewichtsreduzierung ist für uns das einzige saubere Mittel." Ihr wurde vorgeworfen, sie sei magersüchtig. Das hat sie hart getroffen.

Wofür tut eine junge Frau das alles, diese tägliche Disziplinierung, beim Sport, beim Essen, im Alltag? "Mein eigener Ehrgeiz. Ich wollte schon immer die Beste sein." Sie wirkt nicht mehr kühl, nur sehr klar und direkt. Einige Tage später wird sie sagen, sie habe sich schon immer danach gesehnt, integriert zu sein. Als Jugendliche sei sie eine Außenseiterin gewesen.

Das Leben für den Sport ist gut - wenn der Erfolg da ist.

Das Leben für den Sport ist gut - wenn der Erfolg da ist. Wer kann schon mit 25 sagen, dass er finanziell unabhängig ist? Wer kann schon sagen, dass er rund um die Welt reist und im teuren Hotel direkt neben dem Eiffelturm gewohnt hat? Und wenn das alles mal nicht mehr da ist? Wenn sie mit der Polizeihochschule fertig ist, wird sie Kommissarin sein. Das war schon immer ihr Traum. "Als Kind stellte ich mir das aufregend vor", sagt sie, "ich kannte das ja nur aus dem Fernsehen. Die Polizisten waren immer die Guten."

AmMorgenderHochschulmeisterschaften ruft sie Eisinger an. Sie war gerade auf der Waage - das Gewicht stimmt. Es gibt ihr Sicherheit, wenn sie weiß, dass sie 57 Kilo wiegt. Weil sie dann weiß, dass sie zu hundert Prozent vorbereitet ist und nicht nur zu 90 Prozent. Gestern hat sie noch mal Krafttraining gemacht, wie immer vor einem Wettkampf, damit der Körper eine Spannung hat. Abends waren Eisinger und sie zusammen Sushi essen. Das sind ihre Rituale. Auf dem Sportplatz hat sie die Kapuze übergezogen, trägt eine Sonnenbrille und große Kopfhörer. Sie schottet sich ab, will mit niemandem reden. Sie schaut sich auch ihre Konkurrentinnen nicht an. "Ich sehe und höre nichts im Wettkampf", sagt sie, "ich brauche eine gewisse Aggressivität für die Sprünge."

Es hat trotzdem nicht geklappt. Eisinger ist nicht unglücklich darüber: "Das Jahr ist noch lang." Und wie recht er damit hat, wird sich schon ein paar Wochen später, am 14. Juni in Berlin, zeigen. Ariane Friedrich stellt den deutschen Rekord ein. 2,06 Meter, und das gleich im ersten Versuch!

"Geh einen Fuß zurück."

Im Auto, als Ariane nicht dabei ist, sagt der Trainer: Wenn sie dieses Niveau bis London, bis zu den Olympischen Spielen, halten könnte, das wäre ein Traum. Und dann muss er an Barcelona 1992 denken, an den vielleicht schönsten Moment seiner Trainerkarriere, als er mit Gerd Osenberg zusammen Heike Henkel betreute. Sie war Fünfte und stand vor ihrem letzten Versuch. Und Osi sagte, ihr Absprung sei zu dicht an der Latte. Und dann rief auch noch der Mann von Heike Henkel an, der auf der Haupttribüne saß. "Ist die nicht zu nah dran?", fragte er. Sollten sie es ihr sagen oder würde sie das nur verunsichern? Als Heike Henkel dann kam, schauten sich beide Trainer an und sagten gleichzeitig: "Geh einen Fuß zurück." Und dann wurde sie Olympiasiegerin.

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