Lena ist von Sibirien nach Deutschland gezogen. Nun muss sie nicht mehr zwischen dem Kauf von Heizkohle und Winterstiefeln entscheiden.
Tim Wegner
07.10.2010

Die Straßen in Deutschland werden sogar mit Shampoo gewaschen! Man kann einfach so leben, muss nicht arbeiten! Und erst die Fotos, die die ersten Aussiedler Anfang der 90er Jahre den Briefen in ihre alte Heimat Russland beilegten: Alles blühte! "Wie wenn es in Deutschland immer blühen würde", sagt Lena Schmidt trocken, heute, mit ihren 28 Jahren.

Aber damals, als sie die Fotos sah, war sie ein Teenager und träumte viel. Von anderswo. Denn da, wo sie lebte, schien ihr das Ende der Welt: weit hinter dem Uralgebirge, in der Steppe Sibiriens, an der Grenze zu Kasachstan. Slawgorod heißt das Städtchen. Die Menschen sitzen abends auf den Bänken vor ihren Häusern und plaudern: wie viel Kartoffeln sie geerntet haben, ob die Kühe gesund sind ... Und Lena dachte: Ich will da weg, ich will was Größeres erleben!

Lena war 23, als sie aufbrach, im April 2004. Es war finanziell immer schwieriger geworden in Russland. "Dann gehen wir halt in das Land, wo unsere Vorfahren herkommen", hatte die Mutter gesagt. Und vier ihrer neun erwachsenen Kinder lebten ja schon in Deutschland. Doch dann weinte die Mutter die ganze viertägige Reise hindurch. Schließlich ließ sie ihr ganzes Leben zurück. Das Haus, die Hühner und den Mann auf dem Friedhof. Der war im Sommer davor an Krebs gestorben. Lena war traurig und freute sich zugleich: Endlich würde sie was erleben! Damals wusste sie noch nicht, dass jeder Gewinn auch einen Verlust bedeutet.

Jeder Gewinn bedeutet auch einen Verlust

Es ließ sich vielversprechend an: Je näher sie Westeuropa kamen, umso freundlicher wurden die Menschen. Hatte der weißrussische Grenzbeamte sie noch angeherrscht: "Pässe! In die Augen schauen! ", sagte sein polnischer Kollege entgegenkommend: "Guten Tag, Ihre Ausweise bitte." Wohin Lena in Deutschland auch kam, überall lächelten die Menschen sie an und sagten Hallo. Komisch fand Lena das: "Die kennen mich doch gar nicht! " In Russland ist der öffentliche Mensch grob, sagt sie. Erst wenn man jemanden kenne, schließe man sein Herz auf, dann aber auch gleich wie für einen Verwandten.

Ihr erster Einkauf war ein Witz, sagt sie. Sie wollte eine Rolle Klopapier kaufen, sah aber nur Großpackungen im Regal, dachte: viel zu teuer, riss also eine Packung auf und ging mit der einen Rolle an die Kasse. Entgeistert starrte die Kassiererin auf das nackte Klopapier.

Leere Tage

Schon nicht mehr komisch fand Lena, dass die Nachbarn so oft bei der Mutter klopften und sich beschwerten: Dauernd haben Sie Besuch! Sie reden so laut! Versteht Lena nicht. Das ist doch schön, all die Stimmen, die Geräusche, so lebendig! Ihr ist es zu still in Deutschland. Besonders sonntags. "Da ist in Deutschland alles ausgestorben; in Russland waren alle Geschäfte auf, man hat was unternommen. Hier erholt man sich am Sonntag. Wenn es dann noch regnet, ist es ein grauer, leerer Tag." Und sie hatte doch gehofft, nun im Zentrum der Welt zu sein!

An solch einem "leeren Tag" merkte sie, dass sie die falschen Sachen in die große Sporttasche gepackt hatte: natürlich das Adressbuch mit den guten Wünschen ihrer Freundinnen, einen psychologischen Ratgeber, wie man stärker wird, eines ihrer Lieblingsbücher: "Der Meister und Margarita" von Bulgakow, und sonst nur Kleidung, Kleidung. Die gesteppte Jacke erwies sich als viel zu dick für die "angenehm warmen" deutschen Winter. "Ich hätte lieber die Puppe mitnehmen sollen, mit der ich als Kind gespielt habe." Und die Erzählungen von Anton Tschechow, auf Russisch natürlich.

Holprig war der Anfang in Deutschland. Die Ausbildung zur Deutschlehrerin, die Lena nach der elften Klasse gemacht hatte, wurde nicht anerkannt. Also lernte sie berufsbegleitend Erzieherin. Und war schockiert vom Umgangsstil im Berufskolleg: dass die Studierenden den Lehrer kritisieren! Der ist doch eine Respektsperson! Im ersten Kindergartenpraktikum verlor sie fast die Fassung, als ihr ein Kind auf den Po patschte. Kein russisches Kind würde das wagen! Andererseits, sagt Lena heute, traue man Kindern hier mehr zu; und statt Gedichtelernen und Morgengymnastik sei mehr Zeit für freies Spielen. Das schätzt sie.

"Mehr Möglichkeiten und weniger Freiheit."

Gewinn und Verlust, darüber denkt sie jetzt oft nach. Ein Gewinn die Gewissheit, den Arbeitslohn am Ende des Monats auch tatsächlich ausgezahlt zu bekommen; überhaupt ein Gewinn, dass es so "vernünftig zugeht" in Deutschland; ein Gewinn, dass sie sich nicht mehr zwischen dem Kauf von Heizkohle undWinterstiefeln entscheiden muss; und dass die nächste Stadt nicht eine Tageszugreise entfernt ist. "Man hat mehr Möglichkeiten", fasst Lena zusammen, "und weniger Freiheit."

Doch, für Lena Schmidt sind das zwei verschiedene Dinge. So viel weniger Freiheit als in Sibirien! Eine einzige Ampel gab es in der 34000-Einwohner-Stadt Slawgorod. Sonst nur breite Straßen, sehr breite Straßen - da ist sie geradelt, immer geradeaus. Durch die Kulunda-Steppe, entlang riesiger Felder und Birkenwälder. Frei hat sie sich da gefühlt. "Hier ist alles so eng! Man kann sich nicht austoben, mal laut sein." In Deutschland ist sie noch nie Rad gefahren, aus Angst, wo anzustoßen. Außerdem verirrt sie sich ständig, so schräg, wie die Straßen angelegt sind. Und dann der ganze Papierkram, "immer Briefe! "

So wie sie sich nach Deutschland geträumt hatte, träumt sich Lena nun manchmal nach Sibirien zurück. Da lag sie doch jüngst am Strand auf Mallorca, zusammen mit der gleichaltrigen Nichte Nadja, und plötzlich erinnerten sich die beiden an die Sommer in Sibirien: wie sie sich hinterm Haus gesonnt hatten, auf der kleinen Wiese zwischen Misthaufen und Kartoffelacker; wie sie Johannisbeeren gezupft und gezuckert hatten und mit dem Schälchen in den Ahornbaum geklettert waren; wie ihnen der staubige Steppenwind durch die Haare fuhr und sie verwirbelte.

Erst die Gerüche! Der angenehme von frisch gemolkener Milch; der eklige der toten Hühner, die mit heißem Wasser übergossen wurden, damit man sie besser rupfen konnte; der spezielle nach Schweiß in den immer überfüllten Bussen; das Dampfen im Banja, dem russischen Badehaus aus Holz, wo sie sich samstags neben dem großen Ofen mit Wasser übergoss.

Und die Geräusche: morgens das Krähen der Hähne von überall her; wie sie in ein heimeliges Holzknacken hinein erwacht ist, wenn die Eltern im Winter schon früh den Ofen heizten; das Plaudern von den Bänken vor den Häusern - irgendwer war immer auf der Straße.

"Die Menschen sind auch einfacher. Wenn man ins Kino fahren will, geht man zum Nachbarn und leiht sich sein Auto." Und dann die Gastfreundschaft! "Man wird vollgestopft", seufzt Lena wohlig. Ihr deutscher Freund Marco hingegen sagt: Das heißt doch Teeeinladung und nicht Halbes-Schwein-Aufessen!

Marco übrigens ist der Hauptgewinn. Auf dem Berufskolleg haben sie sich kennengelernt, jetzt wohnen sie zusammen, in Paderborn. Dort arbeitet Marco in einem Heim mit schwer erziehbaren Jugendlichen. Bei aller Liebe, manchmal verstehen sie einander nicht. "Ich kann nicht verstehen", sagt Lena, "dass er so wenig Kontakt zu seinen Eltern hat. Wenn man sich in seiner eigenen Familie nicht wohlfühlt, wo soll man sich dann wohlfühlen?" Und Marco versteht nicht, was ihr die Verwandten bedeuten: "Wieso müssen wir am Wochenende auch noch hinfahren, wo du doch gestern erst lang mit ihnen telefoniert hast! "

Früher war ihr Leben einfacher, meint Lena, und selbstverständlicher. Vielleicht weil es das Leben einer Jugendlichen war? Auch, vielleicht, meint Lena. Aber vor allem, weil es das Leben in Sibirien war und damit ein Leben wie vor Jahrzehnten in Deutschland auf dem Land. Mit wenig Geld, ohne Medien, ortsbeständig, angewiesen auf eine kleine Gemeinschaft, mit nur wenig Wahlmöglichkeiten und damit auch wenig Entscheidungszwängen ...

Terminkalender, ein Wort wie eine Seuche

Nie habe sie sich so verplant gefühlt wie heute, sagt Lena. "Terminkalender!" Sie spricht das Wort aus, wie wenn es der Name einer Seuche wäre. Dabei habe sie in Russland auch schon ganztags gearbeitet. "Und wenn man zu Besuch kommt, muss man vorher immer anrufen! " Selbst ihre eigenen Verwandten in Deutschland. Früher war klar: Der andere ist zu Hause und wühlt im Garten herum.

"Manchmal denke ich, in Deutschland bin ich ein Roboter - ich stehe auf, arbeite, gehe nach Hause ... Ich träume auch nicht wie früher. Früher hab ich mir alles Mögliche vorgestellt, ich wusste ja nichts. Früher hatte ich alles noch vor mir. Jetzt bin ich hier."

Und Deutschland ist nicht das Paradies, wo man - einfach so - glücklich ist. Deutschland stellt Anforderungen, findet Lena, vor allem im Beruf. Kritikfähig zum Beispiel muss man sein. Das zu lernen, fiel ihr besonders schwer. "In Russland wird über vieles geschwiegen - ob auf der Arbeit oder in der Politik." So wunderte sie sich sehr, als sie sich zu Anfang einmal wöchentlich mit anderen Ein-Euro-Jobbern zur Besprechung traf: "Die meckerten nur! " Über Kleinigkeiten!

Heute sagt sie: Kleinigkeiten können sich sammeln und bekommen dann Gewicht. Wenn man zu allem schweigt und sich zurückzieht, wird man leicht missverstanden. In einem ihrer Praktika legte man am Ende alles gegen sie aus. Das nagt an ihr, auch wenn sie ihre Ausbildung mit einem prima Zeugnis abschloss, in dem ihr bescheinigt wird, einfühlsam zu sein, offen und kritikfähig. Etwas anzusprechen, das war was vom Schwersten. "Fröhlicher war ich in Russland."

Zurückgehen geht nicht mehr

Sie könnte ja zurückgehen. "Nein", sagt Lena, "das geht nicht mehr." Deutschland ist ihr noch keine Heimat, aber Russland ist ihr auch schon ein bisschen fremd geworden. "Ich habe mich wohl zu schnell verändert."

Vergangenes Jahr war sie erstmals wieder dort und wunderte sich ein ums andere Mal: Waren die Straßen schon immer so breit gewesen? Und wieso ließ die Freundin nicht locker und verlangte ein Treffen jetzt gleich, wo Lena sich doch für jetzt was anderes vorgenommen hatte? Konnte die Freundin sich nicht anmelden? Und wie zuckte sie im Moskauer Flughafen zusammen, als sie am Infoschalter nachfragte, wann denn nun der stundenlang verspätete Anschlussflug zu erwarten sei, und die Dame ihr barsch beschied: "Keine Ahnung, Sie müssen eben warten! " eide Länder sind ihr ein wenig schal geworden. Der Reiz ist weg, das Versprechen. Jüngst kamen ihre beiden älteren Brüder auf Besuch nach Deutschland. Die waren recht unbeeindruckt. Kühl verglichen sie: Ja, gut, es ist sauber hier und grün, alles auf hohem Niveau, und für die Ausbildung der Kinder wäre Deutschland sicher besser - aber in Russland sind wir auch glücklich. Außerdem regnet es in Deutschland immer nur, wir wollen nach Hause.

Lena bleibt hier. Gerade hat sie ihre erste Stelle angetreten als Erzieherin im Hort einer Ganztagsschule, eine Teilzeitarbeit; und wochenends betreut sie behinderte Menschen in einem Heim. Etwas zusammengestoppelt, aber das passt schon für den Berufseinstieg. Und die Arbeit macht ihr viel Freude. Dann sagt sie einen ihrer altersweisen Sätze: "Ich weiß, dass es nirgendwo ein perfektes Leben gibt. Man darf nicht denken: Wenn ich nur woanders wäre, wenn ich nur woanders arbeiten würde, dann wäre ich glücklich. Man muss auch an sich selbst arbeiten." Aber in Paderborn, da werde sie sicher auch nicht ihr Leben lang bleiben.

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