Wenn ein Mensch an Krebs erkrankt, fordert ihn nicht nur die tückische Krankheit heraus. Da sind auch noch all die ungebetenen Ratschläge und Erklärungen, mit denen sich die Gesunden vor ihrer Krebsangst schützen. Ein Erfahrungsbericht
07.10.2010

"Wir müssen doch alle mal sterben!" Viele Menschen haben diesen Satz seit meiner Krebserkrankung zu mir gesagt. Mag er auch gut gemeint gewesen sein, ich fand ihn immer unsensibel. Vor allem, als ich vor über vier Jahren -­ gerade 43 geworden ­ erfuhr, dass mein Brustkrebs in meine Lunge gestreut hat und damit nach schulmedizinischer Auffassung "unheilbar" ist. Als ich vor einem Jahr erneut unter massiver Luftnot und Schmerzen wegen neuer Lungen- und Rippenfellmetastasen litt. Als mir immer klarer wurde, dass mir kein friedlicher Tod im Alter vergönnt sein wird, sondern ein frühzeitiges und wohl auch qualvolles Sterben ­ trotz aller Fortschritte in der Krebstherapie und der Palliativmedizin.

Angst, dass sich Menschen von mir zurückziehen.

Natürlich macht mir all das große Ängste. Angst wegen der ständigen Ungewissheit, wann der Krebs erneut fortschreitet. Angst, ob die neuen Krebstherapien wirken, die mich physisch wie psychisch entkräften. Angst, im Zuge meines Verfalls immer abhängiger zu werden und damit auch meine Autonomie und Würde zu verlieren. Angst, dass sich Menschen von mir zurückziehen.

In all diesen tiefen Ängsten fühle ich mich nicht ernst genommen, wenn so leicht darüber hinweggeredet wird. Was würde ich nicht alles dafür geben, nach einem erfüllten Leben friedlich einzuschlafen! Ich sage mir dann zwar immer, dass die Menschen, die so etwas dahersagen, eigene Ängste vor dem Krebs und dem Tod haben. Sie alle haben Bilder eines langen Siechtums von Krebskranken im Hinterkopf und versuchen, diese Furcht durch solche Relativierungen abzuwehren. Doch trotz aller psychologischen Erklärungen tut es weh. Denn wie viele Betroffene bin auch ich während meiner fortschreitenden Krebserkrankung dünnhäutiger geworden.

Menschen halten ihre eigene Angst vor dieser oft tödlich verlaufenden Krankheit aus

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich will keine bittere Abrechnung schreiben. Im Gegensatz zu vielen Krebskranken habe ich es mit meinem emotionalen Umfeld sehr gut erwischt. Mein Mann, meine Freundinnen und Freunde unterstützen mich nahezu vorbildlich. Sie loben meine Offenheit und Tapferkeit im Umgang mit der Krankheit. Sie sind auch für mich da, wenn es mir schlecht geht und ich durchhänge. Mein Ärzteteam nimmt mich als gut informierte mündige Patientin stets ernst, ist offen für all meine Fragen und hilft mir mit einer individuell auf mich zugeschnittenen Therapie. Die allermeisten Menschen, mit denen ich es zu tun habe, verdrängen und verleugnen nicht, sondern nehmen mich und mein Todesurteil einfach an. Sehen in mir nicht nur die arme Krebspatientin, sondern den Menschen, den sie mögen. Halten ihre eigene Angst vor dieser oft tödlich verlaufenden Krankheit aus, wenn sie mir begegnen.

Insofern erlebe ich auch eine viel tiefere Qualität in vielen zwischenmenschlichen Beziehungen, die mich wärmt. Aber auch Veränderungen: Ein paar Freundschaften, die mit meinem Krebs nur schlecht umgehen können, sind mir weniger wichtig geworden. Dafür sind neue Beziehungen entstanden, bei denen ich mich voll verstanden und angenommen fühle.

Doch ich will nicht beschönigen und idealisieren. Mich nicht als die "Ausnahme"-Krebspatientin präsentieren, die keinerlei schlechte Erfahrungen gemacht hat. Das wäre nicht ehrlich. Auch von mir haben Menschen sich zurückgezogen, als ich ihnen von meinen Metastasen berichtete ­ nur ganz wenige und aus meinem weiteren Umfeld, aber es hat mich trotzdem verletzt. Auch wenn ich mir sagte, dass diese Menschen es wohl nicht aushielten, dauernd mit eigenen Todesängsten konfrontiert zu werden.

Einige Bekannte haben mir auch -­ offen oder versteckt -­ unterstellt, selbst irgendwie an meinem Krebs schuld zu sein. Sie hörten mir nicht zu, aber maßten sich selbstgerecht Bewertungen an. "Du hast dich im Beruf zu sehr unter Druck gesetzt", mutmaßte ein Bekannter. Und eine Kollegin belehrte mich: "Als deine Mutter mit Brustkrebs im Sterben lag, hast du dich zu sehr von ihr vereinnahmen lassen." Solche Schuldzuweisungen haben mich anfangs sehr gekränkt und mich zu Rechtfertigungen über meine Lebensführung getrieben. Dabei bleibt man aber immer in der Defensive. Als ob ich mich nicht selbst schon mit Schuldvorwürfen gequält hätte. Ich musste erst mühsam lernen, endlich nachsichtiger mit mir umzugehen!

Heute macht es mich vor allem wütend, wenn ich solcher Ignoranz begegne. Auch wenn ich wieder weiß, dass dahinter die Angst steht, selbst an Krebs zu erkranken. So nach dem Motto: Wenn ich deine Fehler nicht begehe, dann bin ich selbst vor dieser Krankheit geschützt. Wenn ich selber "richtig" lebe, dann werde ich nicht krank. Doch alle rückwärts gewandten Schuldgefühle helfen nicht, sie nehmen uns Kranken nur die notwendige Kraft für unseren ohnehin schweren Alltag.

Und warum erkranken auch so viele Menschen an Krebs, die ausgeglichen in sich ruhen?

Deshalb protestiere ich heute laut, wenn ich mir zum zigsten Mal die längst widerlegte Mär von der angeblichen "Krebspersönlichkeit" anhören muss. Zitiere jüngste Studien, die eindeutig belegen, dass nicht nur die "seelisch Angeschlagenen" (Susan Sontag) Krebs bekommen, "die alles in sich hineinfressen und alles unterdrücken, vor allem Aggressionen und sexuelle Gefühle". Warum, bitte schön, bekommen dann schon Kleinkinder Krebs, die diese negativen Persönlichkeitsmerkmale doch noch gar nicht entwickeln konnten? Und warum erkranken auch so viele Menschen an Krebs, die ausgeglichen in sich ruhen?

Doch manche Menschen wollen sich ihre Schuldzuweisungen nicht nehmen lassen, sie fühlen sich dadurch wohl besser vor eigenem Krebs geschützt. Krankheit als Strafe für falsches Handeln ­ das gäbe dem Ganzen doch wenigstens einen Sinn, würde es begreifbar machen. Würde uns wieder ein Stück Kontrolle zurückgeben. Würde uns die Angst nehmen, dem Schicksal einfach ausgeliefert zu sein. Wie schwer dagegen ist es, einfach auszuhalten, dass solche Krankheiten keinen Sinn haben und potenziell alle Menschen treffen können! Auch diejenigen, die wie ich glaubten, "alles richtig gemacht" zu haben. Weder die vollwertige Ernährung noch die ausreichende Bewegung haben mich vor dem Krebs bewahrt. Weder mein interessanter Beruf noch mein gutes emotionales Umfeld. Es ist eben nicht so einfach.

Ungeduldig reagiere ich heute auch auf Menschen, die mir einreden wollen, ich müsse meinem Krebs noch dankbar sein. Schließlich habe dieser doch einen "Sinn" gehabt und mich auf falsche Verhaltensmuster aufmerksam gemacht. Und er habe durch die Konfrontation mit dem Tod meinen Lebensgenuss gesteigert.

Verhaltensänderungen bringen nur zusätzliche Lebensqualität

Krankheit als Chance -­ daran habe ich direkt nach meiner ersten Krebsdiagnose auch noch geglaubt. Ich war erst 37, als mir 1995 ein kleiner Knoten aus der Brust herausoperiert wurde. Da griff ich noch nach jedem Strohhalm, um die existenzielle Angst besser aushalten zu können. Wie gerne wollte ich aus meinen Fehlern lernen und es besser machen! Immer nach dem naiven Motto: Wenn ich mir den Krebs durch falsches Verhalten selbst gemacht habe, dann kann ich ihn auch wieder wegmachen. Dann, so hoffte ich, wäre der Krebs nur ein Warnschuss gewesen, besser mit mir umzugehen. Dann wäre ich ihm sogar dankbar gewesen, weil er mir die Augen für ein noch intensiveres Lebensgefühl geöffnet hätte.

Doch spätestens seit meinen ersten Lungenmetastasen weiß ich, dass mir all meine Verhaltensänderungen zwar zusätzliche Lebensqualität, aber keinen Sieg über meinen Krebs gebracht haben. Die Krankheit schreitet trotzdem voran. Und wieder plagte ich mich mit Schuldgefühlen, was ich wohl immer noch falsch gemacht hatte. Heute jedoch habe ich dafür einfach keine Kraft mehr. Die brauche ich voll und ganz, um mit meinen oft massiven Krebsbeschwerden und den Nebenwirkungen der Krebstherapien fertig zu werden. Und mit meinen immer wiederkehrenden Ängsten. Heute bin ich meinem Krebs ganz und gar nicht mehr dankbar. Er wird mir weiterhin ganz viel Leid bringen, auch wenn ich noch so an mir arbeite. Und ich werde sogar die größte Kränkung hinnehmen müssen und an ihm sterben.

Aber auch das wollen einige Menschen nicht wahrhaben: Sie reden auf mich ein, ich könnte geheilt werden, wenn ich nur daran glaube. Natürlich meinen sie es im Grunde gut, wollen mich aufmuntern und mir Hoffnung geben. Manche werden sogar richtig böse, wenn ich auf die schulmedizinische Auffassung verweise, wonach fortgeschrittener ("metastasierender") Brustkrebs nur noch palliativ, also schmerzstillend zu behandeln sei. "Glaube kann Berge versetzen", beschwören sie mich und ereifern sich, wenn ich trotzdem Zweifel hege. Sie beharrten auch auf einer Heilungschance, als ich im Sommer 2003 bereits zum zweiten Mal Lungen- und Rippenfellmetastasen bekam. Auch als ich dann im Herbst und Winter unter Luftnot und Schmerzen litt. So viel Realitätsverleugnung macht mich sprachlos.

Bei diesen Menschen fühle ich mich nicht angenommen

Wie gerne würde ich doch selber hoffen ­ doch will ich mich auch vor falschen Hoffnungen schützen! Seit Jahren suche ich vergeblich nach einer Frau, die ihren fortgeschrittenen Brustkrebs wirklich überlebt hat und nicht nur wie ich längere Zeit Remissionen (Rückbildungen) hatte. All meine Ärzte gehen davon aus, dass ich irgendwann an meinen Metastasen sterben werde ­ wenn ich nicht vorher durch einen Unfall zu Tode komme. All diese Statistiken und Erfahrungen kann und will ich nicht ignorieren. Hoffnung ist etwas, was man hat oder nicht ­ man kann sie sich nicht einreden lassen.

Manche sehen das ein, andere bestehen weiter darauf, dass ich geheilt würde, wenn ich nur wollte. So haben sie schon vorsorglich eine Schuldige parat, wenn es mit der Heilung doch nicht klappt. Und damit auch weniger Angst um sich selbst ­ denn sie selbst würden ja an eine Heilung glauben. Bei diesen Menschen fühle ich mich nicht angenommen, wenn ich mal wieder durchhänge und Angst habe.

Und dann gibt es natürlich noch die Beschöniger: "Dir geht es doch gut", sagen sie beschwörend zu mir, Angst im Blick. Da traue ich mich natürlich nicht, von körperlicher Schwäche, Nebenwirkungen und Ängsten zu sprechen, um sie nicht noch weiter zu ängstigen. Deshalb nicke ich mittlerweile auch zum sicher gut gemeinten Standardkompliment: "Du siehst aus wie das blühende Leben." Meist fühle ich mich wirklich nicht so. Doch das wollen viele nicht hören, weil es ihnen die Illusion raubt, man schwebe gerade im fortgeschrittenen Krebsstadium von einem intensiven Glücksmoment zum nächsten. Eben weil die bewusste Begrenztheit des Daseins die Intensität steigert. Stimmt sicher, aber bei mir zumindest nicht immer. Gerade bin ich wieder sehr dankbar, dass eine Krebstherapie erfolgreich meine Metastasen in Schach hält. Manchmal bin ich aber auch ganz unheroisch klein, feige, hadernd und ängstlich. Und möchte dann auch so angenommen werden.

Viele Krebskranke berichten mir immer, wie sehr sie sich von den Ratschlägen ihrer Mitmenschen unter Druck gesetzt fühlen, ihre Lebensführung zu ändern. Das macht mir nichts aus, auch wenn ich zum zigsten Male Rote Bete empfohlen bekomme, die ich seit Jahren ohnehin regelmäßig esse. Die einen schwören auf Milchprodukte, die anderen wissen genau, wie krebsfördernd diese sind ­ ich höre zu und danke beiden. Und kann nachfühlen, dass es diesen Menschen etwas von ihrer Hilflosigkeit nimmt, wenn sie mir gut gemeinte Ratschläge erteilen. Die lllusion vermeintlicher Kontrolle über eine zumindest im Kern nicht kontrollierbare Krankheit. Wie gern hätte ich diese Illusion noch selbst.

Finden Angehörige und Freunde den richtigen Ton im Umgang mit Krebskranken? Welche Erfahrungen haben Sie zu diesem Thema gemacht, liebe Leserinnen und Leser?

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