Der Herr der Register
Romantische Orgeln gelten in deutschen Kirchen als antiquiert. Stück für Stück sollen sie ausrangiert und geschreddert werden. Doch die Modernisierer haben ihre Rechnung ohne Sixtus Lampl gemacht. Der Oberbayer rettet eins ums andere der verfemten Instrumente ­ und lebt heute in einem Schloss voller Kanzellen, Zimbeln und Blasebälge
07.10.2010

In seinem grünen Arbeitskittel, dem karierten Hemd und der leicht speckigen Ledernen sieht Sixtus Lampl aus wie der Gärtner oder Hausmeister des herrschaftlichen Anwesens. Doch der umtriebige Mann ist Schlossherr auf Valley im Bayerischen Oberland. Sich jedes Mal umzuziehen, wenn Besucher kommen, das kostet Zeit und die benötigt er für seine Arbeit: die Rettung und Restaurierung historischer Kirchenorgeln. Denn Sixtus Lampl, 63 Jahre alt, ein Energiebündel mit hoher Stirn und buschigen grauen Koteletten, sammelt Orgeln wie andere Briefmarken oder Bierdeckel. Aus dieser Leidenschaft entstand in 25 Jahren das größte private Orgelmuseum Bayerns und eine der größten Sammlungen historischer Orgeln in der Welt.

Lampl führt den Gast ins Herz seines Reiches, ins Arbeitszimmer im Parterre. Es ist reichhaltig mit Ablageflächen ausgestattet, auf denen wiederum alles ausgebreitet liegt, womit sich der pensionierte Denkmalschützer derzeit beschäftigt: Archivalien, Manuskripte, Pläne, Skizzen, Urkunden, Fotografien, Notenbücher, Partituren, Kompositionen, Bücher, Broschüren. Dazwischen Orgelpfeifen und Ersatzteile. Zwar blinzelt ein Computer verschämt aus einer Ecke hervor, doch eines ist klar: Dr. Sixtus Lampl beschäftigt sich lieber mit der Technik vergangener Jahrhunderte als mit Datentransfer und Mikrochips.

Es summt und brummt und klingt und pfeift vom Keller bis zum Dachboden, im Haus, im Depot, in der angrenzenden Festhalle, wenn Lampl seine Schätze vorführt. Ein kundiger Besucher darf sich sogar selbst an einen der ausladenden Spieltische setzen und Bachs "Toccata und Fuge in d-Moll" oder Regers Variation "Wie schön leucht't uns der Morgenstern" anstimmen. Mittlerweile sind es an die 60 Orgeln, zusammengetragen zwischen Lübeck und Südtirol, die im Wohnhaus und in den Nebengebäuden aufgestellt sind oder zerlegt und verpackt auf Restaurierung und Wiederaufbau warten. Vom kleinen Tischinstrument über die Orgel aus der Münchner Frauenkirche bis hin zur Heidelberger Domorgel, mit 55 Registern und 5000 bis zu fünf Meter hohen Pfeifen.

Die Orgel begleitete Sixtus Lampl von Kindheit an, als Ministrant beim Gottesdienst, wo er den Blasebalg trat, als Klosterschüler in Schäftlarn, wo er das Orgelspielen lernte, während des Studiums der Kirchengeschichte und Musikwissenschaft, bis hin zu seiner jahrelangen Tätigkeit als Oberkonservator beim Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege. Als Organist wirkt Sixtus Lampl bis heute bei Konzerten und Gottesdiensten mit. Dass er aber einmal so etwas wie der Herr über ein ganzes Arsenal von Orgeln werden sollte, das hätte er sich nicht träumen lassen, das kam einfach so.

Als die Orgel nicht ins Haus passte, sah er sich eben nach einer tauglichen Heimstatt um

"Notgedrungen", sagt Lampl und schiebt die Lesebrille auf die Nasenspitze, "die Instrumente sollten verschrottet werden, das kann man doch nicht zulassen und irgendjemand musste sich ja um sie kümmern." Das Schicksal nahm seinen Lauf, als er 1980, 39 Jahre alt, unter der großen romantischen Orgel von St. Martin in Landshut stand. Ein beeindruckendes Instrument mit bis zu zehn Meter hohen Pfeifen. Die Kirchenverwaltung hatte beschlossen, das Instrument auszumustern ­ auch weil es nicht dem bevorzugten Klangideal entsprach. Da sich niemand anderes fand, nahm sich Lampl der Orgel an. Eine folgenreiche Entscheidung. Weil die Orgel nicht in sein Bauernhaus am Schliersee passte, musste er sich mit der Zeit nach einer orgeltauglichen Heimstatt umsehen. In der Gemeinde Valley im Landkreis Miesbach wurde Lampl fündig. Der Auftakt für sein Orgelmuseum war gesetzt.

Vom hohen Mittelalter bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts beherbergte das Schloss Gericht und Pflegamtsverwaltung der Grafen von Valley. Mehrmals wurde es umgebaut, erweitert, wieder verkleinert und modernisiert, bis es schließlich Ende des 19. Jahrhunderts in das Eigentum eines Gastwirtes überging. Wirtshaus blieb das Schlossgebäude bis 1965, als die letzte Wirtsfamilie den Betrieb einstellte und das Anwesen an den Schriftsteller Michael Ende verkaufte. Der nutzte das Schlösschen als Wohnung und verkaufte es 1971. Von offenbar unsachgemäßen Sanierungsarbeiten schwer in Mitleidenschaft gezogen, stand der Bau daraufhin 18 Jahre leer, verfiel immer mehr und wurde zu allem Überfluss auch noch von Plünderern heimgesucht. Kein Wunder, dass es nicht wenige gab, die Inge und Sixtus Lampl rieten, ihre Finger von einer solchen Ruine zu lassen.

Sixtus Lampl aber stammt aus den Bergen und die Bauern vom Schliersee waren es von jeher gewöhnt, gegen Widrigkeiten dieser Welt anzukämpfen, sei es gegen Sturm- und Hagelschlag oder gegen einen Landesherrn, der sie zu arg schröpfte. Mit bayerischem Dickschädel kämpfte der Denkmalschützer bei der Sanierung seines Anwesens auch gegen die seiner Meinung nach allzu eng gezogenen Auflagen der Baubehörde. Unterstützt wurde er dabei von seiner nicht minder resoluten Ehefrau Inge, der zwar der Anblick des alten Gemäuers nicht ganz geheuer war, die aber zu guter Letzt dem Vorhaben auch ihren Segen erteilte. Lampl hatte gefunden, was er suchte: ein Heim für sich und seine Frau, den Hund und eine große romantische Orgel.

Bei der es aber nicht blieb. Immer wieder überraschte Sixtus Lampl seine Frau mit der frohen Botschaft: "Wir müssen eine bei uns aufnehmen!" Nach und nach wuchs der Bestand um große und kleine, mächtige und zierliche, schlichte und prunkvolle Orgeln, und auch das eine und andere verwaiste Harmonium fand eine neue Bleibe. Das älteste Instrument stammt aus dem 17. Jahrhundert, das neueste aus den fünfziger Jahren. Bei all dem ist Sixtus Lampl kein Sammler im herkömmlichen Sinn, keiner der sich im Guinness-Buch verewigt sehen möchte. Lampl ist Denkmalschützer mit Leib und Seele. Die sinnlose Zerstörung eines alten Stückes bereitet ihm geradezu körperliche Pein.

Der Urgrund des Museums, sagt Lampl, "war die bedrängende Erkenntnis, dass historisch und klanglich wertvolle Instrumente geopfert werden sollten, wenn sie nicht dem gegenwärtigen Klangideal entsprachen". Und dann erzählt er von der Elsässer Orgelreform, vom Professor Emile Rupp und dem großen Arzt und Organisten Albert Schweitzer, die damals zu einem Feldzug gegen die romantische Orgel bliesen: "Die beiden waren damals so fasziniert von der Wiederentdeckung elsässischer Silbermann-Orgeln, dass sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts den damals gängigen Orgelbau der romantischen Richtung als Irrweg empfanden."

Rupp und Schweitzer setzten eine Bewegung in Gang, die den Orgelbau wieder auf die so genannte Schleifladentechnik der barocken Orgelbaukunst zurückführen wollte. Die Deutschen waren besonders gründlich, als es in Folge der Zweiten Tagung der Orgelfreunde in Freiburg/Breisgau 1937 darum ging, die barocke Schleiflade als das ausschließlich Gültige im Orgelbau zu postulieren. Instrumente anderer Bauart wurden herabgewürdigt. Eine sehr unromantische Orgelstürmerei war die Folge.

Tatsächlich ist der Unterschied hörbar: Das romantische Klangempfinden ist gefühlsbetont, impulsiv, symphonisch verschmelzend. Entsprechend sind romantische Orgeln im Tonansatz weicher. Dagegen strebt das barocke Musikideal danach, Klanggruppen und Melodien einander gegenüberzustellen. Dazu wird vor allem eine klare Tonerzeugung benötigt, der Zuhörer soll Ton für Ton verfolgen können. Das neue Bewusstsein setzte sich über die kirchlichen Orgelsachverständigen bis in die kleinsten Gemeinden durch, und als Sixtus Lampl im Auftrag des bayerischen Generalkonservators zur Rettung romantischer Orgeln antrat, waren viele wertvolle Instrumente schon durch Orgeln mit neubarockem Klangbild ersetzt worden.

Seit nunmehr 25 Jahren wirkt Lampl als Missionar: mit Geduld, Kraft und Argumenten, getragen von einem tiefen Glauben an den Wert der romantischen Orgeln, versucht er Pfarrer, Kirchenräte und Sachverständige zu überzeugen, dass sie ihre alte Orgel restaurieren lassen. Nicht immer erfolgreich. "Stellen Sie sich vor, Sie haben Originalmanuskripte von Reger, Mendelssohn oder Brahms", hält Lampl ihnen dann verzweifelt vor, "und ich würde diese vor ihren Augen zerreißen. Sie würden aufschreien vor Entsetzen. Aber genau das haben Sie mit Ihrer Orgel vor!" So brachte er immerhin einige seiner Gesprächspartner ins Nachdenken.

Aber oft genug drang er nicht durch, fand auch keinen Ersatzstandort und musste seiner Frau wieder mal schonend beibringen, dass der Hausstand im Valleyer Schloss anwachsen würde. So füllten sich Räume und Speicher bis unter den Spitzboden mit Manualen, Pedalen, Laden, Kanzellen, Flöten, Zimbeln, Gemshörnern, Krummhörnern, Holzpommern, Subbässen, Oboen, Gamben, Rauschpfeifen, Sesquialtern, Posaunen, Trompeten, Ankern, Spulen, Schwellwerken, Hauptwerken, Wippen, Stechern, Zügen, Druckknöpfen, Hebeltritten, Koppeln, Registerzügen, Windmaschinen, Blasebälgen ­ und was geniale Orgelbauer sonst noch in das königliche Instrument eingebaut hatten. Frau Lampl schnaufte gottergeben durch, stemmte die Arme in die Hüften und erklärte, dass sie sich jetzt einen alten Wohnwagen in den Garten stelle, damit der Sixtus auch noch im Schlafzimmer Orgeln aufbauen könne.

"Würde es niemand geben, der sich dieser Instrumente annimmt", sagt Lampl und blickt nachdenklich über den Brillenrand, "der größte Teil wäre wohl unwiederbringlich verloren gegangen." Verstummt, ausgeschlachtet, verschrottet, zersägt, geschreddert. Nun aber ist der Beweis erbracht, dass viele der Aussortierten sehr wohl restaurierbar waren. Vielleicht findet sich ja doch noch eine Kirchengemeinde, die das ein oder andere Stück gegen Unkostenerstattung übernehmen möchte. Er berührt behutsam eine kleine Tischorgel, streicht über die Tastatur, zieht vorsichtig ein paar Register, betätigt sanft den Blasebalg und sagt dabei einen etwas sperrigen Satz, der so gar nicht zu seinen Gesten passen will: "Die Bergung und Unterbringung ausrangierter Instrumente verlangt einen beträchtlichen Arbeits- und Finanzaufwand, zu dem wir uns aber doch immer wieder durchringen, wenn es um Sein oder Nichtsein eines solch wehrlosen Instrumentes geht."

Für seine Orgeln kämpft Lampl mit der Zähigkeit eines Bergbauern beim Kuhhandel

Für die Rettung seiner Orgeln kämpft Lampl mit der Zähigkeit eines Bergbauern beim Kuhhandel. Mit dieser Art Vaterliebe für seine Findelkinder hat er sich im Laufe der Jahre aber nicht nur Freunde gemacht. Bei seinem Dienstherrn in München gingen Beschwerden am laufenden Band ein. Pfarrer und Sachverständige beklagten sich über den bayerischen Robin Hood, der ihnen ihre schöne neue Orgel madig machte und sie zur Restaurierung der alten nötigen wollte. Man bombardierte Lampl mit waghalsigen Argumenten, warum eine neue, barock klingende Orgel unabdingbar sei. Ein Orgelsachverständiger argumentierte sogar mit einer mysteriösen Metallkrankheit, die eine romantische Orgel befallen habe und sie in Kürze vernichten würde. Diese Orgel, aus der Balthasar-Neumann-Wallfahrtsbasilika Gößweinstein in Nordbayern, ist heute eines der Schmuckstücke des Orgelmuseums und mit ihren 42 Registern das größte Instrument im Orgelsaal.

Dort ist sie so aufgebaut, dass der Besucher auf einem als Rundweg angelegten "Orgellehrpfad" mitten in das faszinierende Innenleben einer großen Orgel hineinspazieren kann. Gespielt wird die elektromagnetisch gesteuerte Orgel mittels eines fahrbaren Spieltisches vom Saal aus. In der Küche von Inge Lampl wurde diese Orgel instand gesetzt. Geduldig ertrug die 73-Jährige den Lärm von Kreissägen, Bohrern und Hämmern, wischte Staub und Späne auf, und auch monatelanges Stimmen der fast 3000 Orgelpfeifen brachte sie selten aus der Fassung.

Auch wenn sie manchmal stöhnte, aus Liebe zu ihrem Mann und dem königlichen Instrument ertrug die pensionierte Lehrerin die Widrigkeiten. Wer das Vergnügen hat, das Ehepaar im Musiksaal die "Sonata a due Organi" von Gaetano Piazza "stereophon" auf zwei Orgeln spielen zu hören, den beschleicht eine Ahnung, warum das so ist.

Für weitere Prunkstücke war im Haus irgendwann partout kein Platz mehr, wollten die Bewohner nicht wirklich in einen Wohnwagen umziehen. Fast zwangsläufig bewahrte Sixtus Lampl bei einer seiner Orgelrettungssafaris einen barocken Bundwerkstadel vor dem Abriss, ließ ihn nach Valley transportieren und dort als Depotraum wieder aufbauen. Mit der "Zollinger-Halle" schuf er schließlich Platz für weitere Orgeln und einen prächtigen Festsaal: Das 1923 für ein Sägewerk erbaute technische Meisterwerk aus Holz, das ebenfalls kurz vor dem Abriss stand, bietet eine Akustik, bei der einst wohl selbst Bandsägen konzertant geklungen haben.

"Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid" -­ das Bibelwort stimmt tröstlich

Kurz vor der Vollendung steht die restaurierte Orgel aus der alten Kapelle des Evangelischen Schröderstifts in Hamburg. "Das war eine aufwändige und kostspielige Arbeit. Das Instrument musste erst einmal von einer millimeterdicken Schicht Kerzenruß befreit werden und mittendrin ging auch wieder einmal das Geld aus", erzählt Lampl. Das Privatvermögen ist aufgebraucht und was monatlich hereinkommt ­ durch die Erlöse der Kulturfahrten, die Lampl organisiert und moderiert, oder der Bücher aus seinem Valleyer Schlossverlag, die Erlöse aus den eigenen Kalkgruben oder vom Verkauf des Zwickelbiers, gebraut nach altem Hausrezept ­, reicht bei weitem nicht aus, die großen Pläne des Orgelretters finanziell zu schultern. Ein Freundeskreis unterstützt Lampls Bemühungen, das Orgelzentrum möglicherweise auf staatliche Beine zu stellen oder in eine Stiftung einzubringen.

Und so blickt Sixtus Lampl bisweilen sehnsüchtig zu der prachtvoll verzierten Schröderstifts-Orgel auf. Der Schriftzug nach Matthäus 11,25, "Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid", stimmt ihn dann wieder zuversichtlicher.

 

 

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