Französisches Flair, weltumspannender Geist. Abgeschieden ist dieser Teil der Schweiz. Und weltoffen. Früher kamen Glaubensflüchtlinge über Alpen, Jura und Genfer See. Heute residieren hier internationale Organisationen. Im Sommer 2008 bereitet Genf sein Reformationsjubiläum vor: 500 Jahre Johannes Calvin, Weltbürger und Wegbereiter der Moderne
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Mit einem Fahrstuhl geht es hinab ins 16. Jahrhundert. Die gläserne Tür öffnet sich summend. Kaufhausmusik dudelt, eine Autotür schlägt zu, ein Motor heult auf. Parking St. Antoine heißt die Tiefgarage im Zentrum von Genf. Ihren Namen hat sie von der Bastion, deren Mauern man auf der Rückseite des Parkhauses ertasten kann. Große, unbehauene Steine, die bis an die Betondecke reichen. "Bastion St. Antoine", steht auf einem Hinweisschild: "militärischer Befestigungswall, erbaut um 1560". Ein Reinigungsmann in gelber Leuchtweste streift mit seinem Fingerhandschuh über die Schautafel, als wolle er die Staubhöhe inspizieren.

Scheinbar achtlos leben die Genfer mit den Zeugen ihrer Vergangenheit. Doch nun bereiten sich die Stadt Genf und die protestantische Kirche des Kantons auf ein Jubiläum vor. Am 10. Juli 2009 ist 500. Geburtstag von Johannes Calvin. 25 seiner knapp 55 Lebensjahre verbrachte der Reformator in Genf, seine Unterweisung in der christlichen Glaubenslehre strahlte über Genf hinaus. Sie veränderte Europa und die halbe Welt. Calvin inspirierte französische Hugenotten, Kirchenreformer in Schottland und Ungarn, Freiheitskämpfer in den Niederlanden. Die Puritaner nahmen seine Lehren mit nach Amerika.

Calvin hat mit seinen Lehren die Moderne vorbereitet. Neben dem deutschen Reformator Martin Luther war der Franzose der einzige Autor im 16. Jahrhundert, dessen Bücher auch nach seinem Tod in hohen Auflagen gedruckt wurden. Er gab wichtige Impulse für das neuzeitliche Universitätswesen, für die Herausbildung des Kapitalismus und für die Ausgestaltung der Demokratie. Dabei ist seine Biografie denkbar unspektakulär. Der Reformator reiste wenig, kämpfte nie, das meiste lief bei ihm im Kopf ab. Kaum zu glauben, mit was für geringen Mitteln dieser Mann Generationen beeinflusst hat.

Ein Leben zwischen Schreibtisch, Kanzel und Katheder

Vom Jachthafen am Südwestende des Genfer Sees sieht man, wie zwei Gebirgszüge die Stadt abriegeln. Nach Süden die Alpen, im Norden der Jura. Nach Westen fließt die Rhône durch einen Pass ab. Auf dem Hügel mit der Altstadt thront der Turm der Kathedrale. Rechts und links davon die Uferpromenaden mit prächtigen Gründerzeitpalästen, Niederlassungen von Banken, Uhrenherstellern und Hotels. Vieles ist unversehrte Vorkriegsarchitektur. Bis ins frühe 19. Jahrhundert hat die günstige natürliche Lage Genf vor kriegerischen Zerstörungen bewahrt, seither die außenpolitische Neutralität der Schweiz.

Gebäude aus Calvins Zeit sind kaum noch erhalten: vier Kirchen im Zentrum, ein mittelalterliches Haus, die "Maison Tavel", und ein paar Abschnitte der alten Festungsmauer. Die meisten Häuser wurden im Laufe der Zeit wegen Baufälligkeit abgerissen. Man kann auf Calvins Spuren durch die Stadt wandeln. Von dem Ort, wo sein Wohnhaus stand, zur Kathedrale, wo er Gottesdienste abhielt. Von dort ins benachbarte Auditorium, wo Theologen aus allen Teilen Europas den intellektuell brillanten und rhetorisch geschliffenen Reden des Reformators lauschten. Dann zum "Collège Calvin", das der Reformator gegründet hatte. Der Renaissancebau birgt heute ein Gymnasium.

Ein Leben zwischen Schreibtisch, Kanzel und Katheder. Calvins Grab südlich vom Zentrum ist sehr bescheiden: ein knöchelhoher Eisenzaun rundherum, Bodendecker, ein faustgroßer Steinquader mit den Initialien JC. Das war's.

Wie macht man jemanden sichtbar, der um seine Person kein Aufhebens machte? Mit Straßenfesten in der Altstadt will die reformierte Kirche im kommenden Jahr an ihren Ahnherrn erinnern, mit einer Fete unter freiem Himmel rund um Calvins Kathedrale St. Pierre. Ein wissenschaftlicher Kongress widmet sich seiner geschichtlichen Wirkung. Theologische Fakultäten aus Südwesteuropa tauschen sich über den großen Reformator aus.

"Jean Vachat soll sich nach dem Suizidversuch vom Barbier helfen lassen"

Der breiten Öffentlichkeit wird sich das Reformationsmuseum mit einer Sonderausstellung präsentieren: "Ein Tag im Leben Calvins": Kurzfilme und Hörspiele sollen zeigen, wie Calvin um 4 Uhr aufsteht, einen Gottesdienst in St. Pierre hält, an einer stürmischen Sitzung im Konsistorium teilnimmt, mit dem Abweichler Servet spricht (den der Rat der Stadt später verbrennen lässt), und wie er schließlich gegen 21 Uhr schlafen geht.

In einem der Ausstellungsräume schiebt Museumsdirektorin Isabelle Graesslé ein Holzbrett zur Seite, darunter kommt ein Zettel zum Vorschein. Datum: 23. Januar 1545. In säuberlicher Handschrift schildert Calvin, wie er einen gewissen Jean Vachat ermahnt: Nach seinem Suizidversuch solle er sich vom Barbier (damals der Arzt) helfen lassen. Das Museum hat die Rarität im vergangenen Jahr erworben.

Calvins Stuhl steht in der Kathedrale, ein ungepolsterter, schmuckloser, enger Lehnstuhl. "Sonst haben wir hier keine historischen Gegenstände von ihm", sagt Graesslé.

In einem weiteren Museumsraum steht ein Kasten mit den Konterfeis Calvins und anderer Reformatoren. Per Knopfdruck bringt man die Pappköpfe zum Wackeln. Andere Räume sind im Stil des 16. Jahrhunderts eingerichtet. Über Lautsprecher eingespielte Hörspiele stellen Debatten zwischen Calvin und anderen Reformatoren nach. Zeitgenössische Porträts der Sprechenden werden auf Bildschirmen eingeblendet, ihre Lippen bewegen sich auf und ab. Für seine unkonventionelle, auf die Sache konzentrierte Darstellungsform hat der Europarat das Genfer Reformationsmuseum 2007 ausgezeichnet.

Calvin hatte einen weltumspannenden Geist. Zu seinen Lebzeiten trafen sich Schotten, Franzosen, Niederländer, Ungarn und Deutsche jeden Morgen um sieben Uhr im Auditorium, einer schlichten gotischen Kapelle mit Kreuzrippengewölbe neben der Kathedrale. Sie diskutierten vor Beginn der Arbeit öffentlich und frei über die Bibel und ihre Lehren, oft in Anwesenheit des Genfer Reformators.

Wahlwerbung auf den Straßen gegen Ausländer

"In diesen Versammlungen bildete sich die moralische Stärke, die Genf im 16. Jahrhundert ihre Ausstrahlungskraft gab", verkündet eine Schautafel im hinteren Bereich der Kapelle: "Somit kann man dieses Gebäude als erstes internationales in Genf bezeichnen." Die schottische Kirche, die heute noch hier ihre Gottesdienste feiert, hat eine Erinnerungstafel an ihren Reformator John Knox aufgestellt. Der tankte hier den Reformationsgeist, aus dem er später die Presbyterianische Kirche in Schottland schuf.

Unterhalb der Kathedrale, auf der Place du Bourg-de-Four, stammen einige Häuser aus dem 16. Jahrhundert. Als Tausende von Protestanten aus ganz Europa in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in der 12 000-Einwohner-Stadt Zuflucht suchten, stockte man die niedrigen Häuschen zu vierstöckigen Wohnblocks auf.

Heute sind auf dem Platz Sonnenschirme aufgespannt. An den Cafétischen hört man Menschen englisch, französisch, arabisch und niederländisch sprechen. Im Brunnen plätschert das Wasser, eine indische Jugendgruppe umlagert ihn. Weiter hinten bewundert ein Afrikaner im dezenten Nadelstreifenanzug die Auslage eines Designerladens, vielleicht arbeitet er für eine internationale Institution.

Ein calvinistischer Jurist, Hugo Grotius (1583-1645), hatte erstmals die Umrisse eines Völkerrechts beschrieben. US-Präsident Thomas Woodrow Wilson (1856-1924), calvinistisches Pfarrerskind, regte nach dem Ersten Weltkrieg die Gründung des Völkerbundes an, der dann in Genf tagte. Heute haben die Vereinten Nationen ihren Zweitsitz hier - mit Menschenrechtsrat, Weltgesundheitsorganisation und Flüchtlingskommissariat. Das Internationale Rote Kreuz führt seine Geschäfte von der Heimatstadt seines calvinistischen Gründers Henry Dunant (1828-1910) aus. Unpassend wirkt das Plakat in der Mitte des Platzes: "Stop". Gelbe, braune und schwarze Hände greifen nach einem Schweizer Pass. Wahlwerbung gegen die Einbürgerung von Ausländern.

"Die Immigrantengemeinden haben ihre eigenen Kirchen", sagt Hartmut Lucke, ein pensionierter Pfarrer, der in Genf die Außenbeziehungen der Schweizer Evangelischen Konferenz organisiert hat. Manche sind wohlhabend, in anderen Gemeinden trifft sich das Hilfspersonal der Reichen. "Die Polizei lässt auch die Illegalen unbehelligt zu den Gottesdiensten gehen", sagt Lucke. "Sie weiß: Die sind assimiliert."

Gleich mehrere Stockwerke hoch hatten die Bauarbeiter vor 450 Jahren die Felssteine der östlichen Bastion St. Antoine übereinandergewuchtet - da, wo heute das Parkhaus steht. Eine Trutzburg gegen die Begehrlichkeiten des Herzogs von Savoyen, der die reiche Stadt Genf am liebsten in seinen Herrschaftsbereich eingegliedert hätte. Den Baulärm werden damals die Schüler im angrenzenden Kolleg gehört haben, das kurz zuvor entstanden war. Schon im Jahr seiner Gründung, 1559, sollen 700 bis 800 Schüler aus aller Welt sich hier eingeschrieben haben. Es gab keine Fenster, der eisige Nordwind zog durch die Räume. Die Leute blieben trotzdem. Sie wollten Calvin hören. Im Winter studierten sie dort bei Kerzenlicht bis in die Abendstunden.

Heute beherbergt der alte Renaissancebau mit Schindeldach ein Gymnasium. Er ist vollständig eingerüstet. Bis zu seiner 450-Jahrfeier am 29. Mai 2009, ebenfalls im Calvinjahr, sollen die Graffiti von den Wänden beseitigt, der holperige Hof neu gepflastert und die fehlenden Dachfenster ersetzt sein. So lange müssen die Schüler den Lärm der Baumaschinen ertragen. Es ist Sonntag, Tag des Herrn. Der Baukran steht still. Nur die Folien vor den leeren Fensterrahmen knattern im Wind.

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