Ja, schon. Aber weniger als der Staat ist jeder Einzelne gefordert.

Verletzt denn nun die Mozart-Oper "Idomeneo", in Berlin erst geplant, dann stillschweigend abgesetzt und schließlich wieder ins Programm genommen, die religiösen Gefühle von Muslimen? Einer ihrer Sprecher, Ali Kizilkaya vom Islamrat, sagte ja. Andere plädierten für Toleranz und die Freiheit der Kunst. Hatten denn nun die Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung "Jyllands-Posten" die religiösen Gefühle der Muslime verletzt? Die heftigen Proteste in einigen muslimisch geprägten Ländern legten es nahe. Manche Beobachter glaubten aber auch Hinweise zu erkennen, dass die vermeintlich spontane Entrüstung geschickt organisiert worden war.

Gefühl ist in juristischen Dingen ein zweifelhafter Ratgeber

Das Gefühl ist in juristischen Dingen ein zweifelhafter Ratgeber. Das gilt auch im Blick auf religiöse Fragen. In der weitgehend säkularisierten Gesellschaft Deutschlands sind Staat und Kirche per Gesetz getrennt. Glaube gilt rechtlich als Privatangelegenheit jedes Einzelnen und bleibt zum größten Teil frei von staatlicher Kontrolle und Aufsicht. Jedem steht es frei, sich einer Religionsgemeinschaft eigener Wahl anzuschließen. Zwar lässt sich ein allgemeiner Autoritätsverlust der christlichen Kirchen in Deutschland beobachten, doch religiöse Gefühle und Empfindungen bleiben ein wichtiger Bestandteil unseres Zusammenlebens ­ allerdings auf gesellschaftlicher und privater Ebene und eben nicht auf der staatlichen. Religiöse Empfindungen sind letztlich das Fundament, auf dem Glauben wächst. Deshalb stehen Rationalität und religiöse Empfindungen in einer Spannung zueinander. Jeder Einzelne muss diese Spannung für sich selbst lösen, und zwar möglichst produktiv. Doch was ist, wenn sich Menschen durch Worte und Handlungen anderer in ihren religiösen Gefühlen verletzt sehen? Sollte oder muss der Staat intervenieren?

Das Grundgesetz garantiert die Unverletzlichkeit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sowie die ungestörte Aus - übung der Religion (Artikel 4, Absatz 1 und 2). Jeder Mensch besitzt danach das verbriefte Recht, sich frei für oder gegen eine Religionsgemeinschaft und einen bestimmten Glauben zu entscheiden, ohne dass der Staat hierauf Einfluss nehmen dürfte. Sogleich fällt beim Blick ins Grundgesetz auch auf: Der Begriff des religiösen Gefühls fällt hier zu Recht nicht, ist er doch rechtlich gesehen schwer fassbar, weil letztlich nicht definierbar. Wie soll man ein solches Gefühl mit juristischen Kategorien messen? Wie eine objektive Abwägung zwischen den oftmals konträren Gefühlen der Anhänger unterschiedlicher Religionsgemeinschaften vornehmen?

Das Strafgesetzbuch droht in diesem Zusammenhang mit Strafe lediglich in Fällen, in denen jemand "öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören" (Paragraf 166). Die strafrechtliche Schwelle für den Tatbestand der Blasphemie liegt mithin sehr hoch.

Der Begriff des religiösen Gefühls bleibt unbestimmbar. Und wenn schon innerhalb dieser Gesellschaft ein Konsens über das Wesen religiöser Gefühle nicht zu erzielen ist, dann noch viel weniger über die Grenzen dieses Landes hinaus. Diese grundsätzliche Unbestimmbarkeit macht den säkularisierten Gesellschaften sehr zu schaffen. Wann genau würden bei religiösen Gefühlen beispielsweise die Grenzen staatlichen Schutzes zugunsten staatlicher Parteinahme überschritten werden? Wie groß das Konfliktpotenzial in dieser Frage ist, haben die Reaktionen auf das (richtige) Kruzifixurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1995 und die heftigen Auseinandersetzungen um die Mohammed-Karikaturen im Frühjahr 2006 deutlich gemacht.

Der staatliche Schutz "religiöser Gefühle" würde die Handlungsfreiheit beschränken

Würde man den Schutz "religiöser Gefühle" zum staatlichen Ziel erheben, so liefen Politik und Gesellschaft Gefahr, ihre eigene Handlungsfreiheit erheblich zu beschränken. Unter dem Vorwand oder mit dem Hinweis darauf, ihre religiösen Gefühle würden verletzt, könnten interessierte Gruppen unliebsame Entscheidungen unterschiedlichster Art verhindern. Schon ein solcher Hinweis würde die Streitfälle der nüchternen Analyse entziehen. Ein solcher Schutz müsste für sämtliche anerkannten Religionsgemeinschaften gelten und keinesfalls nur für die christlichen. Lähmende Konflikte und unversöhnliche theologische Debatten wären programmiert. Ein offizieller, staatlicher Schutz von religiösen Gefühlen würde den Feinden unserer offenen Gesellschaft in die Hände spielen.

Anders sieht es auf der gesellschaftlichen und individuellen Ebene aus. Als eine von ihrem Selbstverständnis her zutiefst liberale Politikerin bin ich fest davon überzeugt, dass jede Gesellschaft vom Grundprinzip der Toleranz geprägt sein muss. Damit dies jedoch nicht zu schrankenloser Willkür Einzelner führt, muss jeweils eine tragfähige Balance zwischen individueller Freiheit und dem Schutz vor exzessivem, schädigendem Gebrauch dieser Freiheit gefunden werden. Auf die Religion übertragen bedeutet dies: An jedem Tag ist aufs Neue das Recht auf Meinungsfreiheit gegen den Schutz der religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisse abzuwägen. Unterhalb der Schwelle des Blasphemieparagrafen müssen die Menschen eigenverantwortlich und mit Blick auf den anderen diese Abwägung selbst treffen.

Wer sich in interkulturelle und insbesondere interreligiöse Dialoge einlässt, kann gleich zwei Hauptursachen für die Verletzung der religiösen Gefühle anderer bekämpfen: Unkenntnis und Furcht. Wie ich gerade nach den Terroranschlägen des 11. September in vielen persönlichen Gesprächen mit Christen, Muslimen und Juden feststellen konnte, haben die Religionsgemeinschaften erkannt, wie wichtig die Kommunikation in einer multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft ist.

Ethisch-moralische Normen und Werte wie auch deren Verbindlichkeit können letztlich nur im vernunftgeleiteten Diskurs festgestellt werden. Ein aufrichtiger Dialog und wirkliche Offenheit gegenüber den Werten anderer Religionen stärken gegenseitiges Verständnis und Toleranz. Das hat wesentlich mehr positiven Einfluss auf ein friedliches Miteinander, als es ein staatlicher Schutz von religiösen Gefühlen je haben könnte. Den Kirchen kommt im Rahmen dieses Dialoges eine wichtige Rolle zu.

Unter dem Schutz des Staates sollten nicht in erster Linie religiöse Gefühle, sondern vielmehr die ungestörte Ausübung des Glaubens stehen, sofern dieser nicht gegen den Geist des Grundgesetzes verstößt. Der Aufruf zum Dschihad ­ zum Glaubenskrieg ­, die Predigt von Hass und der Vernichtung Andersgläubiger sind mit den Grundwerten unserer Verfassung nicht vereinbar. Darüber hinaus müssen sich alle aufgefordert fühlen, noch wesentlich mehr als bisher auf einen Dialog der Religionen hinzuarbeiten. Damit täte man der Demokratie und dem friedlichen Zusammenleben einen weitaus größeren Gefallen als mit einem wie auch immer gearteten Recht auf den Schutz religiöser Gefühle.

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