Johnny, bist du wach?
Seit seinem Unfall ist er "schwer hirngeschädigt". Was das für Johannes Hente bedeutet, wissen weder seine Eltern noch die Ärzte. Denn Gefühl lässt sich nicht messen, das Bewusstsein erst recht nicht
Tim Wegner
07.10.2010

Eine stille Wohnstraße am Rand der Kleinstadt. Die Garagenauffahrt hoch, links ums Haus. Da sitzt ein junger Mann im Rollstuhl, von Atemwölkchen umweht. Der Mund steht offen. Hallo Johannes! Keine Reaktion. Rechts ist sein Schädel etwas eingedrückt. Die blauen Augen wandern ziellos. Ein feines Schlürfen ist zu hören: Aus der Pumpflasche an der Rückseite des Rollstuhls fließt hellbrauner Nährbrei durch einen Schlauch direkt in Johannes' Magen. Johannes, Besuch! Die verkrampften Finger reagieren nicht auf den Händedruck.

Die Tür zum Wintergarten ist offen. Eine therapeutische Liege, ein Esstisch und ein Stehtrainer. Im Regal ein ziegelsteingroßes Polizeiauto, ein Ball mit lachendem Marienkäfer darauf. Im Wohnzimmer dahinter ein Schrank mit Bachs Gesamtwerk und der CD der "Dixie Ramblers", Johannes' Band. Er war leidenschaftlicher Trompeter, Jazz, auch Kirchenmusik.

Die Eltern schmiedeten bereits Pläne für den Ruhestand, da bekamen sie ihren Jüngsten wieder

Johannes war schon ausgezogen, als letztes von vier Kindern, lernte Krankenpfleger, wollte danach Musiktherapie draufsatteln. Die Eltern schmiedeten bereits Pläne für den Ruhestand, da bekamen sie ihren Jüngsten wieder, zerschmettert.

"20-jähriger Fahrer gestern auf der B 20 schwer verunglückt", schrieb die Zeitung. Johannes war auf einer abschüssigen Straße auf einen entgegenkommenden Bus geprallt. Sein eigener Fahrfehler. Er flog mit dem Kopf gegen Windschutzscheibe und Holm, erlitt zahlreiche Brüche am Schädel und im Gesicht. Sein Herz hörte auf zu schlagen. Der herbeigerufene Notarzt reanimierte ihn. Johannes kam auf die Intensivstation, lag im Koma, schlug endlich die Augen auf, atmete bald wieder selbständig, schien aber nicht zu reagieren. Wachkoma nennt man diesen Zustand landläufig. Das war vor neun Jahren.

"Für Ihren Sohn wäre es besser, er ginge"

Das Hirn wurde schwerst geschädigt ­ durch die Schädelverletzungen und zusätzlich durch den Sauerstoffmangel während des Herzstillstands. Die Neurologen sehen ein geschrumpftes Großhirn; in den Hohlraum hinein haben sich die Wasserkammern erweitert. "Für Ihren Sohn wäre es besser, er ginge", hatte ein Arzt auf der Intensivstation zu den Eltern gesagt.

In der Küche sitzen die Eltern beim Mittagessen. Gerhard Hente, 69, hat gekocht: Butternuss-Kürbis, mit Käse überbacken. Zwei Jahre lang hatten sie gehofft, dass ihr Sohn wieder wird. Was hatten sie für Fälle in der Reha-Klinik gesehen! Einem war ein Baum auf den Kopf gefallen, der hatte einen völlig verformten Schädel und konnte trotzdem wieder sprechen und laufen. Ihr Sohn nicht. "Jetzt sitzt er in dieser Falle fest", sagt Inge Hente, 69, "es ist so ein bitteres Los für ihn. Was können wir ihm schon bieten? Eine Pseudowelt."

Pflegekräfte und Therapeutinnen gehen ein und aus. Viele Menschen fassen den 29-Jährigen an. Und er erschreckt sich so leicht, verkrampft dann den ganzen Körper zu einem Brett. Die Eltern versuchen, seine Würde zu wahren. Intimpflege machen nur sie, nicht die Pflegekräfte. "Johannes, meine Hände sind deine Hände", sagt der Vater, wenn er ihn wäscht. Auch das tägliche Abführen machen nur die Eltern. Mit einem speziellen Griff tragen sie den 78-Kilo-Mann auf den Toilettenstuhl. Neulich fiel ihnen auf, dass die CD mit einer Bach-Kantate weiterlief, "da lachten wir uns schief ­ so ein todernstes Stück, und wir führen dazu ab."

Er scheint manchmal zu schmunzeln. Scheint. Manchmal.

Was bekommt Johannes davon mit? Die Eltern sind vorsichtig geworden. Auf Trompetenmusik, wie sie ihm die Mutter anfangs oft vorgespielt hat, gab es keine eindeutigen Reaktionen. Wenn hingegen die älteren Geschwister mit ihren Familien zu Besuch sind, scheint er zu lauschen. Und wenn Inge Hente nach einer Kabbelei mit ihrem Mann flapsige Sachen sagt wie: "Johannes, dein Vater ist immer noch der Alte", dann scheint er manchmal zu schmunzeln. Scheint. Manchmal.

Was er wirklich mag, das wissen sie letztlich nicht. "Jeder liest was anderes aus diesem Gesicht." Leidet er? Wenn er erkältet ist oder ihm seine kleinen Nierensteine zu schaffen machen, "dann beschwert er sich mit einem monotonen Stöhnen". Und wenn die Mutter seine Fingerkuppen drückt, um die Durchblutung zu testen, zieht er die Hand zurück.

Aber ist dies Zurückzucken nicht nur ein Reflex, also bloß vom Stammhirn erzeugt? Der evolutionsgeschichtlich älteste Hirnteil ist mit so genannten primitiven Funktionen beschäftigt wie der Regulation der Atmung und der Temperatur. Ein Zucken ist vielleicht so wenig willentlich und damit so wenig bewusst wie all die anderen Phänomene, die an vielen Schwerst-Hirngeschädigten zu beobachten sind: Grunzen oder Mundöffnen bei Berührung der Lippen. Neurologen sprechen von Schablonen und Automatismen. Inge Hente ist immer noch erbittert über den Arzt, der ein Lächeln von Johannes als "Grimassieren" bezeichnete. Woher will der wissen, dass Johannes nicht aus einem Gefühl heraus gelächelt hat?

Durch die Wintergartentür kommt die Musiktherapeutin Birgit Sumpf, privat bezahlt von den Eltern. Eine sanfte Frau. Sie setzt sich neben Johannes, dessen Kopf kraftlos auf die Brust hängt. Sie zupft ein Saiteninstrument, einen Psalter, ruft ihn dann leise singend an: "Johannes!" Und plötzlich fährt er mit einem Ruck den Oberkörper herum, reckt ihr das Gesicht entgegen mit den blicklosen Augen. Die Therapeutin singt "Hallo!", die Melodie wird schneller, hüpfend, hopplahopp geht das dahin. Johannes dreht langsam sein Gesicht weg, die Lippen mümmeln. Es ist, wie wenn er sagen würde: "Oh, oh, wie ist mir..." Er rülpst.

Die Mutter drückt Johannes einen Schlegel in die verkrampfte Hand, führt die Hand und schlägt an eine Zimbel. Birgit Sumpf sitzt am Klavier, beobachtet, ob sich Johannes' Haut rosig färbt, ahnt, greift auf, flicht Mozart ein ­ nein, der ist heute nicht passend, heute ist Weite angesagt, ein paar Kirchenliedmotive. Bei einer verzögert abfallenden Melodie schnauft Johannes schwer, mit dem Schlussakord senkt er den Kopf. "Der Arm war sehr locker", sagt die Mutter glücklich, "sein Körper weiß ja sonst gar nicht, wie das geht: entspannen."

Hat er die Musik genossen? Gar auf sie reagiert?

Hat er die Musik genossen? Gar auf sie reagiert? Das Herumwerfen des Oberkörpers könnte auch eine "ungerichtete Massenbewegung" sein. Vom vegetativen Nervensystem erzeugt, also dem Willen nicht unterworfen.

Kann man das denn nicht messen? Nein, sagen Neurologen: Man kann Wahrnehmungsfähigkeit nicht messen, schon gar nicht Emotionen, gar den Grad der Bewusstheit. Natürlich kann man Schäden sehen, eine Minderdurchblutung bestimmter Regionen, die auf reduzierte Fähigkeiten des Gehirns schließen lassen. Aber oft übernehmen unbeschädigte Regionen Funktionen der zerstörten.

"Masse ist eben nicht gleich Klasse", sagt Professor Paul Walter Schönle, Leiter des Neurologischen Rehabilitationszentrums Magdeburg. Schönle erzählt von einem Professor, der, wie sich bei einer Untersuchung herausstellte, riesige Wasseransammlungen im Kopf hatte und nur noch ganz wenig Großhirn ­ aber tags zuvor hatte er noch einen Vortrag gehalten.

Selbst ein Patient, der augenscheinlich auf nichts reagiert, muss deshalb nicht völlig erloschen sein. Vielleicht kann er seine Fähigkeiten nur nicht zeigen. Liest man einem Gesunden Sätze vor wie "Der Kaffee ist zu heiß zum Trinken" und "Der Kaffee ist zu heiß zum Fliegen", dann fällt beim Hören des unsinnigen Satzes eine hirnelektrische Kurve nach unten, die N400-Welle. Schönle las Wachkoma-Patienten diese Sätze vor ­ und fast 40 Prozent zeigten N400-Wellen, sie hatten also sprachliche Fähigkeiten.

Dem Neurologen Schönle haben jetzt auch die Eltern Hente ihren Sohn vorgestellt. Johannes ist nicht mehr im Wachkoma, sagt der Professor. Er hat verheerende Hirnschäden, aber er ist weit gekommen; es schlummert vieles in ihm, was erweckbar ist ­ allerdings ist Johannes immer nur kurz da, er versinkt schnell wieder. Wenn der innere Antrieb zu gering ist, müsse man von außen aktivieren, sagt der Professor, da dürfe man nicht zu zimperlich sein. "Ich hab den Johannes gerüttelt und fast angebrüllt: Jetzt mach endlich, los! Dreh den Kopf! Dann kommt er." Natürlich habe er Johannes vorbereitet: Ich brülle dich jetzt an, damit du mir was zeigst.

"Da braucht man Hokuspokus außen rum."

Unbedingt weiter fördern, gab Schönle den Eltern mit. Und das normale Leben mit Fernsehen, Ausgehen, damit das Präsenzfenster länger offen bleibt. "Da braucht man Hokuspokus außen rum. Er muss zum Beispiel frieren, wenn es ins Auto geht."

Aber wo ist Johannes, wenn er nicht "präsent" ist ­ ist er in einem wachkomatösen Zustand? Solche Schubladen ärgern den Professor: "Wir sind nie in nur einem Zustand, eingeschaltet oder abgeschaltet! Im Schlaf sind wir auch nur potentiell da." Einer seiner Patienten, ein Hobby-Vogelkundler, kann von seiner Frau manchmal "hochgeholt" werden, dann antwortet er präzise auf Fragen zu Vögeln, versinkt anschließend aber wieder für Tage. "Mir ist klar geworden, wie rudimentär unser Wissen über das Bewusstsein ist", sagt der Neurologe. "Zumal es alle Übergangsformen gibt, die man sich nur denken kann."

Das Bewusstsein ist offenbar nicht etwas, was entweder ganz abwesend oder anwesend ist. Schönle vergleicht es mit den russischen Matrioschka-Puppen: Auch die kleinste Puppe trägt schon ein Kopftuch und ein Kleid. Das Bewusstsein, die Persönlichkeit, ist nicht etwas, was am Ende hinzukommt; es scheint vielmehr durch alle Formen hindurch.

Johannes hat Mittagsschlaf gehalten. "Johnny, hast du schön geschlafen?" Vorsichtig schiebt Gerhard Hente seine Hand unter Nacken und Schulter des Sohnes, drückt seine Wange an die von Johannes. "Johnny, gleich kommt Astrid. Du weißt ja, was das bedeutet..." Der Vater grinst, ein Scherz, denn Astrid ist die Krankengymnastin, die er manchmal etwas zu streng findet. Johannes reagiert nicht. Kann er überhaupt irgendetwas willentlich tun?

"Na klar, Johannes kann was zeigen!" Mit einem Schwall frischer Luft ist Astrid Sauerbrey durch die Terrassentür gekommen. Eine zupackende Frau. Sie setzt Johannes auf die Kante der Liege, sich selbst ihm gegenüber, Knie an Knie, ihre Hände auf seinen Schultern. "Johannes, erst mal sagst du mir bitte hallo!" Johannes hat den Kopf abgewandt, schaut nach nirgendwo. "Johannes, dreh bitte den Kopf in die Mitte, zu mir!" Er mümmelt. "Dreh den Kopf!" Seine Augen flackern, dann wandern sie zur Mitte hin, dahin, wo Astrid sitzt. "Nicht nur die Augen", sagt die, "dreh den Kopf ­ hierher!" Und millimeterweise dreht er den Kopf. Wie wenn er sich aus einem Sumpf herausarbeiten würde.

"Hey, danke schön! Super! Klasse gemacht."

Doch dann rutschen ihm die Augen nach oben weg, er sackt zusammen. "Nein, ich will das nicht! Nimm die Augen wieder runter!" Astrid haut ihm mit der flachen Hand auf den Rücken. Und Johannes richtet sich auf, fängt seine Augen wieder ein. "Schau mir in die Augen!" Astrid lässt nicht locker. Und endlich, als die irrenden Pupillen sie für den Bruchteil einer Sekunde treffen, sagt sie mit weicher Stimme: "Hey, danke schön! Super! Klasse gemacht."

Es ist ein langer Weg, den Johannes zurückgelegt hat, aus dem Wachkoma, als er durch nichts erreichbar schien. Möglich wohl nur, weil andere sehr genau hingeguckt haben. Hingefühlt. "Irgendein Lämpchen flackert immer im Hirn", sagt der Neurologe Schönle. Manche Menschen mit Hirnschädigungen reagieren auf ihre Liebs-ten mit einer veränderten Muskelspannung, andere atmen ruhiger oder schneller.

Vielleicht ist Bewusstsein etwas Relatives? Vielleicht ist es nur da, wenn es uns gelingt, eine Beziehung zu ihm herzustellen. Ein Angehöriger wird es eher bemerken als ein gehetzter Arzt bei der Kurzvisite. Mag sein, dass manche Angehörige einer Verblendung unterliegen, wenn sie jede Äußerung als Kommunikation interpretieren. Aber das ist eine ehrwürdige Verblendung. Es ist wie der Vorschuss, den man einem Säugling gibt: Er verzieht sein Mäulchen auf angeborene Weise, die Eltern fühlen sich angelächelt und lächeln zurück. Nur so entwickelt sich sein Gehirn. "Das Gehirn ist etwas Soziales, es lechzt nach Begegnungen", sagt Schönle.

Und was hat Johannes nicht alles gelernt in den Begegnungen mit Eltern, Ärzten, Therapeuten. Er krampft nicht mehr gleich, wenn man ihn berührt. Die Logopädin, die mit ihm Schlucken und Kauen übt, darf sogar rechts und links des Kehlkopfs drücken, um den Schluckreflex auszulösen ­ bis er beim vierten Löffel von alleine schluckt. Mit Astrid hat er Stabilität gelernt, sinkt im Sitzen nicht schlaff in sich zusammen, lässt sich von ihr sogar nach hinten drehen in die Ungewissheit. "Johannes ist ein Stück in seinen Körper zurückgekehrt", sagt die Mutter.

Ist das beachtlich viel oder jämmerlich wenig? Es ist, wie wenn man von zwei Seiten durch ein Fernrohr schaute. Johannes hat jetzt erstmals eine Banane und eine Avocado gegessen, so dass man täglich eine ganze Mahlzeit füttern und dafür die Nahrungssonde ausstellen könnte. Das hört sich für Außenstehende nach nichts an. Für Eltern von Schwerst-Hirngeschädigten ist es eine Sternstunde.

"Aber wie soll man das auf dem Grillfest des Rudervereins erzählen? Oder auf der Straße, wenn man gefragt wird, wann Johannes wieder sprechen kann?" Vater Hente hat es satt, immer wieder das besondere Entwicklungstempo bei einem Hirnverletzten erklären zu müssen. Er meidet solche Begegnungen. Seinen Stolz, dass Johannes in all den Jahren keine einzige Lungenentzündung hatte, den kann er auch nicht anbringen.

Dann noch die Debatten über Sterbehilfe. Johannes hatte sich nie dazu geäußert ­ anders als die Amerikanerin Terri Schiavo. "Wir können und wollen nicht entscheiden, was Johannes in seinem Leben Freude macht oder was er unerträglich findet."

"Statt uns zu fragen, wie es Johannes geht, sollen die Leute Johannes selbst besuchen",

Ach, die anderen! "Statt uns zu fragen, wie es Johannes geht, sollen die Leute Johannes selbst besuchen", wünschen sich die Eltern. Sich einfach dazusetzen, was von sich erzählen, vorlesen. So wie neulich der alte Freund, der Gitarre spielte. Da habe sich Johannes gereckt und geräkelt im Rollstuhl wie ein Schlangenmensch.

Manchmal vergessen die Eltern, welchen Schreck es bedeutet, Johannes zu sehen, diese Unnahbarkeit auszuhalten. Hilflos fühlen sich Außenstehende dann. Dabei hilft schon der Rat, solche Patienten nicht einfach nur an der Hand zu berühren ­ das spüren sie nicht. Sondern ihnen die Hand auf die Schulter zu legen, schwer und lang, damit sie die Chance haben, überhaupt etwas wahrzunehmen.

Johannes' besondere Lebensform macht Angst. Inge Hente bekommt manchmal zu hören: "Wie ihr das schafft, das könnte ich nicht." Sie empfindet das nicht als Anteilnahme, sondern als Distanzierung und denkt im Stillen: Wenn dir das passieren würde, dann würdest du dich wundern, was du alles tust und schaffst.

Der Neurologe Schönle hat den Eltern gedankt für ihre enorme Leistung, kein Heim könne so was bieten. "Ich danke den Angehörigen im Namen der Patienten, da die sich nicht selbst bedanken können und es sonst niemand tut." Johannes' Eltern brachen in Tränen aus, wie alle Angehörigen.

Sie hatten sich ihr Alter anders vorgestellt. Gerhard Hente freute sich nach seiner Arbeit als stellvertretender Leiter einer Berufsschule auf mehr Freizeit, wollte große Bootswanderungen machen, in Masuren, Frankreich, vielleicht noch Volkswirtschaft studieren. Stattdessen haben sie ihr Theaterabo gekündigt. Einmal wöchentlich trifft sich ein Flötenkreis zur Hausmusik im Wintergarten ­ danach schläft Johannes besonders gut.

"Meine Frau wirft mir manchmal vor, dass ich diesen Träumen immer noch nachhänge", sagt Gerhard Hente. "Aber ich laufe nicht gegen die Wand. Ich übernehme die Aufgabe meinem Sohn gegenüber, das ist eine Selbstverständlichkeit." Nach dem Unfall wurde er wochenlang von Weinkrämpfen geschüttelt. Er ging in jede Kirche, um für Johannes zu beten und seinen Kummer abzuladen. "Warum gerade wir?"

Hadert er? "Nein. Wenn ich mein Kind im Stich lassen würde ­ ich würde die Selbstachtung verlieren. Daraus ergibt sich dann auch ein bewusster Verzicht. Ohne dass man allzu traurig ist."

Sehr berührt hat Gerhard Hente das Gedicht, das seine Frau vier Wochen nach dem Unfall in ihr Tagebuch schrieb: "Auf den Spuren meines Kindes find ich neue Spur. Auf den Wegen meines Kindes find ich meinen Weg." Ja, sagt Inge Hente, "ich habe noch nie so zufrieden, so klar gelebt in meinem Leben. So klar, was meine Aufgabe ist. Wenn ich es nur abkoppeln könnte von Johannes' Schicksal."

Sie ist diejenige, die in jeder Therapiestunde dabei ist und assistiert; sie übt bis spätabends weiter mit Johannes. "Mein Mann hält das nicht aus, zwei Stunden neben Johannes zu sitzen und zu gucken, was kann ich jetzt noch mit ihm machen." Aber wenn sie mit Freundinnen die jährliche Radtour macht, ist er auch mal vier Tage ganz allein für Johannes zuständig ­ "und da sagst du hinterher immer, dass Johannes so schön entspannt ist!"

Ja aber, wendet seine Frau ein, "wenn ich da bin, musst du eine Gartenmauer streichen oder du fährst in die Stadt." Stimmt, sagt Gerhard Hente, manchmal muss er von dieser Insel hüpfen "aber dadurch tue ich doch auch was für unsere Gruppe! Ich halte dir den Rücken frei, kaufe ein, koche, regle die finanziellen Dinge. Das würdigst du gar nicht. Meine Kraft ist auch begrenzt." Ein kurzes Schweigen kehrt ein.

"Früher hat es mehr gerumpelt", sagen die Eheleute. Seit dem Unfall sind sie enger zusammengerückt. Aber in der Nähe werden auch kleine Unterschiede deutlich. "Wenn mein Mann Johannes im Stehtrainer stützt, dann redet er nicht mit ihm, sondern stellt sich vor, wie er seinen Acker bewirtschaftet, oder er denkt über einen Artikel aus der 'Zeit' nach."

Die Mutter fordert, der Vater beschützt. Er kann es nicht sehen, wenn die Krankengymnastin Astrid dem Sohn auf den Rücken schlägt. "Johannes muss aus seinem Mustopf kommen", sagt die Mutter: "Wenn alle nur Verrichtungen an ihm machen -­ waschen, anziehen, aufrichten ­- gibt es keine Entwicklung."

"Meistens geben die Patienten dann bald auf"

Die Eltern werden dieses Jahr 70. Ihnen ist klar: Auch wenn es Hilfsmittel gibt wie das Rutschbrett, über das man Johannes vom Rollstuhl ins Bett schieben kann ­ ein Einziger kann die ganze Arbeit nicht leisten. Allein schon das dreimalige Aufstehen in der Nacht, um den Sohn umzubetten. Der Überlebende müsste Johannes in ein Heim bringen. "Meistens geben die Patienten dann bald auf", sagt die Mutter.

"Aber wir haben eine Aufgabe, das hält uns gesund", sagen die Eltern. Und sie haben noch große Ziele mit Johannes. Nein, nicht dass er wieder laufen lernt oder seine Mutter morgens fröhlich winkend mit "Hallo" begrüßt. Ihr Traum ist es, einen Ja/Nein-Code mit Johannes zu vereinbaren. Indem er blinzelt oder für Ja die Zunge nach rechts, für Nein nach links bewegt. "Dann hätte er seinen Willen wieder!" Bei einem jungen Mann aus der Selbsthilfegruppe ist es gelungen ­ der will jetzt täglich geduscht werden, was seine Mutter jedes Mal über eine Stunde kostet. "Johannes macht es uns ja leicht: Wir können alles mit ihm machen, wir können uns vorlügen, dass es ihm gut tut."

"Wir würden aber auch akzeptieren, wenn alles unverändert bliebe", sagt der Vater. "Mit kleinen Veränderungen", sagt die Mutter. "Auch wenn es unverändert bliebe", sagt der Vater. "Es ist ein Kind, es ist das Lebewesen, das einem anvertraut wurde. Auch so, wie das Leben jetzt ist, unseres wie auch Johannes', ist es lebenswert."

Auf Johannes hat schon eine Weile niemand geachtet. Der macht im Stehtrainer vor dem Panoramafenster gerade eine Pause. Er ist über dem Hüftgurt zusammengesunken, liegt mit dem Kopf fast auf der Tischplatte. Da richtet er sich auf, ganz langsam, von alleine. Bis er wieder aufrecht steht, vor sich den Garten in der Dämmerung.

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