Als einer der letzten Siebenbürger Sachsen bleibt der Pfarrer Eginald Schlattner bei seinen "Zigans". Er schreibt Romane, die in Deutschland gefeiert werden, treibt den Teufel aus ­ und leidet weiter an dem Verrat, den er als junger Mann beging
07.10.2010

Dreimal das Rasseln der Schlüssel, dreimal das metallische Dröhnen, wenn die Türen sich hinter ihm schließen. Durch drei Stahltore muss Eginald Schlattner gehen, dann steht er vor einem Pfirsichbäumchen, in dem Vögel zwitschern. Eigentlich recht idyllisch, wenn da nicht die zwei Uniformierten wären, die in der Sonne eine blutige Trage abspülen. Die Trage gehört zur Krankenstation des Gefängnisses von Ajud. Ajud ist eine Kleinstadt in Siebenbürgen, auf halbem Weg zwischen Hermannstadt und Klausenburg.

"Dies ist der fünfte Hof der Verdammnis!"

"Dies ist der fünfte Hof der Verdammnis!", stöhnt Schlattner, 72, und fährt sich durch die weiße Mähne, als könne er damit die alten Erinnerungen und die düsteren Bilder verjagen. Seine jungenhaften Züge, die kein Gefühl verbergen können, vereisen; die Nervosität dringt ihm aus allen Poren; nur der schwarze Lutherrock scheint den Pfarrer noch zusammenzuhalten.

Er ist in Siebenbürgen geblieben. Vor 50 Jahren gab es hier im Norden Rumäniens noch 200 000 deutschstämmige Bewohner. Heute sind es 15 000. Er ist geblieben, obwohl seine Gemeinde von Siebenbürger Sachsen heute in Deutschland lebt oder auf dem Friedhof liegt. Geblieben sind ihm die, die keiner haben will, die Zigans, wie sich hier die Roma nennen. Geblieben sind ihm die, die nicht wegkönnen, die Häftlinge, um die er sich heute kümmert. Und so ist auch er nicht weggekommen von dem Ort, an dem er am tiefsten gesunken war ­ dem Gefängnis.

Zwischen Gitterstäben winken Hände, funkeln böse Blicke: "Wir wollen uns auch waschen, wir glauben auch an Gott! Gib uns auch Seife!" Toilettenartikel, Zigaretten, erbauliche Kalender, Kleidung, Kaffee, Zeitungen ­ all das ist in den Kartons, die Schlattner zum Versammlungsraum im Hochsicherheitstrakt schleppt. Die finsteren Kerle ärgert es, dass sie nichts von den Reichtümern sehen werden, denn der alte Gefängnispfarrer ist nur für die evangelischen Häftlinge zuständig.

Eine Kiste mit Shampoo und ein paar Schachteln Zigaretten bleiben bei den Uniformierten hängen, denn ohne deren Wohlwollen geht hier gar nichts: vor allem kein ungestörtes Gespräch. Der Seelsorger möchte mit seiner Knastgemeinde, zurzeit 21 Männer, die schon im Versammlungsraum warten, über das Leid sprechen. Das Leid, das jeder seinen Angehörigen mit der Tat zugefügt hat. Und er möchte ihnen helfen, damit fertig zu werden. Buße und Verzweiflung, Verrat und Hoffnungslosigkeit: Schlattner kennt die Abgründe, in die einer stürzen kann. Schlattner war schon Ende 60, als er begann, sein Leben aufzuschreiben ­ in Romanen. "Der geköpfte Hahn" und "Rote Handschuhe" erzählen von Schuld und Sühne, davon, wie es einem geht, dessen Verrat an den eigenen Freunden den Verratenen insgesamt 95 Jahre Arbeitslager eingebracht hat. Entkommt man jemals dem Kerker, in dem man unter der Folter zerbrach? Schlattner weiß, wovon er spricht, wenn er seinen Gefangenen heute sagt: "Wir haben einen Gott der Überraschungen, in eurem Leben ist noch vieles möglich, von dem ihr jetzt nichts ahnt."

War es Mord? War es ein Versehen?

Einer der Gefangenen ist Hans Heinz Thausch, ein gutaussehender Mann, der mehr als die anderen an Schlattners Lippen zu hängen scheint. Er hat seinen Bruder auf dem Gewissen. War es Mord? War es ein Versehen? Er wollte doch nur Pfingsten feiern mit seiner Mutter, doch sein Bruder drehte seine Musikanlage auf, ein Wort gab das andere, das Messer war plötzlich in der Hand, der Bruder fiel hinein. 18 Jahre Zuchthaus. Thausch hilft Schlattner beim Verteilen der Seifenstücke. "Ich habe ihm immer wieder die Geschichte von Kain und Abel erzählt", sagt der Pfarrer. "Wir haben viel geredet, und nach Jahren hatte ich ihn eines Tages so weit, dass ich ihm die Beichte abnehmen konnte. Ich sagte ihm, Gott hat dich in einen weiten Raum gestellt, nun ist alles möglich."

Den Bruder auf dem Gewissen haben ­ der alte Pfarrer weiß, wie sich das anfühlt. Sein eigener Bruder ist damals im Arbeitslager in den Fiebersümpfen des Donaudeltas dem Tod nur knapp entronnen. Und schuld daran war er, Eginald Schlattner.

Die fünfziger Jahre, Osteuropa im Klammergriff des Stalinismus. Ein junger Siebenbürger Sachse begibt sich mit seinen intellektuellen Freunden auf Sinnsuche. Während er jedoch die Zukunft im Kommunismus sieht, ziehen seine Freunde mit hohen, vermeintlich deutschen Idealen "Flamme empor!" singend durch die transsilvanischen Wälder. Bei Geheimtreffen phantasiert man über Bombenanschläge, den großen Umsturz, die Befreiung. Briefe werden geschrieben, Pamphlete verfasst, und eines Tages landet alles auf dem Tisch der Securitate. Die gefürchtete Geheimpolizei holt zum Schlag aus. Sie braucht einen, dem sie die Worte der Verschwörer in den Mund legen kann, einen dekadenten Bürgerspross am besten, einen wie den jungen Schlattner.

Gut 50 Jahre ist es jetzt her, dass die Securitate ihn abholt und in ein Kellerloch sperrt. Sein "Gott der Überraschungen" hat gewirkt, würde er heute sagen. Folterverhöre, Exkrementenkübel, Strohsack und Blechnapf ­ der junge Mann hält das alles zuerst für einen Irrtum, für einen bösen Traum. Ist er doch drauf und dran, in die kommunistische Partei einzutreten.

Nach vier Monaten haben sie ihn so weit. Er sagt aus.

Doch man hat eine andere Rolle für ihn vorgesehen. Beim Schriftstellerprozess von Kronstadt gegen deutschstämmige Intellektuelle soll er als Kronzeuge auftreten. In seinem Kerker betet Schlattner zu einem Gott, den er eben noch hat widerlegen wollen: "Gott, wenn du mich rufen solltest, dann werde ich folgen!" Doch alles, was er hört, ist das Brüllen der Verhörspezialisten. Nach vier Monaten haben sie ihn so weit. Er sagt aus.

In den Fluren und Höfen des Gefängnisses spricht sich damals schnell herum, dass Schlattner umgefallen ist. 1959 wird er zur Hauptfigur in einem Schauprozess in Kronstadt. Und während fünf seiner ehemaligen Freunde in die gefürchteten Arbeitslager wandern, lautet das Urteil gegen Schlattner nur auf "Nichtanzeige von Hochverrat".

Nach zwei Jahren Haft wird er entlassen. Draußen weiß man Bescheid. Angst und Verachtung schlagen ihm entgegen. Er könnte nach Deutschland auswandern, wie es später die verratenen Freunde tun, als sie nach fünf Jahren begnadigt werden. Auch seiner Familie wäre es lieber gewesen, den Schandfleck in weiter Ferne zu wissen. Schlattner vergleicht sich mit den Kanalratten von Kronstadt, das heute Brasov heißt: "Sogar dem Fangeisen entkämen sie und lebten weiter mit halbiertem Leib."

Schlattner bleibt, arbeitet, was man ihn noch arbeiten lässt, und hofft, dass Gott sein Gelübde einfordert: "Wenn du mich rufen solltest, dann werde ich folgen." Als er längst nicht mehr damit rechnet, ist es so weit: "Gott holte mich nicht aus der Zelle, er holte mich auch nicht, als ich als Arbeiter in einer Ziegelfabrik bis zum Bauch im Dreck stand, und auch vom Gleisbau holte er mich nicht weg. 15 Jahre lang hat er mich zappeln lassen, wie den Käfer auf der Nadel, dann rief er mich, als ich endlich Ingenieur war, Frau und Kind und Auto hatte, es mir im Sozialismus bequem eingerichtet hatte. Mit 40 folgte ich zähneklappernd dem Ruf und begann ein Theologiestudium. Seitdem ist alles gut. Seitdem weiß ich, dass Gott mir vergeben hat."

Die siebenbürgische Kirchentracht verlangt einige Geschicklichkeit von einem Pfarrer. Wenn Eginald Schlattner ein Häkchen an seinem sächsischen Lutherrock eingehängt hat, springt meist ein anderes wieder auf. 17 "Silberhefterln" muss er bändigen, bevor er in die Kirche kann.

Er darf sich Zeit lassen, es wartet keiner auf ihn. Alle Deutschen sind weg aus dem kleinen Dorf Rothberg, jetzt Rosia, bis auf drei alte Leute. Das kann man an den Särgen abzählen, die im Seitenschiff der Kirche auf sie warten. Samt Wagen, der angeschafft werden musste, weil keiner mehr da ist zum Sargtragen. Denn von Rumänen und Zigans, die nun in Rothberg leben, lässt sich ein Siebenbürger Sachse nicht einmal dann tragen, wenn er mausetot ist.

"Freitags bete ich für die Menschen, die an mir und durch mich leiden"

Jeden Freitag muss Schlattners "lieber Gott" sich mit schmerzhaften Ereignissen befassen. Denn mag er auch seinem Diener verziehen haben, jene, die Schlattner damals ins Lager gebracht hat, können und wollen nicht vergeben. "Freitags bete ich für die Menschen, die an mir und durch mich leiden. Die Armen leiden so sehr, dass sie, die es sich in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten gemütlich eingerichtet haben, nicht einmal davor zurückschrecken, mir anonyme Briefe zu schreiben. Sie schreiben höflich, immerhin: 'Man muss Sie totschlagen wie einen räudigen Hund.'" In Schlattners melodischem Siebenbürger Sächsisch wirkt selbst die Gnadenlosigkeit der alten Freunde wie weichgezeichnet: Und doch ist ihm manchmal nach Verzweifeln ("Sie wollen mich vernichten") und manchmal nach Zurückschlagen ("Sie werden mit meinem Erfolg nicht fertig!"). Ruhe findet er so und so nicht.

Zum Glück hat Schlattner noch ein paar einfachere Anliegen mit seinem Herrgott zu erledigen. Eine Bäuerin kommt zu ihm, mit dem Hemd ihres achtjährigen Jungen, der jede Nacht ins Bett macht. Das karierte Nylonhemdchen Größe 124 wird auf den Altar gelegt, es folgen Exorzismusformeln, dass dem Satan Hören und Sehen vergeht und er umgehend seine schlimmen Pfoten von dem Buben lässt. "Der macht nicht mehr ins Bett", bemerkt der Pfarrer und lacht trocken.

Ein andermal steht er allein am Altar, in sich versunken. "Dann erzähle ich dem Schmerzensmann, der einsam an seinem Kreuz hängt, von den Roma-Kindern, die in den elenden Hütten unterhalb meines Pfarrhofes hausen. Ich bitte dafür, dass ich auch diesen Monat wieder das Fahrgeld zusammenkratzen kann, damit diese zwanzig Kinder in Hermannstadt zur Schule gehen können. Ich bitte für die Mörder, Totschläger und Gauner, die armen Schweine, die chronisch unter die Räder Geratenen und für deren Angehörige. Für die Kinder, die nun ohne Väter zurechtkommen müssen oder ganz alleine. Für die Frauen, die in Notwehr ihre betrunkenen Männer erstechen, und die betrunkenen Männer, die in der Wirtschaft andere aus Versehen totschlagen." Schlattners Hände fahren beim Erzählen durch die Luft, als könnten wenigs-tens sie alles begreiflich machen: die Armut und die Ungerechtigkeit, und vor allem: wie weh es ihm tut, dass er das Leid doch nicht aus der Welt schaffen kann.

Nach mir wird es hier keinen Pfarrer mehr geben.

Dann geht Schlattner hinüber in sein 300 Jahre altes Pfarrhaus und legt die Kirchentracht ab. Auf dem Herd steht eine Suppe, die seine Frau mit selbst angebautem Gemüse gekocht hat. "Unser Einkommen hier ist gering, wir ernähren uns aus dem Garten." Umgerechnet 50 Euro bekommt er für die Arbeit als Gefängnispfarrer, von jedem Buch fünf Prozent vom Ladenpreis. "Aber Gott wird schon für mich sorgen. Ich bin pensioniert, die Kirche lässt mir das Pfarrhaus, denn nach mir wird es hier keinen Pfarrer mehr geben. Ich war der 99. und der letzte."

Eginald Schlattner lässt anspannen. Früher, in seiner Jugend, gab es in jedem sächsischen Bürgerhaus einen Hauszigeuner. Heute freut sich der 17-jährige Ioan, wenn er ab und zu sich und seine Pferde für eine Fahrt vermieten kann. Seine Eltern sitzen beide im Gefängnis. Die Kutsche rumpelt hinunter zu den schiefen Buden der Roma, die bei Schlattner "meine braunen Brüder" heißen. Er möchte nach einem Mädchen sehen, das nicht für die Schulabschlussprüfung lernen kann, weil es den ganzen Tag in einem Laden stehen muss. Die Kutsche ist bald mit schmutzigen Kindern voll geladen. "Vielleicht brauche ich diese Kinder mehr als sie mich", sagt der Pfarrer nach einer Weile und wirft sich den roten Schal über die Schulter. "Ich gehöre hierher, unter diesen Himmel. Hier ist mein Platz. Und ich möchte, dass alles einen Sinn hat."

Für den Totschläger Hans Heinz Thausch haben die Gespräche mit Schlattner mehr als nur einen Sinn gehabt. Zu Gott hat er gefunden und Vergebung dazu. Das war noch nicht alles. Als Schlattner bei einem Gefängnisbesuch gefilmt wurde, kam auch Thausch ins Fernsehen. "In eurem Leben ist noch vieles möglich, von dem ihr jetzt nichts ahnt", hatte Schlattner den Gefangenen gesagt. Eine junge Lehrerin sah Hans Heinz Thausch auf der Mattscheibe, verliebte sich in ihn. Die beiden wollen heiraten.

"Allein die Liebe deckt die Menge der Sünden zu", sagt Eginald Schlattner. Wie gern würde er einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Und dann treibt es ihn doch wieder, in seinen Büchern den alten Schmerz aufzuwühlen. Immer wieder muss er erklären, dass er die Verurteilung der fünf Kameraden ohnehin nicht hätte verhindern können. Und natürlich weiß er, dass internationale Konventionen jeden aus der Schuld nehmen, der unter Folter aussagt. Gott hat ihm längst vergeben, da ist er sich sicher. Aber damit ist es ja nicht getan.

 

 

 

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