Foto: Bernd Rosslieb
Alt werden
Im August 2005 sprach der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in einer chrismon-Begegnung mit einem Altersforscher über sein großes Thema damals: Die "Methusalem-Gesellschaft". Darin äußerte er sich auch über seine Vorstellung darüber, wie er selbst alt werden wollte.
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
02.09.2013

chrismon: Wie alt möchten Sie werden?

Frank Schirrmacher: So alt, wie man sich gut dabei fühlt.

Bernd Seeberger: Davon habe ich allerdings noch keine konkrete Vorstellung.

Stellen Sie sich als Altersforscher denn vor, wie lange Sie arbeiten werden, Herr Seeberger?

Seeberger: Solange ich kann. Gerne bis 80 und länger.

Schirrmacher: Ich würde gerne so lange arbeiten. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki kommt mit 85 alle drei Tage zu uns in die Zeitung und arbeitet wunderbar. Als Journalist können Sie so was machen. Das ist ein Luxus.

Sie würden wirklich gern bis 80 arbeiten?

Schirrmacher: Ja. Das wird aber für die meisten keine Frage des Wollens sein. Viele meiner Generation werden den Eintritt der Rente wie Arbeitslosigkeit empfinden, weil sie zu wenig Geld privat zurückgelegt haben. Da können Sie zehnmal sagen: „Ich will geistig und ethisch autonom sein.“ Das nützt nichts, wenn Sie es wirtschaftlich nicht sind.

Nehmen dann die Alten den Jungen die Jobs weg?

Schirrmacher: Ab 2010 ändert sich die Arbeitslosenstatistik. Zehn Millionen gehen in den Ruhestand. Es wird einen Run auf die wenigen qualifizierten jungen Leute geben.

Seeberger: Es wird zu einer neuen Nachfrage an Arbeitskräften kommen. Etwa in Service und Betreuungsbereich. Dies werden vermutlich künftig jüngere Alte leisten.

Fürchten Sie, im Alter zu verarmen?

Schirrmacher: Man hat mir gesagt, der Staat wird eine Inflation auslösen, um die Rentenlast zu bewältigen, die er sich aufgebürdet hat. Rentenansprüche werden kaum noch was wert sein. In zwanzig Jahren wird es Massenbewerbungen von 64-Jährigen geben, die sagen: „Ich könnte doch noch was arbeiten.“ Weil sie das Geld brauchen.

Seeberger: Wir sprechen von den Risiken der Altersgesellschaft. Die sind aber nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite stehen die Aspekte der Langlebigkeit. Langes Altern galt früher als Gnade. Heute sprechen wir negativ von einer „Überalterung“ der Gesellschaft.

Schirrmacher: Vom Langlebigkeitsrisiko.

Seeberger: Die Sprache zeigt unsere große Angst vorm Altern. Altersarmut wird es sicher auch geben. Aber vergessen Sie nicht: In den nächsten zehn bis 15 Jahren vererben die Deutschen zehn bis 20 Billionen Euro an immer weniger Nachkommen.

Schirrmacher: Da bin ich nicht so optimistisch. Die Alten werden aufgrund ihrer hohen Lebenserwartung und sinkender staatlicher Garantieleistungen viel von ihrem Besitz aufzehren. Zum Vererben bleibt da nicht so viel.

Ab wann ist man eigentlich alt?

Schirrmacher: Ich habe mich manchmal als Zwölfjähriger alt gefühlt. Der größte Irrtum ist zu glauben: Da gibt es ein paar Ältere, hier ein paar Jüngere. Natürlich ist ein Hundertjähriger alt. Aber einen absoluten Maßstab gibt es nicht. Viele erleben den fast 60-jährigen Joschka Fischer noch als jungen Mann.

Seeberger: Altern beginnt ab der Geburt und ist ein ständiger Veränderungsprozess. In der ersten Lebensphase wird dies Wachstum oder Reifung genannt. Später wird die ständige Veränderung dann als Abbauprozess bezeichnet. Richtig altern wir erst, wenn wir Perspektiven verlieren. Dies kann eine Krankheit, der Verlust des Arbeitsplatzes oder eines Lebenspartners sein.

Schirrmacher: Ist ein 40-Jähriger alt? Natürlich nicht! Aber in dem Moment, wo er aus seinem Betrieb rausgeschmissen wird und eine Stelle sucht, definiert ihn sein soziales Umfeld als alt.

Herr Schirrmacher, Sie schreiben: „Der Alte ist wie ein Gast, der nicht geht. Man stolpert über ihn, er steht im Wege, er taucht auf wie ein aufdringlicher Zeitfresser.“

Schirrmacher: So stelle ich mir vor, wie ich angeguckt werde, wenn ich sehr alt bin – wenn wir so weiter machen wie bisher.

Seeberger: Das Gefühl, ich sollte nicht mehr da sein. Das gesamte negative Altersbild unserer Gesellschaft trifft dann einen.

Schirrmacher: Wie bei den Erbtanten. Los, entlaste uns von deiner Existenz!

Seeberger: Jetzt gehen sogenannte Kinderschänderprozesse durch die Medien. In fünf bis zehn Jahren geht es um Kinder, die das Pflegegeld kassieren und ihre Angehörigen vernachlässigen oder in den Einlagen liegen lassen. Dies ist meines Erachtens Gewalt oder Misshandlung an alten Menschen.

Schirrmacher: Platz eins der Zivilprozesse in den Vereinigten Staaten ist die Misshandlung von Älteren in den eigenen Familien. Da ist Geld im Spiel. Künftig muss Religion eine größere Rolle spielen. Irgendetwas muss uns klar machen: „Ich bin 86, liege, habe aber einen Wert. Ich kann mich darauf verlassen, dass man mir nicht ständig suggeriert: Sei doch tot, sei doch tot.“

Seeberger: Wir müssen unsere Werte überdenken. Politik darf nicht bloß von der Finanzlage abhängen. Sonst würde es in circa zehn Jahren bei uns wie in Holland aktive Sterbehilfe geben.

Frank Schirrmacher: „Stellen Sie sich vor, Ihnen wird ständig suggeriert: ,Sie sind zu viel‘“

Sie meinen, bei der aktiven Sterbehilfe geht es nicht nur darum, qualvolles Sterben zu verhindern?

Seeberger: Es ist deutlich, dass es auch um was anderes geht. Denn mit dem Thema Patientenverfügung können Sie nach wie vor Säle füllen!

Schirrmacher: Ich zitiere den Titel einer holländischen Studie aus einer angesehenen Zeitschrift: „Kosten senken im Gesundheitswesen durch ärztlich begleiteten Selbstmord“. Und vergessen Sie nicht den vorauseilenden Gehorsam älterer Menschen. Stellen Sie sich vor, Ihnen wird suggeriert: „Sie sind zu viel. Und jetzt wollen Sie auch noch eine Operation?“

Seeberger: Alte Menschen stehen wegen solcher Einflüsterungen unter ungeheurem Druck. Das sehen Sie daran, dass die Alterssuizidrate steigt, übrigens auch der Altersalkoholismus. Wenn ich Studenten frage: „Was ist der meistgetrunkene Alkohol in Deutschland?“, tippen die meisten auf Schnaps oder Bier. Nein, es ist die Art „Klosterfrau Melissengeist“! – Es reicht aber nicht, den Druck von den Alten zu nehmen. Auch ältere Menschen müssen lernen, den Prozess des Alterns als sinnvoll zu erleben. Das wird eine spirituelle und vor allem religiöse Herausforderung für die Zukunft.

Bernd Seeberger: „Das wird vor allem eine religiöse Herausforderung für die Zukunft“

Schirrmacher: Religiöse Fragen über den Sinn des Lebens oder über ein Leben nach dem Tod werden ohnehin wichtiger, je mehr Menschen mit Altersgebrechen und Todesangst zu kämpfen haben. Im Mittelalter dauerte ein Leben 30 Jahre, davon 15 voll Schmerz und Leid. Bald wird die Hälfte der Bevölkerung 80 oder 90 Jahre alt, ein Großteil hat mit Leid und Todesnähe zu tun. Wie im Mittelalter wird die Hälfte des Landes über Tod, Krankheit, Gebrechen nachdenken, nur im höheren Alter. Dass Papst Johannes Paul II. zwei Tage vor seinem Tod ans Fenster trat und nicht mehr reden konnte, war ein eindrucksvolles Symbol der alternden Gesellschaft.

Herr Seeberger, Sie fordern eine neue Altersethik. Was meinen Sie damit?

Seeberger: Zum Beispiel, dass wir eine andere Vorstellung von Freundschaft, Verwandtschafts- und Generationenbeziehung benötigen. Das Altern findet künftig nicht mehr in dem Maße wie bisher in Familien statt. Wir werden immer weniger Familien und immer mehr Singles sein. Man könnte es zum Kabarettthema machen: „75-Jähriger, wo hast du deinen Pflegepaten?“ Innerfamiliäre Hilfsbereitschaft ist zwar in unserem christlichen Kulturkreis kulturelle Selbstverständlichkeit. Wir müssen uns fragen, wie lange hält familiäre Solidarität – und hält sie bis in die späten Jahre?

Schirrmacher: Wegen der vielen Einzelkinder.

Seeberger: Und wegen der Langlebigkeit. Wie lange hält innerfamiliäre Solidarität? Nehmen Sie die sogenannte „Bohnenstangenfamilie“: Die 55-jährige Frau ist Großmutter und zugleich Enkelin. Die Frau betreut ihre Enkelkinder und die Großeltern!

Brauchen wir neue Vorstellungen vom Alter?

Schirrmacher: Modelle gelingenden Lebens im hohen Alter werden große Bedeutung haben. Denken Sie, wie sich in den frühen 60er Jahren die Werte schon mal verändert haben. Die Gesellschaft war jung wie nie zuvor. Da waren sexy junge Frauen wie Brigitte Bardot die Idole.

Seeberger: An Papst Johannes Paul II., Johannes Heesters oder Inge Meysel wird man künftig erkennen: Sie sind Vorbilder für eine Altersgesellschaft. Sie zeigen: Das Leben älterer Menschen ist genauso wertvoll wie das eines 21-Jährigen, ob gesund oder Langzeitpatient. Wir brauchen solche Vorbilder in einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen ein hohes Alter erreichen, als Gegenbilder zu dem, was ein junges CDU-Mitglied so frech dahersagte: Ältere Menschen sollten keine Hüftoperationen mehr bekommen. Als ob die weniger wert seien.

Schirrmacher: Das hat einer aus dem Jahrgang 1979 gesagt. Wenn der in 30, 40 Jahren zu den Älteren zählt, wird er den heute noch gar nicht geborenen Kindern zur Last fallen. Wir wissen nicht, mit welchen Werten diese Kinder auf die Riesengruppe der Alten dann blicken. Die jetzt Jungen müssen sich klar machen: In der Gesellschaft, wie sie heute tickt, heißt es irgendwann: Lohnt es sich noch, Sie im Krankheitsfall zu reparieren? Und können wir das bezahlen?

Seeberger: Ich bin da nicht ganz so ängstlich. In spätestens zehn Jahren liegt der Altersdurchschnitt bei 46,5. Die Politik wird die Interessen ihrer Wählerklientel berücksichtigen. Gesundheitspolitik und das Recht auf menschenwürdiges Altern nehmen doch heute einen Stellenwert ein wie in den 80er Jahren die Umweltthemen.

Wird Gesundheitspolitik wichtiger als Bildungspolitik, innere Sicherheit wichtiger als Einwanderung?

Schirrmacher: Sie sprechen da ein Problem an, das auf uns zukommt. In Florida, einem demografisch sehr alten Staat der USA, sagt heute schon der Gouverneur: „Ich baue Straßenlaternen für mehr Sicherheit. Dafür schließe ich Schulen.“

Seeberger: Sie müssen nicht nach Florida gehen, um die Auswirkungen der Altersgesellschaft zu sehen. Auch im Speckgürtel um Berlin werden derzeit Schulen und Kindergärten geschlossen, aber Arbeitskräfte für die Pflege und Betreuung gesucht.

Schirrmacher: Genau. Nur, was das Umdenken in der Politik anbelangt, Herr Seeberger, bin ich weniger optimistisch. Die Politik hätte längst umdenken müssen. Wir müssten Leute früher in die Arbeit bringen und länger arbeiten lassen. So erhöhen Sie die Lebensarbeitszeit um zehn Jahre und hätten höhere Kassenbeiträge. Wir können uns nicht leisten, dass in mehr als der Hälfte aller deutschen Unternehmen keiner über 50 Jahre arbeitet.

Wie ist der Altersdurchschnitt in Ihrer Zeitung?

Schirrmacher: Ich habe ihn nie ausgerechnet. Auf meiner Büroetage sitzt ein 85-Jähriger, es gibt 67-Jährige.

Was war Ihre bedeutendste kreative Leistung, seit Sie 40 Jahre alt wurden?

Schirrmacher: Ich habe zusammen mit meinen Kollegen und der Redaktion der „FAZ“ eine Sonntagszeitung mitbegründet. Schauen Sie sich die Literatur- und Kunstgeschichte an, was da nach dem 60. Lebensjahr an kreativen Leistungen passierte. Die wichtigsten Werke der Weltkunst hätten wir nicht. Denken Sie an Fontane, Goethe, Thomas Mann...

Goethe und Mann waren schon jung erfolgreich.

Schirrmacher: Fontane hat seine großen Romane erst als 60-Jähriger geschrieben. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer hat sein Hauptwerk mit 60 veröffentlicht. Er wurde 102.

Seeberger: Mit 90 hat Gadamer wunderbare Sachen geschrieben: „Im Alter wacht die Kindheit auf.“ In so hohem Alter ist Wandlung noch möglich. Das wünsch ich mir selbst auch.

Schirrmacher: Wenn Sie einem Kind sagen: „Du bist nichts, du kannst nichts“, wird das Kind nie kreativ sein. Wenn Sie einem älteren Menschen einreden, wie es unsere Gesellschaft tut: „Ab 50 hast du keine Ideen mehr“, passiert genau das. Wir müssen es mit der anderen Variante versuchen. Wir werden überrascht sein, welche Ressourcen noch da sind.

Seeberger: Dass einer wie der neue Papst mit 78 ein bedeutsames Amt bekleidet, könnte Normalität werden. Diese „Revolution“ können nur die Achtundsechziger machen. Die Entberuflichung des Alters findet jetzt bei 51 Jahren statt. Dazu gehört der 48-jährige General genauso wie der Lehrer, der in Vorruhestand geht.

Schirrmacher: Unsere Haltung zum Alter ist die von Menschen, die eine Ressource verschleudern: Sie lassen ständig das Wasser laufen. Über 60-Jährige unternahmen einige der wichtigsten Unternehmensgründungen in Amerika. In Deutschland kriegen 60-Jährige keinen Kredit. Das ist, als würden Sie einem 20-Jährigen sagen: „Du hast keine Zukunft mehr.“ Da sollten wir was riskieren. Stellen Sie sich vor: zehn von 100 würden etwas Neues machen, und unter denen hätten zwei das Format des Erfinders und Unternehmers Robert Bosch – das wäre doch großartig!

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