... schlüpft der Mensch in seine öffentliche Haut. Ist alles bereit dafür, vor andere hinzutreten? Wird man so konzentriert und ausdrucksstark sein, so sexy, hilfreich oder herzlich, wie die selbst gewählte Rolle es vorsieht? Sieben Menschen und ihre Momente der Wandlung aufgeschrieben von Christine Holch Fotos Andreas Herzau
Tim Wegner
07.10.2010

Lisa Clemen, Schülerin, 16

Wenn ich freitagabends ausgehen möchte, beginne ich gerne eine Stunde vorher und dusche mich. Dann stehe ich bestimmt zehn Minuten vor dem Kleiderschrank, um mir ein Outfit auszusuchen. Da ich ein Schmuckfetischist bin, muss ich gucken, dass die Kleidung zum Schmuck passt und nicht umgekehrt. Manchmal frage ich meine Mutter, ob es nicht zu viel ist, ob ich nicht aussehe wie ein Weihnachtsbaum. Danach nehme ich mir Zeit fürs Schminken: Ich kämme die getuschten Wimpern, tupfe mit Ohrenstäbchen übergemalten Eyeliner weg, trage Rouge auf, mache die Augenringe weg; aber die Lippen vergesse ich meistens.

Ich will natürlich sexy wirken, deshalb trage ich auf Hüfte geschnittene Hosen, wo der Hintern dürftig verpackt ist. Aber wenn ich einen größeren Hemd-Ausschnitt trage, meint mein Freund, ich soll mich gefälligst anziehen. Und natürlich will ich erwachsen wirken. Auch wenn ich einen Freund habe, möchte ich gern andere Jungs ansprechen. Doch vor allen Dingen will ich extrovertiert wirken, nicht schüchtern. Das macht die Männer nicht an, glaube ich. Ich will auch sinnlich sein. Ich mag gern Augenkontakt haben ­ aber das ist dann eine Sache des Seins und nicht des Stylens. Und extrovertiert bin ich eh. Hübsch find ich mich auch. Zumindest finde ich mich nicht hässlich. Ich mag meinen Körper wirklich gern. Insofern ist es nicht schwer für mich, so zu wirken.

Aufregend wird es dann, wenn man vor dem Club steht, in den man rein möchte. Lassen einen die Türsteher rein, obwohl man noch nicht 18 ist? Wenn mich dann an dem Abend Jungs anschauen, das ist schon schön, vor allem wenn sie süß sind. Aber dass ich angeschaut werde, fällt mir meist gar nicht so auf. Und ich brauche es auch gerade nicht so unbedingt. Außerdem habe ich meine Freunde mit und will mit denen Spaß haben.

Und das Schönste am Abend ist eigentlich, wenn ich mich schminke. Das Stylen macht mir einfach Spaß. Deshalb find ich auch Halloween und Fasching so toll.

Kirsten Schmidt-Soltau, Pastorin, 43

Ein Kollege hat mal über unseren Beruf gesagt: "Predigen heißt, ein Leben lang Durchfall haben." Das ist es nicht mehr bei mir. Ich habe meine Predigt schon am Freitag fertig geschrieben. Am Samstag arbeite ich nicht, denn ich möchte meinen Gottesdienst frisch und ausgeruht feiern, damit ich auch selbst was davon habe. Das Frühstück am Sonntagmorgen mit meiner Familie ist das Wichtigste für mich. Wie eine Stärkung vor dem Gottesdienst.

Wenn ich dann den Talar und meine farbige Stola umlege, wird mir bewusst: Gott ist bei mir und will durch mich zu den Menschen reden und heilsam wirken. Und jeder, der mich mit Talar und Stola sieht, weiß: Das ist nicht die Privatperson Kirsten Schmidt-Soltau, sondern die Pastorin, durch die ­ wenn es so kommt ­ Gott spricht.

In der Kirche zünde ich als Erstes die Kerzen auf dem Altar an ­ meine Begrüßung Gottes. Diesen Moment habe ich für mich allein. Dann kommen die Organistin und die ehrenamtlichen Küster, bald auch die Gottesdienstbesucher. Ich stehe an der Kirchentür und begrüße sie mit Handschlag.

Wenn die Glocken zu läuten aufhören und die Orgel zu spielen beginnt, gehe ich als Letzte rein, ich trete vor den Alltar und spreche für mich persönlich ein kurzes Gebet: dass Gott uns jetzt anrührt. Damit lege ich alles Kommende in Gottes Hände. Das macht mich frei, auch meiner Intuition folgen zu können. Zum Beispiel für schwierige Situationen, wenn in Familiengottesdiensten ein Kind nicht aufhört zu schreien. Das zu ignorieren bringt gar nichts, da entsteht bei allen Aggression. Ich mache dann schon mal einen Schnitt, gehe hin, gebe dem Kind einen Lolly oder bitte die Eltern, ihrem Kind was Gutes zu tun, vielleicht fünf Minuten um die Kirche zu gehen und dann wieder reinzukommen ­ oft ist es dem Kind ja einfach zu laut.

Ich habe auch Herzklopfen, wenn ich eine gewagte Predigt vorbereitet habe. Einmal habe ich mehreren Frauen, die gerade eine Scheidung durchmachten, Mut gemacht, dafür zu kämpfen, dass es dabei gerecht zugeht. Ich bin ein bisschen aufgeregt, weil ich nicht weiß, wie das Echo sein wird. Aber das ist ja auch das Schöne an einem Gottesdienst: nicht zu wissen, was passiert. Gottes Geist weht, wo er will.

Thorsten Kinhöfer, Schiedsrichter, 36

Ich bereite meinen Einsatz bei einem Bundesligaspiel intensiv vor, ich recherchiere zum Beispiel im Internet: Welche Charaktere treffen aufeinander, gab es im Hinspiel irgendwelche Vorfälle, gab es Feldverweise, so dass ich jetzt damit rechnen muss, dass da von ein paar Hitzköpfen wieder was zurückkommt? Sind es spielerische oder eher kämpferische Mannschaften? Spielen die Mannschaften auf Abseits? Spielen sie mit einem klassischen Libero oder auf einer Linie? Alles Fragen, die wir im Team am Vorabend im Hotel intensiv besprechen.

Trotzdem weiß man nie, was dann tatsächlich auf einen zukommt. Man versucht als Schiedsrichter, das Spiel in den vorgegebenen Bahnen zu halten, was auch fast immer gelingt. Trotzdem muss man ständig auf der Hut vor Eventualitäten sein. Denn eines ist klar: Die Spieler versuchen mit allen erlaubten und teilweise unerlaubten Mitteln zum Erfolg zu kommen.

90 Minuten vor dem Spiel sind wir dann im Stadion ­ die zwei Assistenten, der Ersatzschiedsrichter und ich. Wir überprüfen das Spielfeld. Dann gehen wir im Team noch mal durch, wie die Assistenten mich mit dem Funk- und Fahnensystem während des Spiels auf Vorgänge in meinem Rücken aufmerksam machen können.

Die letzte halbe Stunde vor Spielbeginn spürt man die Anspannung in der Kabine. Jeder Beteiligte ist in seiner eigenen Konzentrationsphase. Dann wärmen wir uns auf dem Spielfeld auf, machen ein paar Sprints, Dehnübunge... Nach der Rückkehr vom Aufwärmen ziehe ich das Schiedsrichter-Trikot an, stecke die Utensilien in die Taschen (gelbe und rote Karte, Wählmarke, Pfeife, Kugelschreiber, Spielnotizkarte), dehne noch einmal nach. Dann heißt es: Raus aufs Feld!

Ab dem Anpfiff schaue ich hochkonzentriert nur noch nach vorn, warte auf die nächsten zu beurteilenden Aktionen, um in Sekundenbruchteilen Entscheidungen zu treffen. Ziel muss es sein, eine fehlerfreie Leistung abzuliefern. Aber man kann nicht alles sehen. Und irgendeine Kamera sieht es. Man lernt, damit umzugehen, wenn die Zuschauer einen beschimpfen oder Dinge schreien, wo jedes Wort Grund für eine Anzeige wegen Beleidigung sein könnte. Wegen des Lärms bekommt man einiges nicht mit. Und was man mitbekommt, geht links rein und rechts raus. Natürlich muss man als Schiedsrichter mit Kritik leben, aber sie sollte sachlich sein, damit man eventuell begangene Fehler hinterher aufarbeiten kann.

Nach dem Spiel ist man leer. Erschöpft. Wenn das Spiel gut gelaufen ist, fühle ich eine gewisse Erleichterung. Gut gelaufen ist ein Spiel für mich, wenn ich keinen negativen Einfluss aufs Spiel hatte, wenn über den Schiedsrichter nach dem Spiel niemand mehr spricht.

Wenzel Fuchs, Soloklarinettist, 42

Eine Stunde vor dem Konzert fahre ich mit dem Auto in die Philharmonie, dann sitze ich sehr gern noch mit Kollegen in der Kantine und trinke Tee oder Wasser. Wir sind eine Clique von Holzbläsern, wir sind sogar Freunde. Das allein zerstört schon die Nervosität. Man braucht dann gar nicht "toi, toi, toi" zu sagen. Oder, wie ich das in anderen Orchestern manchmal höre, "wird schon schief gehen". Da hoffen die Musiker zwar, dass es gut geht, aber das Vertrauen ist nicht wirklich da. Wenn ich mit den anderen Holzbläsern der Berliner Philharmoniker zusammen bin, komme ich gar nicht auf den Gedanken, dass es schief gehen könnte. Dieses Vertrauen baut wahnsinnig auf.

Ich spiele mich zwar jeden Tag ein, aber an meinem technischen Fundament kann ich nur in den Wochen zwischen den Orchesterdiensten arbeiten. Wenn da was nicht stimmt, dann wird man wirklich nervös. Das Konzert selbst, das muss ich einfach an mich herankommen lassen. Natürlich kann einen auch mitten im Konzert noch eine Welle von Nervosität überrollen, da hilft man sich dann zum Beispiel mit Atemübungen.

Direkt vor dem Auftritt spüre ich zwar ein gewisses Kribbeln ­ aber es ist nur positiv. Ich bin in diesem Moment eher in euphorischer Stimmung. Ich weiß, ich werde über einen Graben springen müssen. Jedes Konzert ist eine Herausforderung ­ auch bei nicht so schwierigen Partituren. Weil man ja immer auf das höchste Niveau zielt. Das Publikum merkt es vielleicht gar nicht, wenn ich das höchste Niveau nicht erreiche. Aber ich merke es. Ich selber bin der größte Kritiker. Der Abgrund bin ich selber. Es kann sein, dass alle zufrieden sind, nur ich nicht ­ weil ich finde, dass ich irgendetwas noch leiser oder lauter hätte bringen können oder noch inniger.

Wenn ich dann nach Hause komme ­ diesen Tapetenwechsel, den brauche ich. Diese Geborgenheit und Sicherheit. Meine Famile, meine Frau ­ sie ist auch Musikerin ­, meine beiden Töchter, die sind jetzt acht und zwölf, das ist mein Lebenselixier. Da spielt einfach was ganz anderes eine Rolle. Vielleicht bringt mir das meine Ruhe im Konzert.

Corinna Fitzner, Lehrerin, 33

Mein Tag besteht aus vielen kleinen Auftritten, den Unterrichtsstunden, dazwischen sind ja oft nur fünf Minuten Pause. Da kann man nur innerlich durchatmen, bevor man die nächste Klassentür öffnet. Deswegen ist für mich meine relativ lange Autofahrt zu Schule sehr wichtig. Da spiele ich in Gedanken einige Situationen schon mal durch: Wie ich bestimmten Schülern eine Klausur zurückgebe, die sehr schlecht ausgefallen ist; wie ich eine Note verteidige, wenn es eine große Diskussion geben sollte ­ zu Hause an meinem Schreibtisch habe ich gute Argumente, aber überzeugen die auch 15 Schüler, die alle mitdiskutieren wollen? Und auf welche Diskussion will ich mich überhaupt einlassen? Es gibt viel zu bedenken vor einem Unterrichtstag, denn ich habe ja an meiner Gesamtschule bei jedem Auftritt ein ganz anderes Publikum ­ Zehnjährige, aber auch Abiturienten.

Es wäre schön, zwischen den Auftritten einige Minuten abschalten zu können, um nicht die Themen und damit leider oft auch den Ärger der letzten Lerngruppe in die nächste mitzunehmen. Das ist selten möglich. Aber ich habe ein paar kleine Rituale. Wenn ich im Gang Aufsicht habe, schaue ich aus dem Fenster und denke einen Moment lang gar nichts. Und in den ersten Minuten des Unterrichts zwinge ich mich regelrecht zur Langsamkeit. Ich warte, bis alle ihr Material zusammenhaben, verweise die Schüler auf ihre Plätze ­ auch wenn das mal vier Minuten dauert. So kriege ich auch die Stimmung dieser Gruppe mit, und dann läuft es hinterher viel störungsfreier, als wenn ich gleich mein Programm durchgezogen hätte. Aber wenn man Vertretung hat in einer chaotischen Klasse, die man nicht kennt, dann nützt das manchmal auch nichts mehr, dann ist man nur damit beschäftigt, die Schüler auf ihren Plätzen zu halten.

Doch sonst sind die Auftritte Routine geworden. Auch dieses Im-Mittelpunkt-Stehen. Früher hat es mich oft aus der Bahn geworfen, dass die Schüler meine Kleidung, die neuen Ohrringe, einfach alles kommentiert haben. Ich nahm es persönlich, wollte auf alles eingehen. Heute binde ich manches mit einem lockeren Spruch ein, übergehe anderes. Es findet auch nie die gesamte Lerngruppe etwas doof, es gibt da richtige Diskussionen, das ist dann eher amüsant. Nur wenn ich etwas angeschlagen bin, ist es anstrengend, so im Rampenlicht zu stehen.

Britta Techen, Flugbegleiterin, 31

Die Verwandlung zum Service-Professional vollziehe ich schon zu Hause, wenn ich die Uniform anlege. Auf der Fahrt zum Flughafen höre ich gern Klassik, das beruhigt. Ich bin immer rechtzeitig da, um nicht in Zeitdruck zu geraten. Vor dem Auftritt treffen wir ja viele Vorbereitungen an Bord ­ zählen die Essen durch, öffnen Weinflaschen... Aber dann kann es sein, dass wir wegen Schlechtwetter nicht nach London fliegen, worauf ich mich vorbereitet hatte, sondern dass die ganze Crew umbeordert wird nach München. Dann ist unter Umständen alles anders: das Flugzeug, das Catering, der Serviceablauf. Trotz Zeitdruck versuche ich dann bewusst, alles in Ruhe zu erledigen.

Ich muss viele Informationen aufnehmen und an meine Crew weitergeben: Erwartet mich ein Unwetter, so dass ich zu einer bestimmten Zeit mit dem Service fertig sein muss? Welche Passagiere sind mit Namen anzusprechen? Welche Kollegin fährt wie rum mit dem Wagen rein? Eine Kurzstrecke ist sehr zeitkritisch, und zur Landung muss in der Küche ja auch alles wieder verstaut sein.

Da ich die verantwortliche Flugbegleiterin bin, versuche ich, eine positive Stimmung in die Gruppe zu geben. Manchmal sind die Auftritte ja sehr lang ­ zwölf Stunden, und der Tag gibt einfach keine längeren Pausen her. Da ist es wichtig, dass man Momente des In-sich-gekehrt-Seins findet, und sei es, dass man kurz den Vorhang zuzieht und einen Tee trinkt, um gedanklich mal nicht zuständig zu sein.

Nach dem Auftritt will man möglichst schnell aus der Uniform raus. Nicht dass wir die Uniform nicht mögen, aber wir würden nie in der Uniform in der Hotellobby zusammensitzen. Man ist erst dann privat, wenn die Uniform im Schrank hängt. Meine Privatkleidung ist natürlich angemessen, wir werden ja auch privat von den Hotelangestellten als Lufthansa angesehen.

Andreas Herzau, Fotograf, 42

Wenn ich fotografiere, muss ich aufnahmefähig sein. Deshalb vermeide ich vor meinen Auftritten Situationen, in denen man innerlich abschlafft, zum Beispiel kuschelig im Café zu sitzen; auch alles, was mich ablenkt, also Gespräche. Ich muss allein sein. Ich versuche mich in einen Zustand von Langeweile zu versetzen, in eine Art innerer Leere. Damit ich die Eindrücke, die dann gleich auf mich einströmen, aufnehmen kann. Und diese Aufnahmefähigkeit brauche ich, ob ich nun für eine Reportage durch New York streune, das Öffnen von Massengräbern in Ruanda fotografiere oder einen Politiker porträtiere.

Kurz vor dem Auftritt bin ich angespannt, denn ich habe oft nur kurze Momente zur Verfügung, um ein gutes Bild zu machen. Aber wenn ich dann fotografiere, entspanne ich mich sofort. Ich versuche, als Fotograf nicht zu stören. Ich sollte ja nicht wichtiger werden als das, was da gerade passiert. Aber es ist eine Illusion, dass man als Fotograf nicht wahrgenommen würde. Man hat einfach einen Einfluss auf die Situation. Denn jeder, wirklich jeder, verhält sich anders, sobald er mit einer Kamera konfrontiert ist.

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