Foto: Matthias Jung
"Ob Glück oder Pech, man lernt im Fußball beides in Demut anzunehmen"
Auf der Bühne wie auf dem grünen Rasen gilt: Das Spiel ist das Leben – aber das reicht weder dem Theaterintendanten noch dem Fußballtrainer.

23.09.2011

CHRISMON: Sie arbeiten beide in Milieus, die ziemlich geschlossen sind. Theater wie Profifußball sind eine Welt für sich. Kriegt man da von der Außenwelt überhaupt etwas mit?

ULRICH KHUON: Nicht immer! Das Theater würde natürlich gern mitten in der Gesellschaft stehen. Gelegentlich erregen wir Aufsehen durch unsere Aufführungen, aber im Grunde erreicht man doch nur einen sehr überschaubaren Kreis. Deshalb beneiden wir den Profifußball gelegentlich wegen seiner großen Massenwirkung. Ansonsten habe ich als Intendant viel zu tun: Ich gehe morgens ins Theater rein und nachts wieder raus.Das ist ein bisschen wie ins Bergwerk einfahren.

RALF RANGNICK: Stimmt. Nach zwei Monaten Arbeit auf Schalke hatte ich zum ersten Mal keinen Termin. Anfangs wollen einen die Medien kennen lernen und da bleibt kaum Luft zum Atmen. An dem ersten freien Nachmittag aber bin ich in die Sauna gegangen und habe gemerkt: „Mensch, ohne Brille und ohne Kleidung erkennen die Leute dich gar nicht – herrlich!“

CHRISMON: Schalke ist ganz oben in der Bundesliga,das Thalia wurde schon mehrfach als das beste Theater in Deutschland ausgezeichnet. Sie spielen also beide in der obersten Spielklasse Ihrer Branche. Ist es etwas Besonderes, dort zu arbeiten, oder ist es im Grunde nach einer Weile genauso wie früher in der Provinz?

RANGNICK: Nein, es ist schon anders, und ich bin auch ein wenig stolz darauf, hier Trainer sein zu dürfen. Ich war ja nie aktiver Profi, nie ein Fußballstar und hatte diesen Bonus nicht, als ich ins Trainergeschäft eingestiegen bin. Als Exprofi ist das anders. Da kriegt man ja doch schon mal einfach so die ersten ein, zwei Trainerstellen. Nach dem Motto: „Hättest du nicht Lust, Fortuna Köln zu trainieren?“ So war es damals bei Bernd Schuster. Wenn Fortuna Köln damals jemanden wie mich genommen hätte, hätten sie die Verantwortlichen wahrscheinlich für verrückt erklärt: „Was für ein Risiko, wie können Sie das nur eingehen?“

KHUON: Haben Sie Vorbehalte gespürt, als Sie in Stuttgart zum ersten Mal eine Erstligamannschaft trainierten?

RANGNICK: Natürlich. Für die Spieler war ich damals einNobody aus der Zweiten Liga. Beim VfB Stuttgart spielten Weltmeister wie Thomas Berthold, Weltklassespieler wie Kassimir Balakow oder so erfahrene Spieler wie Torhüter Franz Wohlfahrt und Libero Frank Verlaat. Da überwog die Skepsis, da wurde man mit Argusaugen beobachtet, trotz allem was ich damals schon mit dem SSV Ulm erreicht hatte.

KHUON: Ich war sehr lange Dramaturg und Intendant in Konstanz. Als ich dann als Intendant nach Hannover kam, fragten viele: „Wo kommt denn der her? Hätten wir nicht einen bedeutenden Dramaturgen von einem großen Haus holen können?“ Es gibt ja heute viele Dramaturgen, die steigen gleich in Hamburg ein und haben einfach diese Aura als Vorschuss. Das macht manches leichter.

RANGNICK: Muss man als Intendant eigentlich auch ein guter Schauspieler gewesen sein?

KHUON: Nein. Es gibt natürlich Regisseure, die Schauspieler waren, und es gibt Regisseure, die gleichzeitig Intendanten sind. Ich habe in Hannover aufgehört zu inszenieren. Ich habe mir gedacht, als Intendant an einem großen Theater bin ich ausgelastet, die Aufgaben sind vielfältig, und ich suche lieber Regisseure, die besser sind als ich.

RANGNICK: Klar, der Druck in der Bundesliga ist enorm. Aber man muss trotzdem im Tagesgeschäft ganz praktische Entscheidungen treffen: Wer trainiert heute mit, wer nicht? Wer wird am Samstag für den Kader nominiert, wer nicht? Der einzige Unterschied zur Regionalliga ist das übergroße öffentliche Interesse, der Fokus der Medien ist hier zehn Mal so groß! In Ulm hatte ich einmal in der Woche eine Pressekonferenz, hier wollen jeden Tag 15 Journalisten was von mir. Aber die Arbeit mit der Mannschaft, das heißt, dafür zu sorgen, dass es eine verschworene Gemeinschaft wird, die ist eigentlich überall gleich.

KHUON: So nah an der Mannschaft dran bin ich als Intendant natürlich nicht. Im Fußball wäre ich momentan wohl eherder Vereinspräsident oder der Manager als der Trainer. Aber ich muss aufpassen, dass ich nicht zu sehr am Schreibtisch festwachse, denn das Theaterspiel ist es, was mich im Innersten fasziniert. Dafür mache ich Lobbyarbeit, Kulturpolitik und all diese Sachen.

CHRISMON: Was hat denn Theater mit dem Alltag zu tun?

KHUON: Wir Theaterleute haben immer wieder die faszinierende Aufgabe, einerseits genau auf unsere Welt zu schauen und dann zu überlegen, wie heben wir sie auf die Bühne, verwandelt, aber doch erkennbar. Um das zu schaffen, braucht man ein Team, das sich aufeinander verlassen kann. Ein Team, in dem alle so uneitel sind, auch andere den Schritt nach vorne gehen zu lassen und sich selbst bewusst zurückzunehmen. Denn einsam ist man verloren, aber das totale Kollektiv ist auch tödlich.

CHRISMON: Warum brauche ich denn ein Ensemble? Könnte ich nicht auch für jede Vorstellung ein paar Starschauspieler zusammentrommeln?


KHUON: Nein, nein, das ist wie im Fußball: Wenn die Weltauswahl gegen eine gute Bundesliga-Mannschaft spielt, dann hat es die Weltauswahl schwer, weil sie nicht so gut zusammenspielt und nicht aufeinander eingeschworen ist.

RANGNICK: Genau dafür ist seit zwei Jahren Real Madrid ein gutes Beispiel. Aber im Fußball kann man sowieso nicht planen im Sinne von „Wenn ich auf Knopf A drücke, passiert B“. Es gibt so viele Unwägbarkeiten. Als Trainer versuche ich darauf einzuwirken, aber Leistungssport – und ganz speziell Fußball – ist und bleibt der Versuch, das eigentlich Unkalkulierbare ein Stück weit zu planen.

KHUON: Aber ist das im normalen Leben anders?

RANGNICK: Nein. Der Mensch versucht ja alles Mögliche zu planen, und vieles hat er auch schon geschafft. Aber es gibt immer noch kein Mittel gegen Krebs, es gibt immer noch kein Mittel gegen Aids. Uns wird immer wieder aufgezeigt, dass es unmöglich ist, die Welt komplett zu planen. Aber das ist auch gut so. Ob im Leben oder im Fußball: Man lernt immer wieder, Glück oder Pech, sein Schicksal zu akzeptieren und mit einer gewissen Demut anzunehmen. Man kann nicht alles im Griff haben.

CHRISMON: Was ist denn dann die richtige Strategie?

KHUON: Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Ziele immer neben das Zentrum!“ Das heißt, wer sein Ziel krampfhaft verfolgt, der erreicht es nicht. Wer diese Verfügbarkeit, diese totale Kontrolle will, der scheitert. Ich versuche tagtäglich die Dinge so weit wie möglich zu planen. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es meist besser ist, sich auf konkrete Menschen zu verlassen als auf abstrakte Strategien. Es bringt nichts, immer Druck zu machen. Man muss auch vertrauen können, dem Autor, dem Regisseur oder einem Schauspieler. Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass die Menschen, wenn sie Vertrauen spüren, sofort viel besser arbeiten. Dann entfaltet sich viel Eigendynamik.


RANGNICK: Stimmt, gerade die ganz Großen sind oft sehr empfindlich: Unser Spieler Lincoln zum Beispiel ist wirklich ein brillanter Fußballer. Der hat einfach eine ganz hohe Qualität. Aber er ist auf der anderen Seite auch ein sehr empfindsamer Mensch, der sofort spürt, wenn um ihn herum irgendetwas nicht stimmt. Ich glaube, dass Lehrer dann besonders erfolgreich sind, wenn sie ihren Schülern zu verstehen geben, dass sie von ihnen überzeugt sind. Wenn ich von vornherein jeden Tag nur sage: „Du kannst es eh nicht!“, ihm nur Fehler vorhalte und ihm vorrechne, was er alles nicht kann, dann wird das nichts!

CHRISMON: Ihnen beiden eilt der Ruf voraus, einen Blick für Talente zu haben. Wie macht man das? Talent haben viele, aber wie erkennt man das gewisse Etwas?

KHUON: Man darf nichts überstürzen! Wenn ich einen Schauspieler oder Regisseur interessant finde, gehe ich nicht so schnell auf ihn zu. Ich gebe auch nicht zu viel auf Zeitungskritiken. Ich schaue mir einige Arbeiten an und beginne das Gespräch. Daraus entwickelt sich oft etwas, das weiter trägt als von der Marktsituation provoziertes Kennenlernen.

RANGNICK: Wie groß ist bei Ihnen die Gefahr, dass Ihnen jemand, den Sie sich drei-, viermal angeschaut haben, von der Konkurrenz weggeschnappt wird? Das ist ja häufig unser Problem.

KHUON: Nicht so extrem wie im Fußball. Es geht bei uns ja nicht in erster Linie ums Geld, denn Schauspieler und Regisseure entscheiden sich auch immer für ein Team, und man bleibt dann schon eine etwas längere Zeit. Aber natürlich werden ab und an auch in unserem Geschäft Leute abgeworben. Das sind dann die kleinen Kränkungen, aber damit muss ich leben.

RANGNICK: In der Bundesliga besteht durch den ganzen Medienzirkus und das viele Geld, das im Spiel ist, die Gefahr, dass der natürliche Spaß am Spiel auf der Strecke bleibt. Deswegen ist es heute die Hauptaufgabe des Trainers, im Team eine gewisse Lockerheit zu fördern. Es heißt ja nicht umsonst Fußballspiel! Mein Bielefelder Kollege Uwe Rapolder hat neulich mal gesagt, für ihn ist das Erlebnis mindestens so wichtig wie das Ergebnis. Das stimmt! Wir können es uns auf Schalke gar nicht oft leisten, samstags ein ergebnisorientiertes Rückpassfestival zu veranstalten, denn dann gehen die Fans gelangweilt nach Hause. Wenn wir schon nicht gewinnen, dann sollen sie mit einem 4 : 4 heimgehen und sagen: „Oh, das war geil heute.“ Um das zu erreichen, muss man in den Spielern den puren Spieltrieb wecken, sonst wird das nichts.

CHRISMON: Was ist Erfolg für Sie?

KHUON: Zum einen definiert sich Erfolg natürlich von außen: Kritiken in der Presse, die Platzausnutzung und natürlich auch Auszeichnungen wie „Theater des Jahres“. Klar, dieser Erfolg ist wichtig, aber es gibt auch einen inneren Erfolg. Den empfinde ich, wenn ich merke, dass uns die Suche nach dem künstlerischen Ausdruck glückt. Ob das dann vom Publikum gewürdigt wird, ist zuweilen eine ganz andere Sache.

RANGNICK: Im Fußball kann man äußeren Erfolg immer an der aktuellen Tabelle ablesen. Natürlich arbeite ich mit aller Kraft dafür, dass Schalke diesmal Meister wird. Trotzdem bestimmen nicht nur Titel den Erfolg des Teams. Für mich heißt Erfolg auch zu erleben, dass sich einzelne Spieler gut entwickeln, dass sie immer mehr lernen, ihr Potential auszuschöpfen, und dass man innerhalb der Mannschaft einen guten Umgang pflegt.

CHRISMON: Was haben Sie für eine Beziehung zu den religiösen Anteilen in Ihrer Profession? Zu der Heldenverehrung der Fans oder der „Liturgie“ eines Fußballspiels?

RANGNICK: Im Stadion nehme ich das ehrlich gesagt nicht so wahr, denn da muss ich mich auf andere Dinge konzen-trieren. Aber an mir selbst merke ich allmählich, dass ich mich immer mehr mit Sinnfragen beschäftige. Das Leben ist endlich, und ich habe wahrscheinlich schon die Hälfte überschritten. Da fängt man irgendwann an darüber nachzudenken, was das Leben eigentlich soll? 

KHUON: In unserer säkularisierten Welt gibt es ja die Sehnsucht, sich mit etwas völlig zu identifizieren. Man kann auch sein ganzes Leben auf diese Wochenenden und sein Fansein ausrichten, Schalke ist dafür ein gutes Beispiel. Das schafft den Fans ein Stück Lebenssinn. Auch wir beim Theater beschäftigen uns mit Sinnfragen, ja, sie begleiten uns dauernd. Aber das Theater hat nicht die Antworten der Religion, sondern wir ringen als Künstler mit diesen Fragen und wir versuchen, diese Fragen zwingend zu stellen, so dass der Zuschauer eine eigene Antwort findet – mit oder ohne Gott.

RANGNICK: Ich glaube, dass auch die Zuschauer spüren, wie eine Mannschaft zusammenspielt. Ob die nur auf den Erfolg schielt, ob sie nur eine Zweckgemeinschaft ist oder ob da ein bisschen mehr dahinter steckt und es ein Team ist, das gerne und mit Lust zusammenspielt. Diese Art von Spiritualität, die das mit sich bringt, die ist das Herz des Spiels!

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