Seid verschwenderisch! Mit der Liebe zum Beispiel. Sie wächst wenn man sie schenkt. Aber auch mit Geld. Verschwendung ist schön!
Tim Wegner
07.10.2010

Das kleine rote Vokabelheft, es liegt noch in meinem Mädchenzimmer in der obersten Nachttischschublade. "Konfirmation Ursula" steht drauf. In dem Heft, links vom Vokabelstrich, stehen Namen. Meier , Wagner, Moll. Rechts stehen Geschenke. Hanni-Nanni-Band 2, Beatles-Songbook, Armband rot. Und ganz am Rand stehen Preise. Selten geschätzte, meist exakt recherchierte, notfalls im Laden nachgefragte Preise: DM 6,99 steht da oder DM 11,20 - im Jahr 1976 gab es zumindest in Oberschwaben noch keine Luxusgeschenke.

Die Gabenbuchhaltung

Mein Vater managte die Gabenbuchhaltung, und er war perfekt: Kam das Kind der Meiers zur Konfirmation, der kleine Wagner zur Kommunion oder die Tochter der Molls in die Schule - wir wussten, wie viel wir ausgeben mussten. Manchmal lagen ja Jahre zwischen der Einnahme und der Ausgabe. Wie sonst hätte man sich die Größenordnung merken sollen?

Aber ich weiß noch, dass ich schon als Kind diese Kleinkrämerei hasste. Wen lädst du zum Geburtstag ein, wirst du da auch mal eingeladen? Ich fahre heute Abend die Silvia nach Hause, aber deren Vater könnte ja auch mal fahren. Nur einmal, da war es anders: Nach einem Kindergeburtstag meiner großen Schwester kam mein Vater überraschend mit einem Omnibus angefahren. Mit einem echten Bus, denn er hatte als junger Mann den Busführerschein gemacht, war aber später in einem Bürojob gelandet. Jetzt stiegen zehn kreischende Mädchen in diesen alten Bus, jede wurde mit großem Tamtam bis vor die Haustür gefahren. Und endlich, endlich fragten wir uns nicht, ob wir diese Investition jemals zurückkriegen - wer außer meinem Papa hatte schon einen Busführerschein? So glücklich sind wir nie wieder nach einem Kindergeburtstag eingeschlafen.

Warum sind wir nicht öfter großzügig, verschwenderisch?

Also, geht doch. Warum bloß sind wir nicht öfter so? Großzügig? Verschwenderisch? Ohne was zurückzukriegen? Dabei ist das Image von Großzügigkeit, Verschwendung und Unvernunft fabelhaft. Allein das weibliche Buchregal strotzt vor Titeln wie "Lebe wild und unersättlich! " oder "Ich will alles! ". In Umfragen hält sich jeder zweite Deutsche für großzügig. Und sitzt dann doch, mit dem wilden Taschenbuch aus der Reihe "Freche Frauen" in der Handtasche, beim Abendessen im Restaurant und zählt kreuzbrav die Kalorien. Oder, noch schlimmer, schwärmt den halben Abend von diesem wirklich unschlagbar billigen Flug nach Venedig für 9,99. Wie öde.

Fest steht: Mit Geiz und Sparsamkeit hätte sich die Menschheit nicht wirklich weiterentwickelt. Sowohl die Wirtschaft als auch die Biologie lassen sich als eine Geschichte der Verschwendung erzählen.

Die Wirtschaft? Wird die nicht dominiert von den Schleckers, die bis heute ihren Kassiererinnen kein Telefon in den Laden stellen? Von den Kurierdiensten, die ihre Fahrer bis auf den halben Kilometer genau überwachen? Von den Dagobert Ducks, die jeden Bleistift von vorne und von hinten spitzen? Nein, sagt der Wirtschaftsjournalist Wolf Lotter in seinem Buch "Verschwendung". Von der Antike bis in die Neuzeit war Verschwendung - als Gegenteil von Geiz - ein wünschenswerter Wesenszug. Geiz galt schon dem Apostel Paulus als "Wurzel allen Übels", der Kirchenvater Augustinus hielt ihn gar für den "Wahnsinn der Seele". Wer hatte, sollte mit vollen Händen daraus schöpfen. In allen Kulturen feierten Menschen rauschende Feste, auf die sich der ganze Wirtschaftskreislauf ausrichtete. Am üppigsten übrigens die Indianer, die bei ihren Potlatch-Gelagen mitunter ihr gesamtes Wirtschaftsvermögen verschenkten.

Der Kapitalismus braucht Verschwendung

Aber auch der Kapitalismus, sagt Lotter, braucht Verschwendung. Salopp gesagt: Nur wer Geld in Dinge investiert, die auf den ersten Blick sinnlos sind, ermöglicht Innovation. Und: Auch Geld, das man zum Fenster rausschmeißt, kommt irgendwo an.

Übrigens verschwenden wir jeden Tag Geld, zum Glück ohne weiter drüber nachzudenken: Als eingefleischte Autofahrer finanzieren wir die Bahn, als Kinderlose die Schulen, als Kulturbanausen die Museen. Pure Verschwendung für jeden Einzelnen, Bereicherung für die Gesellschaft.

Ich wohne zum Beispiel in einem Mehrfamilienhaus mit 15 Parteien. Wir finanzieren alle zusammen einen Aufzug, der teuer und störanfällig ist. Auch die Bewohner des Erdgeschosses müssen per Umlage mitbezahlen, Aufzüge sind "Gemeinschaftseigentum", so heißt das im Immobiliendeutsch. Neulich feierte die Bewohnerin des Dachgeschosses eine große Party. Zum ersten Mal fuhr das Paar aus dem Parterre mit dem Aufzug - und blieb prompt stecken. Sie hätten jetzt sagen können: "So eine Schweinerei, seit zehn Jahren bezahlen wir für diesen Aufzug, und wenn wir ihn einmal brauchen, bleibt er stecken! " Für die Partystimmung wär das blöd gewesen. Die beiden aber blieben ganz cool. "Fahrt ihr mal schön mit eurem nervigen Aufzug", sagten sie, "was sind wir froh, dass wir Parterre wohnen."

Immer, wo diese Gelassenheit abhandenkommt, sinkt eindeutig die Stimmung. Zum Beispiel bei der gesetzlichen Krankenversicherung. Eine geniale Erfindung von Herrn Bismarck, ein Exportschlager made in Germany. 120 Jahre lang war es völlig normal, dass für die meisten Deutschen ein Großteil der Beiträge pure Verschwendung war - weil sie keinen Krebs und keinen Herzinfarkt kriegten. Erst neuerdings wollen die Leute wissen: Was habe ich einbezahlt? Was krieg ich raus? Die ehemalige Verfassungsrichterin Renate Jäger: "Wer nicht krank wird, ist nicht etwa froh. Sondern will seine Beiträge wieder."

Kann man machen als Paar. Oder gleich eine Aktiengesellschaft gründen.

Was krieg ich denn dafür? Vielleicht kann das bitte mal einer zum Unsatz des Jahres erklären? Er ist hässlich, er ist kalt und er ist gänzlich unerotisch. Ja, ganz recht: Nichts macht zum Beispiel die Liebe mehr kaputt als dieser Satz. Warum soll ich heute einkaufen, du hast den Supermarkt ewig nicht von innen gesehen. Ach, deine Mutter kommt an Heiligabend, aber meine Schwester musste letztes Jahr alleine feiern. Ich soll dich zur Arbeit fahren - und was krieg ich dafür? Ja, kann man machen als Paar. Dann kann man aber auch gleich eine Aktiengesellschaft gründen.

Liebe, das gehört zum Inventar jedes Paartherapeuten, ist ein Gut, das mehr wird, wenn man es verschwendet. Gute Männer sagen einem ohne Not, dass man umwerfend aussieht. Gehen mit den Kindern auch ein drittes Mal ins Spaßbad, weil man einfach einen freien Sonntagnachmittag braucht. Fahren 200 Kilometer durch die Gegend, um einem das Lieblingskopfkissen hinterherzutragen, ohne das man nicht einschlafen kann. Totale Verschwendung für Außenstehende. Man nennt es auch Liebe.

Der amerikanische Scheidungsforscher John Gottman hat dafür eine Formel erfunden, den "Dow Jones Index der Liebe". Kurz gesagt: Du musst mehr geben, als du kriegst. Fünfmal so viele "positive Interventionen" wie negative. Fünfmal so viel Lob , Wertschätzung, Hilfe, Komplimente - das tauschen erfolgreiche Paare miteinander aus.

Um dieser Großzügigkeit auf die Sprünge zu helfen, setzt unser Großhirn ein Hormon frei, sagt die moderne Biologie: Oxytocin. Es ist das "Bindungshormon", das bei zwei Anlässen ins Blut schießt: Beim Sex. Und beim Stillen eines Babys. Jetzt haben Forscher der kalifornischen Claremont-Graduate-Universität das Hormon Oxytocin per Nasenspray an erwachsene Testpersonen verabreicht und sie danach einem Versuch unterzogen: Sie bekamen einen Geldbetrag und sollten den nach Belieben mit einem unbekannten Partner teilen. Die Hormongruppe zeigte sich durchweg spendabler als die Placebogruppe, die nur Salzwasser in die Nase gesprüht bekam. Fazit: Oxytocin macht großzügig.

Sex geht gar nicht ohne Verschwendung

Was lehrt uns das? Erstens, dass es in Amerika merkwürdige Versuchsanordnungen gibt. Zweitens, dass jetzt wenigstens auch wissenschaftlich bewiesen ist: Sex geht gar nicht ohne Verschwendung. Es soll ja Paare geben, die selbst ihre Orgasmen gegeneinander aufrechnen. Ob sie dafür auch ein Vokabelheft haben? Fest steht jedenfalls: Wer jemals mit einer Affäre heimlich nach Paris gereist ist und auf der Rückfahrt am Gare du Nord mühsam jeden Café au lait auseinanderdividieren musste, weiß: Nichts killt die Libido brutaler als Geiz und Kleinkrämerei.

Ach, die Libido, die ist sowieso der reinste Luxus. Zumindest die weibliche. Der männliche Orgasmus, logo, sichert die Fortpflanzung, immerhin mit der verschwenderischen Menge von bis zu 400 Millionen Samenzellen pro Ejakulation. Der weibliche Orgasmus hingegen - die pure Verschwendung, sagt die Wissenschaft. Alle Theorien, ihm einen Nutzen nachzuweisen, schlugen bislang fehl. Frauen, die Spaß am Sex haben, sind weder besonders fruchtbar. Noch besonders treu. Und sie haben auch nicht häufiger Sex als andere - was ja evolutionär Sinn machen würde.

Das ist schwer zu akzeptieren für einen Biologen. Dann sei das mit der weiblichen Lust wohl, so musste der Evolutionsbiologe Stephen J. Gould nach vielen Jahren Forschung einsehen, der pure Luxus. L'art pour l'art. Wie schön.

Und da wären wir dann doch noch mal beim Oxytocin: Nicht zufällig sind auch stillende Mütter voll mit der körpereigenen Droge. Vielleicht damit ihnen gleich von Anfang an klar wird, dass das Leben mit Kindern eine zutiefst verschwenderische Angelegenheit ist. Die sich gar nicht immer "lohnt" und bei der man leider auch nicht "immer was zurückkriegt". Das kann man gar nicht oft genug sagen in Zeiten, in denen so getan wird, als sei die Zeit, die man mit Kindern verbringt, eine Art Konto, von dem man später wieder abheben kann. "Quality time", wie es neudeutsch heißt.

"Wir müssen jetzt in die Bildung unserer Kinder investieren, damit sie uns morgen ernähren können", sagte unlängst der ansonsten grundgute Jürgen Rüttgers in einer Fernsehtalkrunde.

Nein, Herr Rüttgers, wir müssen jetzt in sie investieren, weil es sie gibt und weil sie ein Menschenrecht auf Liebe, Zeit und Bildung haben. Wenn sie morgen Schulversager werden oder übermorgen vom Auto überfahren - dann haben wir trotzdem alles richtig gemacht. Auch wenn wir gar nichts zurückkriegen. Weil Erziehung nämlich, neuer Kandidat für das Unwort des Jahres, gar kein "Kerngeschäft" von Familien ist. Wenn es ein Geschäft wäre, dann würde man tatsächlich auf die Rendite spekulieren.

"Nichts zum Schlauerwerden."

Meine Kinder haben unlängst auf ihren Weihnachtswunschzettel ausdrücklich geschrieben: "Nichts zum Schlauerwerden." Sie wollten lieber mal etwas pädagogisch Wertloses. Und ich konnte es sogar verstehen: Ich habe sie offenbar mit hinreichend vielen "Was ist was?"- und "Willi wills wissen"-Büchern beglückt all die Jahre. War auch gut so - es darf jetzt bloß keiner kommen und fragen: "Und? Weißt du was? Hast du was gelernt?"

Denn selbst Musik-CDs für Kinder werden heute nicht mehr verkauft, ohne im Beipackzettel einen renommierten Hirnforscher zu zitieren, der attestiert, dass Musik die Intelligenz, das räumliche Vorstellungsvermögen und womöglich auch noch die mathematische Begabung befördert. Und wenn sie das nicht täte? Die pure Verschwendung?

Ach, dann wäre sie immer noch - einfach schön.

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