Dirk von Nayhauß
07.10.2010

Was können Erwachsene von Kindern lernen?

Meine zweieinhalbjährige Tochter teilt gern. Wenn Zoe ein Überraschungsei bekommt, isst sie nur die eine Hälfte, die andere bewahrt sie für ihre Cousine, ihre Tante oder mich auf. Ich bin eher eine strenge Mutter, aber durch Zoe bin ich viel weicher geworden. Ich nehme viel Rücksicht auf sie, ich möchte sie nicht übergehen. Wenn sie mit ihren großen Augen vor mir steht und sagt: "Mama, bitte, bitte, komm spielen" ­ dann kann ich nicht widerstehen.

Muss ich den Tod fürchten?

Eigentlich nicht. Mit 21 habe ich in einer Beratungsstelle für türkische Frauen in Berlin gearbeitet und wurde dort zufällig Opfer eines Attentats. Vermutlich war es ein türkischer Rechtsextremist, der auf mich schoss. Die Kugel traf mich im Hals. Plötzlich fühlte ich mich glücklich und geborgen. Ich saß wie auf einem Thron und bin hochgeschwebt. Ich sah mich am Boden liegen, alles war klar und einfach. Ich spürte eine Macht, die mir die Entscheidung überließ, ob ich bleibe oder gehe. Ich dachte: "Ich bin noch nicht fertig mit dieser Erde, ich will leben!" Seither fürchte ich den Tod nicht mehr. Ich bin mir sicher, dass uns ein Leben nach dem Tod erwartet. Ich fürchte eher das ungelebte Leben, die vertanen Chancen. Dass ich meine Tochter nicht groß werden sehe.

Hat das Leben einen Sinn?

Jeder Mensch hat seine Aufgabe. Meine war und ist es, Frauen zu helfen, ihren eigenen Weg zu gehen. Das habe ich vor allem als Rechtsanwältin getan, aber diese Arbeit ist gefährlich. Im letzten Jahr wurde ein Mann handgreiflich, dessen Frau ich bei der Scheidung vertrat. Immer wieder schlug er seine Frau ins Gesicht, niemand half. Nach diesem Erlebnis auf dem U-Bahnhof bekam ich Angstzustände. Ich hatte schon häufiger Morddrohungen bekommen, aber jetzt ging es nicht mehr. Plötzlich sah ich in allem keinen Sinn mehr. Im August gab ich meine Zulassung als Rechtsanwältin ab, es war eine schreckliche Zeit. Ich hatte furchtbare Angst, dass meiner Tochter und mir etwas passieren könnte. Natürlich fehlt mir heute die Arbeit als Anwältin, da gehöre ich hin, darin sehe ich den Sinn meines Lebens. Doch ich könnte erst dann wieder Mandantinnen vertreten, wenn ich einen geschützteren Rahmen gefunden habe ­ sei es in einer größeren Kanzlei oder in einer Institution. Gegenwärtig arbeite ich an einem Buch mit dem Titel "Der Multikulti-Irrtum". Es geht um Integrationspolitik und die ganzen Bereiche, mit denen ich mich beschäftige: Zwangsheirat, Ehrenmorde, häusliche Gewalt.

An welchen Gott glauben Sie?

Ich will Gott keinen Namen geben und einer einzigen Religion zusprechen. Ich glaube eher an etwas Größeres, das mir die Kraft und Stärke gibt, positiv zu denken: Trotz all dieser grausamen Themen, mit denen ich zu tun habe, bin ich eine unverbesserliche Optimistin geblieben. Und ich habe in unterschiedlichen Religionen Werte gefunden, die zu meinem Denken passen. Die Zehn Gebote haben mich genauso geprägt wie meine islamische Erziehung. "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" hatte ich als Teenager auf meinen Spiegel geschrieben. Und das war letztlich das, was mich mein Vater gelehrt hat: "Egal, wie schlecht der andere ist, beschämt ihn mit eurer Güte und eurer Hilfe." Aber auch dem Judentum fühle ich mich sehr verbunden. Und der Buddhismus beruhigt mich.

In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?

Wenn ich mich frei fühle. Wenn ich mir erlaube, allein spazieren zu gehen und keine Angst zu haben. Die Angst hat mich seit dem Attentat nie verlassen, unterschwellig ist sie immer da. Wenn ich spüre, dass mich jemand erkennt, habe ich Angst, dass er ausflippen könnte. Vor einigen Tagen hatte ich ein schönes Erlebnis, als mich zwei türkische Männer angesprochen haben und mir sagten: "Machen Sie prima, machen Sie weiter so." Aber wenn mich die Netten erkennen, erkennen mich auch die Bösen.

Welche Liebe macht Sie glücklich?

Zurzeit die Mutterliebe. Wenn Zoe mich umarmt und sagt: "Mama, ich habe dich ganz doll lieb", geht mir das Herz über. Diese Liebe ist viel größer, als ich es erwartet hatte. Meine Tochter ist sicher ein Karriereknick, wie es so furchtbar heißt, aber das ist mir egal. Ich glaube daran, dass ich auch eine Karriere mit ihr zusammen machen kann, eine andere, als wenn ich allein wäre.

Welchen Traum möchten Sie sich noch unbedingt erfüllen?

Ich wünsche mir ein angstfreieres Leben, dass ich wieder meinen Namen an die Wohnungstür hängen kann.

 

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