Konstantin Sell hat sich durchgebissen. Jetzt kann er sogar kassieren
Tim Wegner
07.10.2010

Als ich hier anfing, habe ich fast nie was gesagt. Wenn sich die Leute am Tisch unterhielten, stand ich daneben und wartete. Ein bisschen schüchtern bin ich immer noch. Aber ich unterbreche die Leute auch: "Guten Tag, wollen Sie schon was zu trinken?" Später nehme ich die Bestellungen für das Essen auf. Wenn sie zum Beispiel was Vegetarisches möchten, würde ich ihnen die vegetarischen Maultaschen empfehlen.

Die Buchstaben kann ich schon, aber was die für eine Reihenfolge haben...

Aufschreiben kann ich das nicht. Die Buchstaben kann ich schon, aber was die für eine Reihenfolge haben, das weiß ich nicht. Bei mir ist es nur eine geistige Behinderung - lesen und schreiben -, mehr habe ich nicht. Es gibt hier ja auch Kollegen mit Downsyndrom oder mit Lernbehinderung und einen mit einer Spastik.

Am Anfang habe ich beim Bestellen Kürzel aufgeschrieben. Aber die Küche konnte die nicht lesen. Jetzt haben wir eine Speisekarte mit Zahlen. Salat mit Hühnchenbrust hat die Nummer 346, Salat mit Schafskäse die 341. Da musste ich viel auswendig lernen! Aber das mussten auch die Normalen. Die Nummern gebe ich in den Kassencomputer ein. Der druckt das dann so aus, dass die Küche das lesen kann. Am Anfang hat mein Chef gesagt, ich soll das sein lassen mit dem Buchen. Aber ich hab es trotzdem gemacht. Wer nichts probiert, kann auch nicht gewinnen. Da muss man sich schon durchsetzen.

In der Schule war ich nicht so hartnäckig. Wenn ich keinen Bock hatte, bin ich einfach rausgegangen. Auch die Schulungen hier habe ich ein bisschen gestört, indem ich mich auf den Tisch gelegt habe. Das habe ich mir abgewöhnt. Die Schulungsleiterin hat ein ernstes Wort mit mir gesprochen, dann ging das. Ich bin erwachsener jetzt. Die anderen auch. Aber einer im Service, der hat sich immer auf die Treppe gesetzt und gespielt, wenn er müde war. Der ist nicht mehr hier.

Jetzt bin ich der Einzige, der drei volle Teller auf einmal tragen kann.

Ich kann jetzt auch die Tische eindecken: Die Gedecke müssen sich genau gegenüberliegen, die aufgestellten Servietten müssen Richtung Tür zeigen - weil man von da auf die Tische zugeht. Man soll alles von rechts anreichen. Wenn ich einem Gast was über die Hose geschüttet habe, hole ich einen Lappen und eine Serviette und biete was aufs Haus an. Aber das kam nur mal ganz am Anfang vor. Am Anfang hat es auch ganz schön oft Scherben gegeben. Aber jetzt bin ich der Einzige hier, der drei volle Teller auf einmal tragen kann.

Am schwierigsten ist es, immer freundlich zu bleiben - auch wenn ich keine Lust habe oder wenn die Gäste ungeduldig nach dem Kellner rufen, und dann bestellen sie nur Wurstsalat, mit dem man keinen Umsatz hat. Wenn viel los ist, poliere ich auch mal gern das Besteck, wenn es aus der Spülmaschine kommt, weil ich dann meine Ruhe habe. Aber wenn wenig los ist und ich muss Besteck polieren, dann finde ich das blöd.

Ich habe auch schon eine Prüfung gemacht. Für den Tresen. Da schaute ein Herr von der Industrie- und Handelskammer zu, wie ich Cappuccino mache, den Colakanister ansteche und einen Schnaps genau bis zum Strich einschenke. Hier im Hofgut Himmelreich gibt es 15 Ausbildungsmodule - im Service, in der Küche, im Housekeeping. Demnächst mache ich die Prüfung fürs Kassieren. Ich war hier der Erste, der beim Gast exakt abrechnen konnte. Das habe ich mit meiner ehrenamtlichen Arbeitsassistentin geübt. Die anderen brauchen alle noch Kontrolle.

Ich bin einer von zwei Leuten, die jetzt eine 75-Prozent-Stelle schaffen. Die anderen machen nur vier Stunden am Tag. Mein Chef sagt, dass ich richtig eine Karriere gemacht habe. Eigentlich bin ich stolz auf mich. Dass ich Geld verdienen kann, 770 Euro netto. Ich hätte mir nicht vorstellen können, in einer Behindertenwerkstatt zu landen - den ganzen Tag Scheibenwischer oder so was zu machen! Da erlebst du ja nichts! Hier passiert immer irgendwas. Wenn ich zum Beispiel einen ganz kleinen Fehler mache - also was falsch eintippe und es gleich merke -, dann lachen wir alle.

Protokoll: Christine Holch

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Auto aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.