In der Werbung offenbaren sich die Träume der Gesellschaft. Und wovon träumt sie? Trendforscher entdecken eine neue Sehnsucht nach dem beschützten Ich ­ und zugleich das genaue Gegenteil: dunkle, aggressive, hässliche Seiten. Peter Wippermann vom Trendbüro in Hamburg erzählt, was ihm die Bilder sagen.
Portrait Anne Buhrfeind, chrismon stellvertretende ChefredakteurinLena Uphoff
07.10.2010

chrismon: Herr Wippermann, welche Lebensgefühle will uns die Werbung verkaufen?

Peter Wippermann: Neuerdings sehe ich ganz viel heile Welt. Eine Welt, in der es Gut und Böse gibt, klar voneinander geschieden, aber vor allem viel Gutes. Schmetterlinge, Ranken und Blumen. Alles, was versöhnlich und sanft ist, wird idealisiert, alles, was bedrohlich oder technisch ist, wird eingekleidet in irgendetwas Sanftes. Selbst High-Tech-Geräte werden auf diese Weise verkauft. Und in einem Teil der Jugendkultur ist genau das Gegenteil zu finden. Aggression, Gewalt, blutende, kotzende Menschen, Kinderleichen ­ wie in dieser Ekel-Show "Jackass". Da wird die Anti-Ästhetik zum Programm.

Können Sie sich das erklären?

Wippermann: Wir leben mitten in einem Strukturwandel. Parteien, Vereine, Religionen verlieren an Bindungskraft, der Existenzkampf muss täglich geführt werden, alles ist unsicher geworden, von der Rente bis zur Gesundheitsversorgung ­ und die Antwort der Menschen darauf ist eine Flucht aus der Realität und die Suche nach der heilen Welt in einer romantischen Erinnerung an das Biedermeier. Damals, als die Industrialisierung die Menschen im Griff hatte, haben sie sich auch gern in ein betuliches Zuhause zurückgezogen.

In der Werbung sind Frauen naiv bis lasziv

Wie stehen denn die Frauen in dieser Welt da?

Wippermann: Sie stehen nicht, sie liegen, wenn sie nicht wie Elfen flattern ­- von Nivea bis Missoni liegen sie. Frauen sind naiv bis lasziv, und sie sind wieder die Objekte der Begierde. Nicht aggressiv, nicht im Pornostyle der letzten fünf Jahre, sondern eher kühl, in sich gekehrt, zurückweisend.

Nichts mehr mit Emanzipation?

Wippermann: Sehen Sie sich eines der teuren Modemagazine an, und sie erleben die totale Gartenlaubenkultur -­ auf den Anzeigenseiten. Was früher als Werteorientierung galt, zum Beispiel die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen, aufklärerische Elemente, der Kampf für eine bessere Welt: Das ist definitiv weg.

Aber in diesem Frühjahr hatten wir auch: "Du bist Deutschland."

Wippermann: Das ist die Kuriosität dabei, dass die Werber selbst anfangen, moralisch zu werden. Die Medienindustrie entscheidet sich für das Gute. Das gilt auch für Teile der Konsumgüterindustrie. Der Kosmetikhersteller Dove zum Beispiel mit seiner entlastenden Strategie und den ganz normalen Frauen mit Fettpölsterchen und Cellulite. Oder BP, ein Energiekonzern, der, wie glaubwürdig auch immer, Verantwortung übernehmen will. Alle anderen sind sehr defensiv ­ oder gehen auf Aggression. Schauen Sie sich die Autos an. Die sehen alle aus wie Panzerfahrzeuge, als wären sie für den Krieg gebaut statt als Transportmittel oder Spielzeug in Friedenszeiten.

Für sicherheitsbedachte Menschen eben...

Wippermann: Das hängt ja eng zusammen. Der Hummer, das amerikanische Promi-Auto, oder der neue Q7 von Audi: eine Burg auf Rädern! Ganz anders als der BMW Z3 vor ein paar Jahren, als man gern niedrig gelegte Autos hatte, am liebsten Cabrios, in denen man offen war und froh, doch noch ein Teil der Natur zu sein.

Die Frauen liegen, die Männer fahren Panzerfahrzeuge?

Die Frauen liegen, die Männer fahren Panzerfahrzeuge?

Wippermann: Der große Modefotograf Terry Richardson hat in den Achtzigern Bilder gemacht, auf denen die Models sexy waren, aktiv, verspielt und witzig. Inzwischen sehe ich immer mehr Frauen, die so unbeteiligt und abwartend herumliegen wie auf den Gemälden der Präraffaeliten. Oder auch von Tamara de Lempicka. Das ist ein gepflegtes Nirwana.

Und Bilder aus der bösen Welt ­- sollen die uns nur Springerstiefel und Netzhemden schmackhaft machen?

Wippermann: In der aktuellen Kampagne von Dolce & Gabbana gibt es so ein Bild, wo mehrere Männer in hellen Anzügen dastehen, einer liegt nackt vor ihnen, wie eben vergewaltigt. Und hier geht es darum, Hosen und Anzüge der Spitzenpreisklasse zu verkaufen! Der Totenkopfkult ist in der Werbung extrem populär, zum Beispiel als Motiv auf Sneakers...

Das sind Sehnsüchte, die die Werber in uns ansprechen wollen?

Wippermann: Werbung reagiert auf die Stimmungen in der Gesellschaft. Meist tut sie das sehr intuitiv, die Kreativen nehmen durch ihre Netzwerke alles sehr schnell auf. Wenn sich bestimmte Motive konsequent fortpflanzen, wie das Motiv der liegenden Frau, dann können Sie Rückschlüsse ziehen auf den veränderten Wert, den die Frau in der Gesellschaft hat. Es heißt, dass in der Werbung die Gesellschaft träumt, sich idealisiert. Wenn der Arbeitsdruck und die Unsicherheit zunehmen, wenn die Leute ausgepowert sind, ist die Entspannung der Traum.

Was war früher anders -­ in der Werbung und im richtigen Leben?

Wippermann: In den 90ern hatten wir die Vorstellung von fortwährendem Luxus und allen Möglichkeiten des Ausgleichs und des schnellen Geldes ­ da war die puristische Ästhetik gefragt, die coole Mode von Jil Sander, Calvin Klein und Prada. Nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte hatten wir den Katzenjammer und die Ironie. Jetzt wird man halt schon seit mehreren Jahren romantisch. Uns fehlt die Selbstdistanz. Man kann nicht mehr unterscheiden zwischen einem System, der Gesellschaft und sich selber. Es gibt keine Regeln mehr, wie wir zu sein haben, die Prägungen durch Familie und Institutionen gelten nicht mehr. Selbstdesign ist nicht mehr eine Chance für Individualisten, es ist zur Pflicht geworden.

Die Maske des Heiligen aufsetzen oder die des Bösen

Besinnen wir uns unter diesem Druck auf die hilfreiche Unterscheidung zwischen Gut und Böse?

Wippermann: Wir brauchen Orientierung. Wir wollen uns zusammenfinden mit Menschen, die das alles auch so sehen. Früher haben die Jugendlichen die Jugend ihrer Eltern aufgegriffen und damit so eine Art ästhetischen Jugendkonflikt ausgetragen. Heute gibt es zwei Lager: flüchten oder angreifen. Sich in die sanfte Welt zurückziehen oder selbst zu den Aggressoren gehören. Die Maske des Heiligen aufsetzen oder die des Bösen. In einer globalisierten Welt und in einer Zeit, wo man sich von islamischen fundamentalistischen Bewegungen abgrenzen muss, ist es ja auch durchaus sinnvoll, solche Unterscheidungen zu treffen ­- wenn man das schon den Institutionen nicht mehr zutraut.

Brauchen wir mehr Klarheit?

Wippermann: Ja, das hat man auch in den Institutionen begriffen. Man besinnt sich auf Kerngebiete und Kernkompetenzen und will wieder klarere Identitäten entwickeln. In den Kirchen geht es wieder mehr um den Glauben, weniger ums Weltliche, Soziale. Wir reden wieder mehr darüber, was unsere Werte sind, was wir gut finden, wofür wir einstehen und wofür nicht. Das ist die Polarisierung, die man auch an den Anzeigen ablesen kann. Bestimmte konservative Ästhetiken sind gefragt, von der Kleidung bis zum Umgang, vielleicht auch als formaler Ersatz für fehlende Inhalte. Wenn man stonewashed Jeans an jeder Ecke kriegen kann, ist es unheimlich apart, eine Bügelfalte zu tragen. Das klingt zwar oberflächlich, aber ich glaube doch, dass man an den Veränderungen der Oberfläche analysieren kann, was die tieferen Sehnsüchte sind.

Und diese Sehnsüchte richten sich in die Biedermeier-Zeit?

Wippermann: Es geht nicht um das Lebensgefühl. Wir wollen es positiv haben. Die Politik soll harmonisch sein, die Konjunktur nett, man möchte ein bisschen so weitermachen wie bisher, aber alle sollen es jetzt mal in Ordnung finden ­ und die Arbeitsplätze werden trotzdem nach China verlagert. Wir haben das funky Biedermeier genannt: den Spaß daran, die Kleinbürgerlichkeit sympathisch zu finden.

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