Alles ganz schön kalt draussen. So distanziert, fremd und beherrscht. Aber es gibt eine feine Gegenbewegung: Kuschelparties & Co
Tim Wegner
07.10.2010

Samstag, elf Uhr, noch ein wenig zerknautscht sehen die zehn Männer und Frauen aus, die sich gerade in der Frankfurter Fußgängerzone versammeln. Aber sie haben sich nun mal zum "Free Hugs Day" verabredet: zum Umarmen fremder Leute. Jeder nimmt sich ein Schild mit der Aufschrift "Gratis Umarmungen", dann ziehen sie los. "Heute schon gedrückt worden?" - der Mann, der Passanten so fragt, ist werktags Projektleiter im IT-Bereich. Eine ranke Dame, sonst unterwegs als Flugbegleiterin, steuert mutig auf ganze Gruppen zu: "Für Sie eine kostenlose Umarmung?" Ein anderer steht nur da, mit ausgebreiteten Armen: Topp, das Angebot gilt.

"Für Sie eine kostenlose Umarmung?"

Manche Passanten drehen ab, gehen einen Umweg; viele andere aber laufen nach kurzem Zögern - geradewegs in die offenen Arme. Kleine alte Frauen schmiegen sich an große junge Männer, gehetzte Radfahrer steigen extra ab, muffelig nebeneinander hertrottende Eheleute lassen sich umarmen, sichtlich erstaunt über sich selbst. Bierbäuche stoßen aneinander, Arme verheddern sich, egal. "So viele Leute habe ich auf der Zeil noch nie lachen sehen", sagt atemlos eine Umarmerin. Natürlich fragen viele: Sind Sie eine Sekte, eine Partei, wollen Sie was verkaufen? Wie, Sie machen das einfach so? Das ist aber schön, danke!

Ja, sie machen das einfach so. Auch für den Neuling Frank Herrmann, 35, ist das "Free Hugging" keine Bewegung, an die er glaubt. Aber es ist auch nicht bloß ein Event. Herrmann arbeitet als Coach, er lacht gern, ein offener Typ. Dabei kann er sich nicht erinnern, dass seine Mutter ihn je am Geburtstag umarmt hätte. Mit Mitte zwanzig fiel er ins andere Extrem und umarmte die Eltern dauernd, heute nur noch, wenn es für beide Seiten passt. Aber immer öfter Freunde, und jetzt auch Fremde. "Denn wir sind doch alle gleich, wir suchen alle nach Liebe, wir müssen uns nicht voreinander verstecken."

Die Frankfurter Umarmer ließen sich anregen vom Video der ersten "Free Hugs"-Aktion eines jungen Australiers. Der war, gerade verlassen von seiner Verlobten, am Flughafen Sydney angekommen, und niemand stand da und freute sich. Das hat er geändert und seitdem Hunderttausende umarmt. Wie viele Leute die Frankfurter umarmt haben, haben sie nicht gezählt.

Nach zwei Stunden sind sie ein wenig erledigt, gleichzeitig aufgekratzt und bester Laune. Sie haben nicht die Welt geändert, aber vielleicht eine Wende in den Tag des einen oder der anderen gebracht.

Der Soziologe schüttelt sich

Eine wahre "Umarmungsinflation" beobachtet Tilman Allert, Soziologieprofessor in Frankfurt am Main. Dieses dauernde Umarmen von meist gar nicht besonders Nahestehenden, fast immer vor Publikum, habe etwas unglaublich Demonstratives: "Wie die sich kennen! Eine Art Selbstfeier gegen den Selbstzweifel. Da suggeriert man sich Zugehörigkeit und Daseinsfreude." Hört man da Unbehagen durch? Nun ja, gibt der 61-Jährige zu, "als ich jung war, haben wir doch dreimal nachgedacht, ob jemand nun ein Freund, eine Freundin ist. Heute umarmt man sich erst mal, Hauptsache, man ist dabei. Möglicherweise ist das ein Sorgfaltsverlust."

Ob "Free Hugging", Bussi-Bussi oder Kuschelparty - daraus spricht für ihn die pubertäre Sehnsucht nach anstrengungsloserBerührung:ohnevorherigeKommunikation, ohne eine gemeinsame Geschichte, an deren Ende die Bereitschaft zur Berührung steht. Er findet diese "Abkürzung" bedauerlich, aber historisch natürlich höchst interessant.

Denn die große Errungenschaft der Moderne seien doch gerade die abstrakten Austauschbeziehungen. Ich muss nicht die Tochter an den Mann verheiraten, mit dessen Firma ich kooperieren will. Ich muss keine Saufkumpanei mit den Versicherungsverkäufern aufbauen, damit sie mich schützen im Notfall. Sondern wir machen einen Vertrag. Der gilt, genau wie all die Gesetze - dass sich die allermeisten dran halten, darauf kann ich mich verlassen. Weil wir gelernt haben, unsere spontanen Gefühlsaufwallungen im Zaum zu halten. Das ist der Fortschritt. Der Preis dafür ist das gelegentliche Gefühl, eingekapselt zu sein.

Es ist eine zweischneidige Sache mit dem Berühren: Strenge Regularien schützen vor Übergriffen und verhindern andererseits allerlei spontan-liebevolle Berührung. Außerhalb von Liebesbeziehung und Familie ist für Erwachsene wenig vorgesehen: ein förmlicher Händedruck, eine schulterklopfende Kürzestumarmung, das war's dann schon. Nur in sehr emotionalen Situationen wird das Tabu aufgehoben etwa bei schwerer Krankheit, bei Triumph, angesichts einer großer Bedrohung. Dann wird einer Berührung kein sexuelles Motiv unterstellt.

Ein Kuschelwall gegen die Erwerbswelt

Unter Jugendlichen allerdings scheint häufiges Umarmen selbstverständlich zu sein, genauer: unter Mittelschichtsjugendlichen. Mädchen kraulen einander im Unterricht den Rücken so abgelenkt, dass die Lehrerin sie schließlich auseinandersetzt. Hier herzen sich 12-jährige Gymnasiasten zur Begrüßung, dort sitzen 17jährige Jungs so ineinander "verschränkt" vor dem Fernseher, dass sich selbst ihre in Alternativszenen sozialisierten Eltern wundern. Und immerhin mit ausgiebigem "Beulen" begrüßen sich Migrantenjungs.

Eine neue Form der Abgrenzung gegen die Erwachsenen? Vielleicht ein Kuschelwall gegen die drohende Erwerbswelt, meint die Frankfurter Soziologieprofessorin Katharina Liebsch. Denn die Erwachsenen, das sehen die Jugendlichen ja, sitzen einsam vor ihrem Laptop und arbeiten bis in die Nacht und am Sonntag.

Doch auch Erwachsene suchen mehr Körperkontakt: streicheln auf Kuschelpartys Fremde oder gehen regelmäßig zur Massage, um sich zu spüren. Eigentlich logisch, sagt die 47-jährige Soziologin, "denn um heute erfolgreich zu sein, muss man von Kopf bis Fuß dabei sein, jederzeit; da muss auch die Entspannung eine umfassende sein". Eine unpolitisch e Selbstsorge. Während die körpertherapeutischen Angebote in den 70ern mit den leiblichen "Panzerungen" auch gesellschaftliche Zwänge sprengen wollten, gehe es nun darum, sich "fit" zu machen, um unhinterfragten Normen zu genügen.

Der Schritt zur Funktionalisierung ist nicht weit: Man umarmt nicht, weil die Haut so weich ist oder weil man jemanden mag, sondern um wieder fit und kreativ zu sein. Wie eine neue Norm klingt dieser Spruch: "Wir brauchen vier Umarmungen am Tag zum Überleben, acht zum Leben und zwölf zum Wachsen."

Aber immerhin, resümiert Katharina Liebsch, "da tut sich was, und es sieht nach Vervielfältigung aus". Neue Berührungsformate werden ausprobiert. Die Reaktionen sind gespalten: Was die einen "anrührend" finden, nennen andere "bizarr". Und viele rufen spontan: "Wie grässlich! "

Gottesdienst mit Anfassen

Angefasst werden im Gottesdienst, da graust es vielen Kirchgängern. Glauben gilt hierzulande als etwas Intimes und Intellektuelles. Während Katholiken wenigstens knien und sich bekreuzigen, ist die protestantische Kirche deutlich unsinnlicher, "resopalmäßig", sagt Thomas Hirsch-Hüffell. Der 54-jährige Pfarrer mit Theatererfahrung denkt für die nordelbische Kirche über neue Gottesdienstformen nach, leiblichere. Denn wie oft hat er gehört, vor allem von Jüngeren: "Ich will nicht mehr nur einer Predigt zuhören, ich will das erleben, es soll mich anfassen."

Und so bietet mittlerweile rund ein Viertel der Gemeinden gelegentlich einen Gottesdienst mit Berührung an. Prompt bleiben die "Altgedienten" weg; aber es kommen andere; und irgendwann auch die Stammbesucher - schon aus Neugier. Und die meisten gucken dann nicht nur zu, sondern lassen sich die Hände zum Segen auflegen oder mit Salböl ein Kreuz auf Stirn und Handinnenflächen zeichnen. Hinterher sagen sie: Ich bin berührt. Das sagen sie nach einer Predigt selten.

Es ist die Einzelzuwendung, die sie berührt, meint Hirsch-Hüffell. Und dass ihnen eine "allgemeine Wahrheit" auf die Haut gesprochen werde. Ein Satz wie dieser: "Fürchte dich nicht. Geh hin im Frieden Gottes; er ist mit dir." Das sei eine Entlastung. "Wir müssen uns doch heute alles selbst sagen: Ja, ich bin schön, ja, ich bin in Ordnung. Es gibt eine große Sehnsucht, in diese Freiheit hinein einen Zuspruch zu bekommen, der gilt."

Die Zehnerkarte-Massage - Einfach mal passiv sein

Nicht ganz so unwägbar wie eine Berührung im Gottesdienst scheint eine Massage zu sein. Einfach hinlegen, die Kontrolle abgeben und den Händen der Masseurin innerlich mit der Wahrnehmung folgen, das kann ja nicht so schwierig sein. Ist es aber doch für manche. Also erzählen sie vom letzten Urlaub. Auch okay, sagt die Kölner Masseurin Sabina Flora, "aber je passiver sie sind, umso mehr passiert".

Was da passiert, lässt sich kaum in Worte fassen. Sabina Flora, eine fröhliche, bodenständige und zugleich nachdenkliche Person, versucht es trotzdem: "Ich mache den Patienten mit seiner Anspannung bekannt. Hallo, darf ich vorstellen, Ihre Schulter, die würde gern mal ein bisschen Quatsch machen, nicht immer zwischen den Ohren klemmen." Das Ziel: spüren, wie sehr ein Muskel in Not ist, und dann vielleicht überlegen, womit man den Muskel so in Not bringt. Erkenntnis über Genuss.

Dann sind die sechs verordneten Massagen vorbei. Und die Patienten sagen ein wenig verdruckst: "Aber Sie meinen doch auch, dass wir noch nicht fertig sind?" Es ist ein Schritt, sich eine Zehnerkarte einfach so zu gönnen. Aber das gestehen sich immer mehr Leute zu, beobachtet Flora.

Viele Ärzte jedenfalls verschreiben ungern Massagen. Ihnen ist das "Rumliegen" suspekt. Das bisschen Streicheln könne auch der Ehemann machen. Doch was der Ehemann unter Massage versteht - heftig die Schultern zu kneifen -, tut nicht gut. Besser wäre, rät Flora, die Hände auf die Schultern legen und gar nichts machen. Oder die Hände langsam über den Rücken bewegen, dabei aber nicht "Massage" denken, sondern nur spüren, was man unter den Händen fühlt.

Sie jedenfalls findet es wunderbar, dass ihr Menschen ihren Körper anvertrauen. Massage sei ja geradezu eine "Lizenz zum Anfassen", lacht die 47-Jährige, die selbst nicht aus einer Kuschelfamilie kommt. Nein, man dürfe sie nicht einfach so umarmen. "Aber ich arbeite daran."

Ein Tangotänzer will wissen, wie manche Frauen sich tanzen

Eine Lizenz zum Anfassen hat auch der Frankfurter Norbert Wilden. Jeden Dienstagabend hat er viele Frauen im Arm, beim Tango. Ob er die Frauen auch auf der Straße attraktiv fände, ist ihm dienstags völlig egal, da interessieren ihn nur die Körper in Bewegung. "Denn was nutzt es, wenn ich die schönste Frau im Arm habe, sie aber wie einen Sandsack schieben muss." Dagegen neulich diese Tänzerin, noch zwei Zentimeter größer als er: "Wie die sich wohl tanzt? Da muss ich ran, das muss ich fühlen! Und sie tanzte sich klasse: groß, beeindruckend und doch leicht."

Der Lehrer an einer beruflichen Schule tanzt seit vier Jahren Tango. Aber nicht mit seiner Frau. Denn die, ebenfalls Lehrerin, sei eine Freestylerin, "eine egozentrische Einzeltänzerin, die quer durch den Raum flippt im freien Bewegungswahn". Er dagegen - im Haushalt zuständig fürs Einkaufen und Kochen - genießt es, beim Tango führen zu dürfen, genauer: "eine Dame zu inszenieren". Denn er eröffne ihr ja nur die Räume, gebe etwa eine Drehung vor - aber wie sie ihr Bein führt und wie hoch, das ist ihr überlassen. Auch die Wahl des Körperabstands.

Brust an Brust, klar. Tango Argentino. Und schweigsam, denn Tango verlangt volle Konzentration. Dafür Wange an Wange. Natürlich sei da Erotik dabei, sagt der 57-Jährige. "Das ist so was wie ein hoch ritualisierter und ästhetisierter Swingerclub. Zweifellos nichts, wo Paare am Anfang ihrer Ehe gut aufgehoben wären. Dabei bietet gerade das Ritualisierte Freiheit und Schutz."

Alte müssen sich anfassen lassen - Zur "Intimpflege"

Lockende, andeutende, spielerische Berührungen - im Tango wunderbar, im Umgang mit sehr alten Menschen schlecht. Eindeutig muss eine Berührung sein, sagt Marion Kleinfeller, 46, Lehrerin an der evangelischen Schule für Altenpflege im Hufeland-Haus in Frankfurt. Dann umfasst sie mit beiden Händen den Oberarm einer Schülerin, großflächig und durchaus mit Druck, und sagt: "Guten Morgen, ich bin da und unterstütze Sie jetzt bei der Körperpflege." So begrüßt man einen Menschen, der schlecht hört, wenig sieht und vielleicht auch noch verwirrt ist.

Die angehenden Altenpflegekräfte probieren vieles aus. Sie putzen einander die Zähne, waschen die Arme und merken, was für einen Unterschied es macht, ob der eigene Arm mit spitzen Fingern hochgehoben wird oder mit festen Händen. Einmal fühlt sich der Arm dünn und schwach an, das andere Mal kräftig - das ist ein wichtiger Unterschied für Bettlägerige, die ihrem Körper nichts mehr zutrauen.

Und wie komme ich morgens aus dem Bett- reiße ich mir die Decke vom Leib, wie es Krankenschwestern noch vor wenigen Jahren zu tun pflegten? Richte ich den Duschstrahl gleich auf den Körper, oder prüfe ich nicht doch eher erst einmal mit der Hand die Temperatur? Diese Orientierung an Alltag und Erleben der Pflegebedürftigen ist neu. Sie verdankt sich der noch jungen Pflegeforschung.

Nur für die "Intimpflege" gibt es noch keine Lösung, mit der beide Seiten sich wohl fühlen. "Wenn ich eine Frau am Busen wasche", sagt Pflegeschüler Jan Zerbe, 34, "muss das als sachliche Handlung ankommen und sich genauso anfühlen wie das Waschen am Arm." Diese Sachlichkeit brauche er derzeit noch als Krücke. Aber einen alten Mann, den er schon länger kenne, den wasche er mittlerweile gerade so wie sich selbst - beiläufig, routiniert und selbstverständlich.

Doch als alter Mensch will man vielleicht nicht nur sachlich berührt werden und nicht nur zu pflegerischen Zwecken. "Na klar, wir umarmen unsere Bewohner auch", sagt Lehrerin Kleinfeller, "zum Abschied, zur Begrüßung oder einfach mal so, weil wir sie gern haben." Den einstigen Klassiker jedenfalls, die durchblutungsfördernde Rückeneinreibung mit Franzbranntwein, braucht man heute nicht mehr, um eine freundliche Berührung zu rechtfertigen. Ganz abgesehen davon, dass Alkohol eine alte Haut austrocknet.

Wie eine Seelsorgerin Kranke und Tote anfasst

Während Pflegebedürftige heute auch mal liebevoll gedrückt werden, während Tangotanzen boomt und selbst 85-Jährige ihre pubertierenden Enkel mit K sschen links, rechts begrüßen, scheint in Krankenhäusern alles gleich geblieben zu sein: Man wird gepiekst, geschnitten, in Maschinen geschoben und in Zahlenkurven gefasst; man ist nur noch Körper, nicht mehr beseelter Leib. Gäbe es nicht Leute wie Kathrin Jahns.

Die spricht viel, schließlich ist sie Seelsorgerin im Roten Kreuz Krankenhaus in Kassel. Aber sie weiß auch, dass Worte manchmal wenig helfen. "Deshalb segne ich die Menschen immer offensiver. Und ich fasse sie an dabei, egal, ob sie verschwitzt sind oder fettige Haare haben." Kathrin Jahns kommt, wenn sie von den Schwestern hört, dass sich ein Patient mit seiner Lebensbilanz quält oder eine Patientin jemanden braucht, mit dem sie ihren Schrecken über eine Diagnose teilen kann. Am Ende des Gesprächs fragt Jahns: "Darf ich Sie segnen, bevor ich gehe? Täte Ihnen das gut?"

Fast niemand lehnt ab. Und die Pfarrerin legt ihre Hände auf Kopf oder Schultern und spricht den Aaronitischen Segen: "Gott segne und behüte dich; Gott lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; Gott erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden." Wenn sie jemanden besser kennt, lässt sie ihre Hände auch übers Gesicht gleiten. "Manchmal, wenn die doll weinen, halte ich die richtig fest."

Sie habe keine Scheu vor Berührung, sagt die 49-Jährige. Liebevoll ging es in ihrer Familie zu, bei aller üblichen Streiterei, und sie hatte eine "Kuscheloma": dick und gesegnet mit einem mächtigen, samtweichen Doppelkinn. "Ach, wie gern wuschelte ich als Kind da drin herum! "

Auch Verstorbenen legt Kathrin Jahns, wenn sie zur Aussegnung gerufen wird, die Hand auf die Schulter oder streicht ihnen mit dem Finger über die Wange. Es ist schließlich die letzte Begegnung. Damit will sie auch den Angehörigen Mut machen. Manche trauen sich nicht recht, anderen spukt die Mär vom "Leichengift" durch den Kopf.

Dann stellen sich alle im Kreis ums Bett und fassen einander an den Händen; die nächsten Angehörigen stehen direkt bei der Verstorbenen und berühren sie. Nach Psalmlesung, Gebet und Segen ermutigt die Pfarrerin dazu, sich zu verabschieden und zu sagen, was noch zu sagen ist. Da kommt es vor, dass sie auch von der Tochter der Patientin umarmt wird, mit der sie oft gesprochen hat. "Und am Ende hab ich dann die ganze Familie im Arm, fünfzehn Leute."

Was 23 Erwachsene auf einer Kuschelparty treiben

Hier eine Massage, dort mal gedrückt werden, das reicht den 10 Frauen und 13 Männern nicht, die zum Wohlfühl-Kuschelabend in ein Frankfurter Loft gekommen sind, dafür 18 Euro gezahlt haben und sich jetzt vorstellen: viele Singles, aber nicht nur, manche Stammkuschler, andere neu und entsprechend verlegen - wie wird das gehen, mit Fremden zu kuscheln? "Aber ich hab gemerkt", sagt ein junger Mann, "mit wildfremden Menschen zu kuscheln, ist gar nicht so schwer; in der Pause einGesprächanzufangen, istvielschwerer." Die Runde kichert zustimmend.

Nein, diese Großstädter zwischen Ende 20 und Ende 50 fallen jetzt nicht übereinander her. Sie werden behutsam angeleitet von Kuscheltrainerin Rosi Doebner, 42, mit Übungen, wie sie jede Pädagogikstudentin kennt. Zunächst aber die Regeln: "Hört auf euer Gefühl, was tut euch gut, wo ist es euch zu eng? Traut euch, eine Hand weg zu tun, den Platz zu wechseln oder auch was zu sagen." Und: Wer Erotik verspüre, möge die genießen, soll aber nichts daraus machen. Kurz: Wer grabscht, fliegt raus.

Dann die erste Übung: sich herumtasten, im Stehen, mit geschlossenen Augen - damit man nicht denkt: "Bäh, das ist der, mit dem ich nicht wollte", denn vielleicht kann gerade der "schön berühren". In Kürze entsteht ein großer Knubbel, überall tastende Hände: drahtige und gut gepolsterte, warme und kühle; manche krabbeln aufgeregt herum, andere bleiben ratlos liegen, die meisten erkunden im Flaneurstempo Arme, Rücken und Haare.

Nach der Pause das große Kuscheln auf Matratzenlager. Hier finden sich zwei, dort liegen gleich vier Kopf auf Brust oder Rücken an Bauch. Manchmal setzt sich jemand auf, sucht einen neuen Platz, dann rücken die anderen auseinander, bis eine neue Ordnung gefunden ist. Nach drei Stunden ist Schluss. 23 Erwachsene krabbeln seufzend auseinander, setzen sich rotwangig, mit zerzwuselten Haaren - zur Abschlussrunde in den Kreis.

"Es war schön, in Menschen eingepackt zu sein", sagt einer; ein anderer ist traurig, weil er seine Sehnsucht gespürt habe; eine weitere fühlt sich "genährt" - sie stammt aus Ex-Jugoslawien und vermisst die dort üblichen häufigen Berührungen. Ein Mann kann gar nichts sagen, er sei "noch ganz bekifft von dem Kuschelhaufen". Eine junge Frau, die anfangs am Rand lag, strahlt: "Es war eine schöne Erfahrung, dass ich was ändern kann; dass ich einen Platz fand und eine Einladung." Und die 48-jährige Bankerin, die vor allem mit dem 31-jährigen Physiker kuschelte, sagt: "Frieden, ich spüre Frieden."

Rosi Doebner gibt die aufbewahrten Brillen zurück und freut sich über all die Veränderungen, die ihre Gäste erleben: Frauen erzählen ihr, dass sie endlich mal ihre Grenzen deutlich gemacht haben. Männer, die vorher sagten: "Ich fass aber keinen Mann an! ", tun's dann doch. Und einer, vaterlos und im Kinderheim aufgewachsen, bat darum, mal von einem Mann im Arm gehalten zu werden. Es fand sich einer. 

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