Manche Volkslieder verschwinden, die anderen aber gehen alle ins Herz.
Lena Uphoff
07.10.2010

Wir können ja jetzt nicht miteinander singen, Sie und ich. Ich weiß nicht, wo Sie sich gerade aufhalten, wenn Sie diesen Text lesen. Sind Sie allein? Sitzen Sie in der Bahn oder liegen Sie im Freibad?

Sido und Bushido. Oder vielleicht ein Volkslied?

Wenn Sie jetzt beginnen würden, leise vor sich hin zu summen, würde sich jemand umdrehen und Sie erstaunt anblicken? Oder wenn Sie gar lauthals sängen - zum Beispiel: "Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten" -, was würde geschehen? Würde jemand einfallen in Ihren Gesang? Peinlich, schon alleine die Vorstellung? Dann doch lieber den MP3-Player anwerfen, die Earphones einstöpseln, sich Verdi reinziehen oder Mozart, Sido und Bushido, Hip-Hop, Heavy Metal. Oder vielleicht ein Volkslied?

Es gibt kulturelle Phänomene, die mehr als andere verraten, dass sich die Zeiten geändert haben. Relikte, Überbleibsel aus Epochen, in denen man selbst aktiv werden musste, wenn man sich die Zeit vertreiben wollte. Die historischen Volkslieder zählen dazu.

"Jetzt Brüder, eine gute Nacht ..."

Da saßen sie abends unter den Linden, die Leute aus dem Dorf.

Es dämmerte, das Tagwerk war vollbracht. Der Tischler wollte nicht über Hobelspäne reden und die Bäuerin nicht über die geronnene Milch. Und zum zwanzigsten Mal die Geschichten des Onkels hören, wie er selbigsmal beim Holzmachen von den Wildschweinen gejagt wurde, wollte auch keiner. Nur gut, dass Hedwig in diesem Augenblick glockenhell zu singen begann: "Kein schöner Land in dieser Zeit als hier das unsere weit und breit, wo wir uns finden wohl unter Linden zur Abendzeit." Den Text kannten alle. Der Tischler brummte mit, die Bäuerin stimmte in warmem Alt ein. "Jetzt Brüder, eine gute Nacht ..."

Es stimmt, dass die Menschen früher zusammen mehr sangen und viele Lieder auswendig wussten. Dass sie dies als etwas Besonderes betrachtet hätten, gehört ins Reich sozialromantischer Legenden. Das Auswendigkönnen und Selbersingen war schlicht und einfach eine der besten Möglichkeiten, Langeweile zu vertreiben. Und dass dies in dörflicher und häuslicher Gemeinschaft geschah, war der mangelnden Mobilität geschuldet. Manche begabte Sängerin wird es als wenig idyllisch erlebt haben, wenn sie mit denen abends singen musste, mit denen sie tagsüber Kartoffeln geerntet oder Wäsche gewaschen hatte. Es war halt so.

Wenn einmal in vielen Wochen der Leierkastenmann oder ein anderer fahrender Gesell ins Dorf kam und ein neues Lied mitbrachte, war das die lang ersehnte Abwechslung im alltäglichen Einerlei. Wer den Hit komponiert oder getextet hatte, wusste der fahrende Sänger meist nicht. Er hatte ihn selbst irgendwo aufgeschnappt, seinen musikalischen Möglichkeiten angepasst, also umgetextet oder melodiös vereinfacht.

Wer mit der Zeit gehen wollte, sang "Let it be" oder grüßte "See you later Alligator"

Als im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Radio und Schallplatte aufkamen, im zweiten schließlich das Fernsehen, versammelten sich die Familien mit dem Gefühl der Befreiung um die Geräte. An die Stelle regionaler Sangesbräuche trat die universale Hitmaschine. Wer recht in Freude wandern wollte oder die Mühle am rauschenden Bach klappern hörte, galt bald als liebenswürdig überständig. Und dass die deutschtümelnden NS-Propagandisten im deutschen Lied ein völkisches Erbe erblickten, trug zum Niedergang desselben das Seine bei. Wer mit der Zeit gehen wollte, sang "Let it be" oder grüßte "See you later Alligator", anstatt die Vogelhochzeit zu besingen.

Dieser zugegeben brachiale Ritt durch die jüngere Musikgeschichte beschreibt ein wenig verkürzt, wie wir dahin gekommen sind, wo wir sind. Er ist weder Demonstration eines wehleidigen Kulturpessimismus noch Ausdruck geschichtsvergessener Fortschrittseuphorie. Er illustriert, dass die Tradition (zu Deutsch: Übermittlung) des Volksliedes zu einem schmalen Rinnsal geworden ist, alleine noch unterhalten von einer Handvoll Popsängern, die je nach Zielgruppe die eher demokratischen oder heimeligen Inhalte präsentierten, sowie von Pfadfinderliederbüchern wie "Mundorgel" und "Kilometerstein", in der die eiserne Ration des Liedgutes in immer kleinere Kreise weitergereicht wurde. Die historischen Volkslieder, hinter denen die Namen von großen Poeten wie Heinrich Heine oder Matthias Claudius stecken, verschwinden im lauten Stimmengewirr der allgegenwärtigen U-Musik.

Und das genau ist die Chance, die Volkslieder in ihrem Wert und Gehalt neu zu entdecken. Indem "Der Mai ist gekommen" oder das "Heideröslein" aufgehört haben, populäre Gebrauchslieder zu sein, finden Texte und Melodien die Aufmerksamkeit einer Generation, die in ihnen die Kraft und Energie großer Kunst erleben kann, gerade weil sie nicht mehr alltäglich verfügbar sind. Friedrich Silchers "Ännchen von Tharau" oder "Guten Abend, gute Nacht" von Johannes Brahms entpuppen sich als große Kunst. Sie teilen das Schicksal von Möbeln, die deshalb zu teuer gehandelten und liebevoll restaurierten Raritäten und Antiquitäten werden konnten, weil sie der trivialen alltäglichen Benutzung entwachsen sind.

Liebe und Schmerz, Fröhlichkeit und Einsamkeit, Mond, Sonne, Frühtau, Sterne

Ihre Qualität steckt in der Erkenntnis, dass sie überstanden, weil sie auch modernen Ohren und Gehirnen noch etwas zu sagen haben. Sie haben sich von ihrem Zweck emanzipiert. Die Worte und Weisen bekommen einen neuen Sinn, weil sie für Menschen getextet und komponiert sind und nicht für Soundmaschinen. Jede und jeder kann sie singen und verstehen, weil sie das Bleibende beschreiben: Liebe und Schmerz, Fröhlichkeit und Einsamkeit, den Mond, die Sonne, den Frühtau, die Sterne.

Der Begriff "Volkslied" selbst ist es, der Probleme macht. Im Gegensatz zu irischen Folksongs, zu sizilianischen Canzone, zu den französischen Chansons und amerikanischen Balladen oder Spirituals hat das "Volkslied" seine Last mit der speziell deutschen Geschichte. Indem die Nazi-Unkultur missliebige Autoren wie den Juden Heinrich Heine unsichtbar machen wollte, stand in den braunen Liederbüchern unter dem Lied von der Loreley "Volksgut". Die NS-Herren verbreiteten die Mär, "Volkslieder" seien aus der Masse des Volkes heraus entstanden. Ein Blödsinn, der bis heute kursiert.

Volkslieder sind Volkslieder, weil sie in ihrer Popularität keine Schranken kennen und das Werk die Namen der Autorinnen und Autoren überstrahlt. Ohrwürmer, Evergreens, Gassenhauer, Hits. Manche Urheber sind hinter ihren Werken auf immer verschwunden. Andere aber sind bis heute erkennbar. Zu ihnen zählen die bedeutendsten Dichter und Komponisten wie Johann Wolfgang von Goethe, Franz Schubert oder Wolfgang Amadeus Mozart.

Mozart, so weiß man, hat sich diebisch gefreut, als er in Prag registrierte, dass die großen Arien aus "Don Giovanni" in den Wirtshäusern gesungen wurden, ohne dass die Spontanchöre auch nur ahnten, dass ihr Schöpfer in ihrer Mitte zechte. Ebenso ließ er sich ohne jede Heimlichkeit vor allem von der böhmischen Volksmusik inspirieren. Die künstliche Trennung von U- und E-Musik, von Hoch- und Alltagskultur wird vollends überflüssig, wenn man Mozarts populärstes Werk, die "Zauberflöte", betrachtet. Das Singspiel entstand auf Anregung des Volkskomödianten Emanuel Schickaneder, des Wiener Popstars jener Tage, und wurde in dessen Theater zum allgemeinen Gaudium auf die Bühne gebracht.

Mozarts Haltung gilt unter großen Künstlern als selbstverständlich. Ob Schubert, Schumann oder Brahms, ob George Gershwin, John Lennon, Paul McCartney oder Bob Dylan - sie alle haben aus dem Fundus dessen geschöpft, was ihnen Väter, Mütter und Freunde an Material mitgegeben haben. Und sie freuten sich, wenn das, was sie daraus entwickelten, in den allgemeinen Erinnerungsschatz einging. "Hey Jude" und "Blowin' in the Wind" sind die Erben von "Am Brunnen vor dem Tore" und "Im schönsten Wiesengrunde". In den Fußballstadien gehen "We Are the Champions" von Queen und der Karnevalsschlager "So ein Tag, so wunderschön wie heute" der Gemeinde in gleicher Selbstverständlichkeit über die Lippen, wenn es einen Triumph des eigenen Teams zu feiern gilt.

Volkslied ist, was bleibt und immer wieder neu empfunden werden kann

Volkslied ist, was bleibt und immer wieder neu empfunden werden kann. Manches verschwindet für Jahre oder Jahrzehnte, wird neu entdeckt und variiert. Es muss einfach passen, muss Sehnsucht stillen, Hoffnung beflügeln, trösten oder Medium der Freude sein können. Volkslied ist universale Heimat fürs Gemüt, unabhängig von sozialem Status, Geschlecht und Herkunft. "Wo wir uns finden wohl unter Linden zur Abendzeit." Worin sich niemand mehr findet, das verschwindet.

Manches Volkslied braucht den Umweg über die Fremde oder die ironische Brechung, um neu gehört zu werden. Als der GI Elvis Presley im Hessischen Dienst tat, nahm er einen deutschen Song auf und verschaffte ihm weltweite Bekanntheit: "Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus." Und das legendäre Vokalensemble des Jazz, das Golden Gate Quartet, swingte im "Blauen Bock" mit spürbarem Vergnügen "Schwarzbraun ist die Haselnuss, schwarzbraun bin auch ich, schwarzbraun muss mein Madel sein".

Ständig werden neue Volkslieder gekürt. "Heute hier, morgen dort" von Hannes Wader, "Über den Wolken" oder "Gute Nacht, Freunde" von Reinhard Mey, "Dieser Weg" von Xavier Naidoo, Songs der Prinzen, von Grönemeyer oder von BAP trällern Leute, die bestenfalls ahnen, aus wessen Feder die Sachen stammen. Wahrscheinlich gehört auch "Schöne Maid" dazu, "Wunder gibt es immer wieder" und "Ein bisschen Spass muss sein".

Ob sich diese Lieder so lange halten werden wie Matthias Claudius' "Der Mond ist aufgegangen" kann hier nicht ernsthaft erörtert werden. Es tut auch nichts zur Sache. "Volkslied" ist kein eherner Kanon. Umso mehr Ehre gebührt jenen, die in Worte und Töne fassten, was einfach zeitlos schön und ergreifend ist.

Dass die chrismon-Leser ein zweihundert Jahre altes Lied vom Mond als ihr liebstes ansehen, kann nicht wirklich überraschen, wer diese Zeilen singt: "Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder und wissen gar nicht viel. Wir spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel." Haarscharf genau und dauerhaft wahr. Doch der Dichter lässt die Singenden nicht ohne Trost: "So legt euch denn, ihr Brüder, in Gottes Namen nieder; kalt ist der Abendhauch. Verschon uns, Gott, mit Strafen, und lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch."

Die Lieblingslieder der chrismon-Leser

Wählen Sie die Volkslieder, die Ihnen am besten gefallen! Darum hatte chrismon im Mai die Leserinnen und Leser gebeten. Mehr als 3000 sind dem Aufruf gefolgt. Und welche Lieder sind es nun, die Sie am liebsten hören und singen? Absoluter Spitzenreiter vom ersten Tag an war "Der Mond ist aufgegangen". Mehr als zweihundert Stimmen Vorsprung hatte der Gutenachtklassiker am Ende auf "Die Gedanken sind frei".

Das Leipziger Calmus Ensemble (Countertenor Sebastian Krause, Tenor Tobias Pöche, Bariton Ludwig Böhme, Bass Joe Roesler und die Sopranistin Anja Lipfert) hat die Favoriten der chrismon-Leser und weitere schöne Volkslieder aufgenommen - nicht nur im einfachen Satz, sondern in unterschiedlichen, fantasievollen Arrangements. Am Ende der neuen chrismon-CD "Lied: gut! - Die schönsten deutschen Volkslieder" kommen die Favoriten noch mal zum Mitsingen in angenehmer Tonhöhe.

Alle Einsendungen der chrismon-Leser nahmen an einer Verlosung teil. Der erste Preis, eine Konzertreise zum Calmus Ensemble Anfang September nach Lüneburg, ging an Frau Monika Wolf aus 14169 Berlin. Die Gewinner der zweiten und dritten Preise wurden benachrichtigt.

Und hier der Reihe nach die Top Ten der chrismon-Leser:

1. Der Mond ist aufgegangen

2. Die Gedanken sind frei

3. Kein schöner Land in dieser Zeit

4. Guten Abend, gute Nacht

5. Bunt sind schon die Wälder

6. Am Brunnen vor dem Tore

7. Ännchen von Tharau

8. Der Mai ist gekommen

9. Im schönsten Wiesengrunde

10. Sah ein Knab ein Röslein stehn

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