30.11.2010

Wer über Werte schreibt, zumal über europäische Werte, kommt um eine subjektive Antwort nicht herum. Anders als höchstpersönlich lässt sich das Thema nicht behandeln, und manches spricht dafür, dass es fehlender Bekennermut oder das Überwiegen der soziologischen Betrachtungsweise den Bürgern Europas so schwer macht, sich mit dem Projekt Europa zu identifizieren. Ich will meine Überlegungen im Namen derjenigen Werte präsentieren, die ich bewahren möchte.

An erster Stelle steht die Tradition der Menschenrechte, deren Siegeszug um die halbe Welt alles andere als Zufall ist. Sowohl für diejenigen, die sie besitzen, als vielmehr auch für all die anderen, die sie noch entbehren, dürfte ihr überragender Wert außer Frage stehen. Man muss nicht so weit gehen wie der Staatsrechtslehrer Georg Jellinek und sämtliche Menschenrechte auf das eine Recht zur freien Religionsausübung zurückführen. Dass dem Recht der Glaubensfreiheit im Katalog der Menschenrechte eine Schlüsselstellung zukommt, sollte jedoch unstreitig sein. Es waren die Glaubensspaltung und ihre blutige Folge, die Konfessionskriege, die in Europa den Abstand zwischen Staat und Kirche, Heiligem und Profanem, Thron und Altar wachsen ließen und seine Bewohner darüber belehrten, dass es zum Frieden der Gesellschaft beiträgt, Glaubensfragen und Verfassungsfragen auseinander zu halten. Diese Lehre ist nicht nur ihnen selbst, sondern allen, die sie sich zu Eigen machten, zum Vorteil ausgeschlagen. Es ist nun einmal angenehmer, zwei Herren über sich zu haben als nur einen.

Die Propheten des Multikulti sind unfähig, Fremdes als Fremdes wahrzunehmen

Aufschluss über die Werte, die zu verteidigen sich lohnt, weil sie spezifisch europäisch sind, gibt die Geschichte. Für uns als Europäer stellt sich Geschichte als eine Kette von Rebellionen, Reformationen und Renaissancen dar, von Abspaltungen und Sezessionen, deren Wortführer sich zwar immer wieder auf das Alte beriefen, aber nur, um dem Neuen den Weg frei zu machen. Diese Erfahrung hat den Einwand, den Zweifel in seiner vornehmsten Gestalt, den Selbstzweifel also, zur beherrschenden Denkfigur der Europäer gemacht, und das beileibe nicht erst seit Descartes; schon die platonische Akademie, neben der Stoa die einflussreichste der vier antiken Philosophenschulen, hatte den systematischen Zweifel, die Skepsis, zum Markenzeichen erhoben. Skeptisch zu sein und zu bleiben ist nicht nur ein Merkmal, sondern das Merkmal der europäischen Kultur. Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung verrät der Zweifel eben keinen charakterlichen Mangel "oder gar eine Vertrauensstörung, sondern weit eher einen Gesittungsausweis sowie, ins Politische übersetzt, eine bürgerliche Tugend" (Joachim Fest).

Wenn es einen einzelnen Grund gibt für den erstaunlichen Siegeszug, mit dem die europäische Kultur fast die gesamte Welt erobert hat, dann diese Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen. Sie ist das Resultat jener grenzenlosen Neugier, die schon die Griechen auszeichnete. Es war die Neugier, die sie dazu gebracht hat, immer wieder neue Länder, neue Völker, neue Kulturen, neue Verfahren, neue Ansichten und neue Lebensweisen zu entdecken und sich von ihnen anregen zu lassen. Als ihre Erben haben wir von ihnen gelernt, nicht nur die anderen mit unseren, sondern auch uns selbst mit den Augen der anderen zu sehen und neben der Schauseite auch immer die Kehrseite der Münze in den Blick zu fassen. Golden ist die bekannte Regel, kategorisch ist der berühmte Imperativ, universell ist die europäische Kultur doch nur deshalb, weil sie den anderen grundsätzlich dieselben Rechte zugesteht, die sie für sich selbst in Anspruch nimmt. Wenn irgendetwas, dann ist es diese Lust, die Gegenrechnung aufzumachen, und deren notwendige Folge, die Neugier auf andere und der Zweifel an der eigenen Person, der die europäische Kultur überlegen macht. Vorrang steht ja nur denen zu, die darauf keinen Anspruch machen.

Doch Zweifel und Selbstzweifel sind uns Deutschen gründlich abhanden gekommen. Immer eindeutiger zerfällt uns die Welt in oben und unten, in rechts und links, in gut und böse. Bedingt durch unsere jüngere Geschichte, sind wir unfähig geworden, Fremdes als Fremdes wahrzunehmen. Wir wollen es verklären, verharmlosen und verniedlichen. Von der Kultur erkennen wir nur ihre Außenseite, die Pizzabäckereien und die Bauchtanzgruppen, und aus dem Kopftuch machen wir ein modisches Accessoire. Dass es, wie jedes kulturelle Symbol, für etwas steht, vielleicht sogar für etwas Ungewohntes, die Freiheit und das Bürgerrecht Bedrohendes, ist ein Gedanke, der umso panischer fern gehalten wird, je ungemütlicher er sich aufdrängt. Der offiziöse Multikulturalismus, der in Deutschland zum guten Ton gehört, hat für das Unbedingte, sich jedem Kompromiss Verweigernde, das allen lebendigen Kulturen eigen ist, kein Organ mehr. Er setzt auf Dialog auch da, wo dieser Dialog demonstrativ verweigert wird. Das Fremde soll Bereicherung, darf nie Bedrohung sein, auch wenn es allein dadurch bedrohlich wirkt, dass es die Mehrheitsverhältnisse ins Wanken bringt.

Nicht, dass ich Angst hätte, ein Polizeistaat könne mit den Gefahren, die da heraufziehen, nicht fertig werden. Israel hat vorgemacht, dass so etwas geht und wie so etwas geht. Aber der Preis ist mir zu hoch. Ich möchte nicht in einem Staat leben, der seine Bürger bewaffnen muss, um ihnen Schutz vor Anschlägen zu garantieren. Damit zerstört er, was er doch bewahren soll, die Freiheit. Dass eine große Mehrheit von Niederländern nach dem Ritualmord an Theo van Gogh dazu bereit ist, im Kampf gegen den Terror Einschränkungen ihrer Freiheit hinzunehmen, betrachte ich als schlimmes Omen. Die Auskunft, das Auge des Gesetzes sei wachsam, dem Innenminister entgehe nichts, der Verfassungsschutz habe alles im Blick und sämtliche Parallelgesellschaften unter Kontrolle, kann mich weder beruhigen noch trösten. Denn der Überwachungsstaat, der sich anschickt, dem bunten Treiben der offenen Gesellschaft Einhalt zu gebieten, ist nicht mein Staat. Ich will den schlanken Staat, der seine vornehmste Aufgabe darin erblickt, den Bürgern ihre Freiheit zu erhalten.

Der Beitritt der Türkei zur EU setzt die Zustimmung des Wahlvolks voraus

Ich will auch die Grenzen bewahrt sehen, die geografischen und, eng damit verbunden, die kulturellen. Sie sind Bedingung für das vielfältige, bunte und abwechslungsreiche Leben, wie ich es liebe. Die Multikulturalisten tragen ihren Namen doch zu Unrecht, denn was ihnen vorschwebt, ist ja gerade nicht die Vielfalt, sondern die Dämmerung, in der alle Katzen gleich grau und, meistens jedenfalls, gleich hässlich sind: Alle tragen die gleichen Jeans, essen denselben Döner und logieren in Hotelzimmern, die am Polarkreis genauso aussehen wie am Äquator. Das Idyll, von dem manche Kirchenvertreter schwärmen, die Vorstellung von einem Land, in dem deutsche Frauen Bauchtanz üben, Theaterstücke die Situation von Minderheiten vorführen und in den Gottesdiensten Bibelstellen, versetzt mit Liedgut aus verschiedenen Kulturen, in verschiedenen Sprachen vorgelesen werden: dieses Idyll gefällt mir nicht, weil es die Unterschiede ja gerade nicht betont, sondern systematisch abschleift. Der Hass auf alles Verschiedene und Vielartige, Zufällige und Bunte, der schon einen Mann wie Jacob Burckhardt angewidert hatte, ist auch mir zuwider; und Burckhardt war ein guter Europäer.

Ein weiterer europäischer Wert, an dem ich hänge: die Überzeugung, dass Herrschaft der Legitimation bedarf. Die Athener waren die Ersten, die aus der traurigen Erfahrung, dass Macht gefährlich ist, die Folgerung zogen, dass ihr Gebrauch an die Zustimmung der Machtunterworfenen gebunden sein muss. Andernfalls wird sie zur Gewaltherrschaft, zur Tyrannis, die ihnen als die schlechteste von allen Regierungsformen galt. Für Aristoteles besteht der Unterschied zwischen König und Tyrann darin, dass der eine dem allgemeinen Nutzen dient, der andere nicht.

Vor allem deswegen erachte ich es für eine Selbstverständlichkeit, zu einer so weitreichenden, Staatstätigkeit und Staatsverständnis im Grundsatz berührenden und verändernden Frage wie der nach einem Beitritt der Türkei das Staatsvolk zu befragen, in welcher Form auch immer. Nur so kann Europa zu dem werden, was seinen gläubigen Anhängern vor Augen steht, zu einem Europa der Bürger. Bisher ist es das nicht ­ und manches spricht dafür, dass es auch niemals so weit kommen wird.

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