Tim Wegner
07.10.2010

Ich bin immer nur zu Hause gesessen. Immer allein. Wir bekommen leider keine Kinder. Das ist sehr schwer. Und am Wochenende ist mein Mann immer ohne mich mit dem Fahrrad weggefahren. Er liebt das Radfahren. Er sagte: "Ich geh dann." Ich war so traurig. Nach vier Stunden kam er wieder. Dann erzählte eine Freundin, dass es im Stadtteilzentrum Plankontor einen Fahrradkurs für Migrantinnen geben wird. Da muss ich hin!

Aber ich habe mir gesagt: Ich schaff das!

Erst sind wir mit einem Erwachsenenroller gefahren. Ich hatte Angst, solche Angst. Ich bin runtergefallen, weil ich das Gleichgewicht nicht halten konnte. Dann auch noch mal vom Fahrrad. Ich hatte überall blaue Flecken. Wir mussten so schwierige Sachen machen wie im Kreis fahren und um Hütchen herum. Aber ich habe mir gesagt: Ich schaff das, ich schwör's, ich schaff das! Ich wollte es unbedingt lernen.

Ich bin ja leider nur fünf Jahre in die Schule gegangen, in Sivas, das ist eine Stadt in Anatolien. Mein Vater war Straßenbauarbeiter. Meine Mutter ist immer krank gewesen. Ich wäre so gerne weiter zur Schule gegangen, aber als ich elf war, sagte mein Vater: "Hilf deiner Mutter! " Heute würde ich widersprechen. Meine Geschwister durften alle weiter zur Schule. Mein großer Bruder ist Polizist geworden, meine kleine Schwester Lehrerin.

Dann hat mich ein junger Mann aus der Verwandtschaft gesehen und über die Eltern um meine Hand angehalten. Er lebte in Deutschland. Wir heirateten, 1989 war das, da war ich 18. Ich ging mit ihm nach Braunschweig. Es ist eine große Liebe. Aber das erste Jahr habe ich nur geweint, weil ich meine Familie so vermisste. Ich kann sie nur alle zwei Jahre besuchen. Einen Sprachkurs habe ich erst nach neun Jahren gemacht. Wer heute nach Deutschland kommt, hat es besser.

Ich kannte nur den Weg in die Innenstadt und den zu meiner besten Freundin

Die ganzen Jahre kannte ich von Braunschweig nur den Weg in die Innenstadt und den Weg zu meiner besten Freundin. Aber jetzt hat uns Yesim, die Kursleiterin, Braunschweig gezeigt. Da gibt's sogar ein Schloss! Zum Abschluss sind wir zu einer Erdbeerplantage gefahren. Das war sehr, sehr weit. Bestimmt eine Stunde hin und eine Stunde zurück. Aber wir wollten es unbedingt schaffen. Und das hat so einen Spaß gemacht, mitten im Feld zu sitzen und Erdbeeren zu essen. Braunschweig ist eine schöne Stadt. Ja, meine Stadt ist schön. Im Türkischen sagt man: Nicht wo du geboren bist, ist deine Heimat, sondern wo du satt wirst.

Meinem Mann habe ich erst nichts von dem Fahrradkurs gesagt. Dann habe ich ihm das Zertifikat gezeigt. Er kann nicht so gut zeigen, wenn er was gut findet. Aber er war schon stolz. Und er hat mir ein Fahrrad gekauft. Meine Schwiegermutter sagte: "Was willst du denn damit, in deinem Alter! " Aber mein Schwiegervater sagte: "Sehr gut."

Ich bin so glücklich, jetzt muss ich nicht mehr zu Hause sitzen

Ich bin so glücklich. Jetzt muss ich nicht mehr zu Hause sitzen, wenn die Sonne scheint. Ich fahre mit dem Rad zum Kleingarten meiner Freundin oder mit Freundinnen an den Südsee. Und am Wochenende packe ich ein Picknick ein und fahre mit meinem Mann los. Er fährt hinter mir und passt auf mich auf.

Mit der rechten Hand kann ich gut die Richtung anzeigen, mit der linken nur, wenn ich langsam fahre. Vor Autos habe ich Angst. Am liebsten fahre ich auf Radwegen, da bin ich auch mal richtig schnell. Am schönsten finde ich, dass ich was sehe. Und dass ich nicht auf den Bus warten muss, das ist so langweilig!

Jetzt spare ich für den Führerschein

Eigentlich hat alles mit dem Fahrrad angefangen: Ich habe jetzt viele Freundinnen, nicht nur türkische. Und ich habe dadurch das Mütterzentrum kennengelernt. Da gebe ich einen türkischen Kochkurs. Und einmal in der Woche koche ich dort Mittagessen. Zum Beispiel gefüllte Auberginen und Reis mit Sultaninen und Mandeln. 4,15 Euro die Stunde bekomme ich dafür.

Jetzt spare ich für den Führerschein. Mein Mann sagt dazu: "Ja, ja." Aber meine beste Freundin, die schon den Führerschein hat, die sagt: "Du schaffst das! " Und ich, ich sage zu meinen anderen Freundinnen: "Lernt Fahrrad fahren! "

Protokoll: Christine Holch

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