Es ist so schwer, sich festzulegen. Auf diese Frau, auf diesen Mann, auf dieses Kleid, auf diese Art zu leben. Leichter ist es, Entscheidungen zu vermeiden, zu verschieben und zu befristen ­ bis mir morgen etwas Besseres einfällt. Und doch gibt es Menschen, die sich für immer binden. Sechs Entschlüsse, die durch ein ganzes Leben tragen
07.10.2010

Sönke Böhmermann

"Mein Herz schlägt nun mal für den FC St. Pauli"

Natürlich sind 1910 Euro eine Menge Geld, zumal ich kurz zuvor gerade umgezogen war. Meine Eltern haben mich für verrückt erklärt, als ich mir die lebenslange Dauerkarte geholt habe, die es vor zwei Jahren für kurze Zeit gab. Aber schließlich bin ich jetzt schon seit mehr als zehn Jahren St.-Pauli-Fan. Seit ich als 15-Jähriger zum ersten Mal im Millerntor-Stadion war, habe ich kaum ein Heimspiel verpasst.

Klar, die vergangenen Jahre waren hart, zweimal abgestiegen und immer vom Konkurs bedroht. Große Erfolge darf man als St.-Pauli-Fan eben nicht erwarten. Woanders gibt es sicherlich schönere Stadien und besseren Fußball, aber mein Herz schlägt nun mal für den FC St. Pauli. Bei Auswärtsspielen ist man manchmal über 20 Stunden unterwegs, nur um zu sehen, wie der Verein ein 0:3 kassiert. Doch das gehört dazu. Wer immer nur gewinnen will, muss eben Bayern-Fan werden. Dafür können sich Pauli-Fans über Siege noch richtig freuen. Als wir einmal die Bayern geschlagen haben, hat danach die ganze Reeperbahn die Nacht durchgefeiert. Genau wie im Mai, als klar war, dass wir in die 2. Bundesliga aufsteigen.

Zu den Heimspielen gehe ich immer mit einer festen Clique. Im Stadion haben wir dann unseren Stammplatz und treffen andere Fans. Das Schöne ist die Atmosphäre und das Gemeinschaftsgefühl. Fans und Mannschaft, für mich gehört das zusammen. Viele Pauli-Spieler haben auch eine starke emotionale Bindung an den Verein und engagieren sich für den Stadtteil oder für ein Kindergartenprojekt auf Kuba, wo der Verein mal im Trainingslager war. Daran sieht man, dass die Spieler keine reine Söldnertruppe sind. Das gefällt mir.

Irgendeiner hat mal ausgerechnet, dass sich die lebenslängliche Dauerkarte rentiert, wenn man über achteinhalb Jahre zu jedem Heimspiel geht. Aber solche Rechnereien spielen für mich keine Rolle. Ein Leben ohne Fußball kann ich mir eh nicht vorstellen. Vielleicht wird die Liebe zum Verein irgendwann mal schwächer werden, aber ein St.-Pauli-Fan werde ich mein ganzes Leben bleiben.

 

Christina Kuhlmann

"Klar gibt es Zweifel und Anfechtungen, aber ich weiß, wo ich hingehöre"

Ja, es nervt, wenn mir ein Kind auf der Straße "Pinguin" hinterherruft. Ansonsten gilt: Kommt, fragt mich aus, egal, wenn ich nachher 3000 Löcher im Bauch habe. Die Kinder machen das, das erlebe ich oft auf den Freizeiten, die ich organisiere. "Warum hast du so einen komischen Hut auf?" Ich sage: "Das ist kein Hut, sondern eine Haube. Das ist das Zeichen, dass ich mein ganzes Leben Gott widme." Kinder verstehen leichter als viele Erwachsene: Okay, die gehört zu Gott.

Viele Menschen denken ja, das Leben hier sei unfrei, aber das Gegenteil stimmt: Die Schwesternschaft bietet ein Dach überm Kopf, Kost, Kleidung, Versicherungen, Fuhrpark. Für Privates reicht mein Taschengeld. Wie viel das ist, verrate ich nicht! Ansonsten gehen wir alle unseren Berufen nach, etwa Bilanzbuchhalterin, Krankenschwester, Köchin oder Pfarrerin.

Wo sonst wäre ich freier, Gott zu dienen? Das Ding ist einfach, dass ich Gott gefragt habe: Wo willst du mich hinhaben? Seit ich zehn war, wollte ich Diakonisse werden. Aber der Wunsch reicht nicht, es muss die Berufung dazukommen. Ich hatte sie mit 18, auf einer Jugendfreizeit. Mir ging ständig dieser Liedvers durch den Kopf: "Was könnte Gott aus deinem Leben machen, wenn du ihn nur Herr sein ließest ganz und gar?" Wir Teilnehmer saßen in diesem Tagungsraum, der Prediger fragte in die Runde: "Wärt ihr dazu bereit, euer Leben ganz Gott zu schenken?" Ich merkte: Gott meint mich ganz persönlich. Es hätte mich fast vom Hocker gerissen.

Was nicht heißen soll, dass mir Zweifel fremd wären. Ich hatte mal eine Phase, in der sie sogar ganz elementar waren. Gott hält es aus, dass ich an seiner Nähe zweifle und daran, dass er es tatsächlich gut meint.

Die Entscheidung für ein Leben in der Schwesternschaft heißt, auf andere Möglichkeiten zu verzichten. Aber ich habe eigentlich eine gegengeschlechtliche Beziehung nie vermisst. Gleichzeitig bin auch ich ein Mensch aus Fleisch und Blut und habe natürliche Empfindungen.

Einmal stieg ein junger Mann in den Zug ­ jung, Marineuniform, dunkle Haare, blaue Augen. Boahh! Ich dachte: Ich habe solche Empfindungen, aber ich weiß, wo ich hingehöre. Es wäre fatal, wenn diese Gefühle nicht sein dürften. Falsch wäre es auch zu denken: Wenn du diese Anfechtung hast, bist du fehl am Platz als Diakonisse. Gott hat mich nicht vom Normalmenschlichen getrennt. Er hat mich, so wie ich bin, berufen.

 

Hannah Ebers*

"Wir bleiben immer Eltern ­ auch wenn wir uns getrennt haben"

Wenn unsere Kinder Antje und Felix nicht wären, hätten wir uns schon viel früher getrennt. Tief drin aber dachte ich: Wir haben die Kinder in die Welt gesetzt, sie haben nicht darum gebeten, auf die Welt zu kommen. Jetzt müsste unser Egoismus eben zurückstehen, denn die Kinder sollten mit beiden Eltern aufwachsen. Günther und ich tragen schließlich die Verantwortung für sie.

Die Verantwortung tragen wir nach wie vor. Nur eben nicht mehr gemeinsam. Wir haben uns getrennt, nachdem wir uns schon viele Jahre lang auseinandergelebt hatten.

Felix war 16, mitten in der Pubertät. Er ist kein Mann vieler Worte. Wir saßen am Küchentisch, als ich es ihm erzählt habe. Er hat den Kopf schief gehalten, die Stirn gerunzelt, ist erst mal sitzen geblieben und hat es langsam einsickern lassen. Antje war damals 18 und hat so was gesagt wie: "Endlich, das war ja nicht mehr mit anzusehen." Wir hatten gehofft, dass die Kinder damals alt genug sein würden, um die Trennung zu verkraften. Aber wahrscheinlich gibt es so was wie einen richtigen Zeitpunkt gar nicht ­ man macht es immer falsch.

Wären die Kinder nicht, hätten wir uns vielleicht schon aus den Augen verloren. Günther und ich haben auch jetzt kaum Gesprächsthemen, abgesehen von dem ein oder anderen fachlichen Rat, quasi unter Kollegen, denn wir arbeiten beide als Gitarrenlehrer.

Wir lassen die Kinder die Trennung mitgestalten. Klingt komisch, oder? Also ich meine zum Beispiel, dass Felix seinen Vater bei der Suche nach einer neuen Wohnung begleitet hat. Auch Felix sollte sich dort wohlfühlen. Jetzt wohnt Günther nur etwa 100 Meter von uns entfernt, die Kinder können jederzeit zu ihm rübergehen. Eine Weile lang hat Felix regelmäßig dort übernachtet. Wenigstens blieb es ihnen so erspart, sich für Vater oder Mutter zu entscheiden.

Anderes Beispiel: Antje hatte sich für Weihnachten letztes Jahr gewünscht, dass wir alle miteinander feiern, wie früher. Günther und ich wären wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen. So aber war's echt schön: Günther hatte extra einen Christbaum gekauft und zusammen mit Felix Gänsebrust und Semmelknödel gekocht, Antje und ich sind nach dem Gottesdienst dazugestoßen. Günther und ich hatten uns wegen Geschenken abgesprochen: "Keine Angst, ich schenk dir nichts!", sagte er, da mussten wir lachen. Überhaupt verbindet uns der Humor noch immer. Als Günther und ich mitten in der Trennungsphase waren und es hoch herging, sagte er: "Entschuldige, das ist meine erste Trennung, ich übe noch!" Jetzt, knapp drei Jahre später, denke ich: Wir üben noch immer, irgendwie. Viele Leute meinen ja, eine Trennung würde eine Beziehung beenden. Aber sie verändert sie bloß.

 

Isabel Haase

"Mal sehen, ob mir die Tattoos noch gefallen, wenn ich siebzig bin!"

Das erste Tattoo war eine spontane Idee, entstanden im Gespräch mit meiner besten Freundin Farina. Wir finden beide Tätowierungen toll und haben dann gemeinsam ein Motiv entworfen, das uns gefällt. Noch am gleichen Tag sind wir los und haben uns dieses Motiv auf den Rücken tätowieren lassen, beide, als Zeichen unserer Freundschaft, aber auch weil wir es hübsch finden.

Ich war damals erst siebzehn und vielleicht noch nicht reif genug für ein Tattoo, aber es ist passiert und ich stehe dazu. Die Tätowierung ist ein Teil von mir, genau wie die Freundschaft zu Farina: Wir kennen uns seit der ersten Klasse und haben früher im selben Haus gewohnt. Als Kinder haben wir miteinander gespielt, später an der gleichen Schule Abitur gemacht. Klar, manchmal haben wir auch gestritten, aber ein Bruch war da nie.

Seit wir in unterschiedlichen Städten wohnen, sehen wir uns seltener, aber denken viel aneinander. Und auch wenn wir nicht ständig telefonieren, bin ich mir sicher, ich kann jederzeit anrufen. Farina gehört zu meinem Leben, und das wird immer so bleiben. Unser gemeinsames Tattoo ist das Symbol für diese besondere Bindung.

Die beiden anderen Tattoos habe ich mir machen lassen, nachdem ich volljährig war. Ich hatte einfach Lust, noch mehr auf dem Rücken zu haben, und fand die Motive schön. Zudem haben alle drei Tattoos etwas sehr Individuelles, sie sind etwas, was nicht jeder hat.

Es ist für mich aber schon wichtig, dass die Tattoos an einer Stelle sind, die meistens durch Kleidung verdeckt wird. Ich will nicht provozieren oder auffallen, sondern mag einfach diese Form von Körperschmuck. Da ist der Rücken ­ den man zeigen kann, aber nicht zeigen muss ­ der optimale Platz.

Negative Reaktionen habe ich aber noch nicht erlebt, im Gegenteil: Die meisten sind sehr interessiert und erkundigen sich nach der Bedeutung meiner Motive. Meinem Freund würde ich wohl ohne Tätowierungen besser gefallen, aber ein Problem ist es für ihn nicht. Wer mit mir befreundet sein will, der muss die Tätowierungen akzeptieren, und wer mich deshalb verschmäht, auf den kann ich auch verzichten.

Ob mir meine Tattoos auch noch gefallen, wenn ich siebzig bin, kann ich heute natürlich nicht sagen, insofern ist es schon ein Risiko. Aber den Gedanken, dass die Tattoos für immer bleiben, finde ich sehr schön. Sie erzählen eine Geschichte, ähnlich wie eine Narbe, und sind eine lebenslange Erinnerung an meine Jugend.

 

Henry*

"Das Schlimmste ist die Ungewissheit: Wann komme ich raus?"

Am Anfang war das Urteil ein Schock. Natürlich wusste ich, welche Strafe auf Mord steht, aber lebenslänglich klingt dann doch sehr hart. Die ersten Jahre im Gefängnis hatte ich auch eine starke Wut, auf die Justiz, auf den Knast, aber auch auf mich selber. Das Eingesperrtsein und die totale Fremdbestimmung im Gefängnis haben mich fertig gemacht. Außerdem kriegte ich die Bilder der Tat einfach nicht aus meinem Kopf.

An Selbstmord oder Flucht habe ich trotzdem nie gedacht. Ein Leben lang weglaufen? Das entspricht nicht meinem Typ. Ich habe den Mord begangen und muss jetzt auch die Konsequenzen tragen, selbst wenn es noch so schwer ist.

So habe ich mich mit dem Leben im Gefängnis arrangiert und sehe inzwischen auch vieles positiv: Ich bin während der Haft wesentlich ruhiger geworden und habe gelernt, mich bei Konflikten verbal zu äußern, statt wie draußen körperlich zu explodieren. Eine große Hilfe dabei waren die Gespräche mit der Psychologin. Viele meiner Probleme, wie zum Beispiel mein Aggressionspotenzial, habe ich vorher gar nicht wahrgenommen.

Kurioserweise fühle ich mich im Gefängnis auch viel ausgeglichener und körperlich fitter als draußen. Ich lese viel, mache täglich mindestens eine Stunde Sport und habe einfache Dinge schätzen gelernt: sich selber mal etwas Leckeres kochen und damit auch zu entscheiden, wann man was essen möchte. Das war in Freiheit selbstverständlich, jetzt weiß ich, wie schön solche Kleinigkeiten sein können.

Seit ein paar Jahren engagiere ich mich ehrenamtlich bei "Gefangene helfen Jugendlichen". Der Verein kümmert sich um junge Menschen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie in die Kriminalität abgleiten. Wenn die Gruppen uns im Gefängnis besuchen, geht es vor allem darum, die Jugendlichen mit der Knastrealität zu konfrontieren. Viele haben komplett falsche Vorstellungen, halten Verbrecher für coole Typen und sich selber für unbesiegbar. So wie ich damals, vor meiner Inhaftierung.

Für mich ist das Schlimmste inzwischen die Ungewissheit. Über zehn Jahre bin ich jetzt schon im Gefängnis. Ob und wann ich rauskomme, kann keiner sagen. Diese fehlende Perspektive ist schon demoralisierend, aber etwas daran ändern kann ich nicht. Manche Häftlinge sitzen mehr als 20 Jahre und wollen dann irgendwann gar nicht mehr raus. Gefängnis kann Heimat werden, das macht mir Angst.

 

Jessica Koerner

"Ein leben lang zusammenbleiben ­ das macht mir keine Angst"

Dass jemand Zeuge meines Lebens wird, miterlebt, was ich erlebe, und mich so durch mein gesamtes Leben begleitet, das war schon immer mein Wunsch. Durch die Hochzeit mit Lenni hat er sich erfüllt, und wir beide können jetzt auch nach außen zeigen, dass wir ganz fest zusammengehören. Eheringe und ein gemeinsamer Name gehören für mich zwingend dazu, immerhin gründet man eine neue kleine Familie und schließt so ein dauerhaftes Bündnis.

Als Lenni mich gefragt hat, war für mich auch sofort klar, dass ich Ja sage. Ich muss mich nicht mehr ausprobieren oder Erfahrungen mit anderen Männern sammeln, denn ich bin mir sicher, dass Lenni der Richtige ist. Vier feste Beziehungen sind zwar nicht viel, wenn ich das mit dem Leben mancher meiner Freundinnen vergleiche, aber bei mir hätte auch schon der erste der letzte sein können.

So stringent bin ich in allen Sachen: Nach dem Abitur habe ich sofort mit dem Jurastudium begonnen und war dann bereits mit 27 Jahren Richterin, eine der jüngsten am ganzen Gericht. Noch vor meinem 30. Geburtstag folgte die Ernennung auf Lebenszeit, und diese Entscheidung habe ich auch noch nie bereut.

Als Mitglied einer großen Strafkammer entscheide ich zusammen mit anderen darüber, ob und für wie lange Menschen ins Gefängnis kommen. Das ist nicht immer leicht, aber wenn ich meine Entscheidung getroffen habe, stehe ich dazu und überlege mir nicht über Nacht alles noch mal neu.

Viele meiner Freundinnen können nicht verstehen, dass mir meine Arbeit viel Spaß bringt. Du verbringst dein Leben mit Kriminellen, bist immer nur mit dem Schlechten konfrontiert, heißt es dann. Das stimmt zwar, aber ich sehe meine Tätigkeit anders: Verhandeln, Zeugen vernehmen und mit den anderen Kammermitgliedern die Ergebnisse diskutieren, das macht den Richterjob aus.

Viele meiner Kollegen wechseln in den ersten Berufsjahren mal in einen anderen Bereich und arbeiten ein paar Jahre im Justizministerium oder bei der EU-Kommission. Das ist förderlich für die Karriere und mag auch ganz interessant sein, aber kommt für mich nicht infrage.

Mein Arbeitsplatz ist der Gerichtssaal, und dies wird auch so bleiben. Dass es bis zur Rente noch über 30 Jahre sind, schreckt mich nicht, im Gegenteil: Ich denke immer, da kommen sicher noch viele spannende Verhandlungen.

Ähnlich sehe ich die Hochzeit mit Lenni. Ein Leben lang zusammenzubleiben, macht mir keine Angst: Gemeinsam alt zu werden, ist doch ein sehr schöner Gedanke.

 

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