Erfüllte Zeit
Mehr als vierzig Jahre nach ihrem ersten Kuss begegnen sie sich wieder. Ihre späte Liebe führt sie in eine glückliche Ehe. Die Erinnerungen der Lotte Guse. Ein Protokoll
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Ich war immer zufrieden. Mein ganzes Leben lang. Auch mit Ende 40, Anfang 50, wenn viele Frauen denken: "War das jetzt alles? Wie geht es jetzt weiter?" Das Wort "glücklich" habe ich aber erst benutzt, nachdem Kurt und ich geheiratet hatten. Wir waren beide Ende sechzig, ich war bis dahin ledig geblieben. Es war eine späte, erfüllte Liebe.

Kurt Guse kannte ich, seit ich acht Jahre alt war. Wir sind in Limmritz groß geworden. Vor dem Krieg gehörte Limmritz zu Brandenburg, Kreis Oststernberg, der ist östlich der Oder. Heute liegt das Dorf in Polen. Damals haben Kurt und ich oft Radtouren durch die wunderschöne Landschaft des Warthebruchs unternommen. Oder wir sind auf dem nahe gelegenen Radacher See gerudert.

Dann kam dieser schöne laue Abend im August 1938. Auf dem Dorfplatz war ein Karussell aufgefahren. Kurt war 16, ich 14 Jahre alt. Wir haben uns mit Begeisterung in den Karussellkutschen Runde um Runde drehen lassen. Sommerabende sind ja lang. Irgendwann wurde es Zeit, nach Hause zu gehen. Wir sind an der Kirche vorbei den Kastanienweg hinunter zu unserem Haus spaziert. Kurt meinte, wir könnten uns ja noch ein wenig unterhalten. Hinter der Remise unter den Kastanien gab es dann den ersten Kuss. Bis heute ziehen mich Kastanienbäume magisch an.

Kurt lief sofort zu sich nach Hause. Später hat er mir erzählt, dass er gar nicht mehr ins Lokal seiner Eltern gegangen ist, was er sonst immer tat. An dem Abend lief er sofort auf sein Zimmer. Er konnte die ganze Nacht nicht schlafen, so aufgeregt war er. Mir ist es ähnlich ergangen. Ich kam nach Hause, ging durch den Garten in unser Wohnhaus. Meine Mutter sagte: "Wo kommst du denn her? Du wolltest doch nicht so lange bleiben." Auch ich bin gleich auf mein Zimmer gegangen.

"Du, Kurt Guse hat geheiratet"

Im Dorfe war längst bekannt, dass Lottchen Faber und Kurt Guse zusammen gehen. Vater Guse rief mir manchmal zu: "Na Lottchen, du wirst mal meine Schwiegertochter." Aber wir waren auch sehr schüchtern. Wir haben uns noch ein zweites Mal als Jugendliche geküsst. Das war in den Sommerferien 1939. Dann kam der Krieg.

Zum sozialen Pflichtjahr ging ich in die evangelische Diakonieanstalt Lobetal bei Bernau. Kurt besuchte mich einmal, aber die Frömmigkeit dort war ihm wohl fremd. Nach dem Krieg besuchte Kurt mich in Berlin, wo ich inzwischen Diakonieschwester war. Als er plötzlich vor mir stand, dachte ich erst, das sei ein Geist. Ich hatte gehört, Kurt sei im Krieg vermisst. Nun standen wir völlig sprachlos da, ich in meiner Schwesterntracht. Auch da sei ich ihm ein Stückchen fremder als zuvor gewesen, hat er später gesagt.

Kurt wohnte in der sowjetischen Zone, in Schwerin, ich in Westberlin. Erst besuchte Kurt mich regelmäßig, dann vergingen ein paar Monate, in denen er nicht mehr kam. Irgendwann teilte mir meine Mutter mit: "Du, Kurt Guse hat geheiratet."

Damit war für mich dieses Kapitel zu Ende. Später trafen wir uns jedes Jahr bei den Heimattreffen der Vertriebenen aus unserem Kreis Oststernberg. Seine Frau ist nie mitgekommen. Wir haben uns auch viele Jahre telefonisch zum Geburtstag gratuliert. Manchmal war seine Frau am Apparat. Wenn ich sagte: "Hier ist Lotte Faber, ich möchte gerne Ihren Mann sprechen", rief sie laut: "Kurt, komm mal ans Telefon. Dein Lottchen ist da." Nach dem Tod meiner Mutter blieb ich den Heimattreffen fern. Da brach auch der Kontakt zu Kurt ab.

Kurt umarmt mich und gibt mir einen Kuss

Es war im Juni 1991. Ein herrlicher Tag. Ich ging seit langem zum ersten Mal wieder auf ein Heimattreffen des Kreises Oststernberg. Eigentlich wollte ich dort eine Freundin treffen. Als ich das Restaurant betrat, konnte ich niemanden erkennen. Von allen Seiten flutete Sonnenlicht durch die Fenster und blendete mich. Plötzlich merkte ich, wie jemand auf mich zukam, mich in den Arm nahm und sagte: "Lotte, Kind, dass ich dich wiederfinde." Das war Kurt. Seine Frau war wenige Jahre zuvor gestorben. Das hatte ich bereits über Umwege erfahren.

Wir tauschten unsere Telefonnummern aus und verabredeten uns. Doch es sollte noch ein halbes Jahr dauern, bis Kurt sich nach diesem Heimattreffen ein Herz fasste und mich besuchte. Am 16. März 1992 kam er mit einer Riesenpackung Konfekt und einem Hut auf dem Kopf. Kurt hatte früher nie Hüte getragen. Wir haben erzählt, erzählt, erzählt. Zwei Stunden wollte er bleiben. Es wurden fünf. Er blieb zum Abendbrot, hat aber kaum etwas gegessen, weil er so aufgeregt war. Die vierzig Jahre, in denen wir kaum Kontakt hatten, waren weg. Jeder hatte für sich so vieles erlebt, und doch waren wir einander seltsam vertraut.

Ende Mai haben wir uns wieder verabredet. Manchmal gibt es eine Atmosphäre, die man so gar nicht richtig beschreiben kann. Das Auferstehen der Erinnerungen an die Kindheit, die vielen Geschichten, die man damit verbindet. Es war wieder spät geworden, ich musste das Treppenhaus mit hinunterkommen, weil unser Haus abends abgeschlossen ist. Und was passiert da? Kurt umarmt mich und gibt mir einen Kuss. Und ich war so fasziniert, dass ich den Kuss erwidert habe. Eine alte Frau.

"Du warst halt immer mein Traummädchen"

Am andern Tag rief er mich an und erzählte, dass er die ganze Nacht nicht schlafen konnte. "Als ich von dir wegging, bin ich erst einmal in eine Kneipe gegangen und habe einen Kognak getrunken." So ist das abgelaufen. Und so reagieren auch alte Menschen, das will ich damit sagen.

Kurz darauf fuhr ich mit zwei Freundinnen in die Toskana. Den Urlaub hatten wir schon lange verabredet. Vor meiner Abreise kam Kurt noch einmal. Wir haben uns endlos lange unterhalten, auch gar nicht geschlafen. Ich musste am nächsten Morgen um sechs Uhr am Bahnhof Zoo sein. Auf der Fahrt haben meine Freundinnen gesagt: "Mit dir ist irgendwas los." Ich konnte nicht sagen, was. Fast jeden Abend habe ich Kurt angerufen. Und Kurt schrieb jeden Tag einen Brief zu mir nach Hause. Jeden Tag rechnete er aus, wie viele Sekunden es dauern würde, bis ich wiederkomme.

An meinem 69. Geburtstag beschlossen wir zu heiraten. Kurt hat es seinen Kindern erzählt, und die haben ihm zugeredet. Ich musste niemandem etwas sagen. Die Hochzeit fand 1993 im ganz kleinen Kreise statt.

Unsere Ehe war eine sehr erfüllte Zeit, wie ich sie mir vorher nie hätte vorstellen können. Wenn wir in frühen Jahren geheiratet hätten, wären wir auch zurechtgekommen. Aber jetzt hatten wir Zeit. Wir hatten keine wirtschaftlichen Sorgen, keinen beruflichen Stress. Früher hatte ich oft gedacht, als Kind werde man verwöhnt, als Erwachsene nicht mehr. Aber von meinem Mann bin ich sehr umsorgt und verwöhnt worden.

Meinem Mann ging es ähnlich. Während unserer Ehe hat er öfter gesagt: "Du warst halt immer mein Traummädchen." Vor seinem Tod sagte er: "Ich habe mir nie vorstellen können, dass ich so glücklich sein könnte."

"Ich möchte wenigstens noch zehn Jahre mit dir verheiratet sein"

Unsere 75. Geburtstage haben wir groß gefeiert, mit Freunden, meinen früheren Kollegen und seinen Verwandten. Beim Geburtstag meines Mannes unternahmen wir eine wunderschöne Landpartie nach Wildenbruch. Da war er lebhaft und hat eine entzückende, frische Rede gehalten, in der er erzählte, wie wir uns als Kinder kennen lernten. An meinem Geburtstag zwei Jahre später war er stiller. Wir feierten in Berlin im "Palais am Festungsgraben". Danach begann es, dass er sich schlecht fühlte.

Im Winter beschlossen wir, noch einmal in den Schnee zu fahren. Mein Mann liebte Schneelandschaften. Wernigerode im Harz kannten wir beide noch nicht. Nur wann sollten wir fahren? Der Arzt drängte auf eine Operation. Allerdings musste mein Mann noch einen Monat auf ein Krankenhausbett warten. Das war eine geschenkte Zeit. Zeit für unsere letzte Winterreise.

Es waren nicht viele Leute im Hotel zur Post in Wernigerode. Wir wurden wunderbar versorgt. Mit der Brockenbahn fuhren wir über die Schneegrenze hinauf, gingen im Schnee spazieren und saßen draußen. Die Sonne schien. Später sind wir mit dem Taxi wieder runtergefahren. Wir wollten es noch intensiver haben als im vollen Zug.

Kurt hat im Laufe der Jahre immer gesagt: "Wir haben so viel nachzuholen. Ich habe dem alten Herrn signalisiert, er möchte unsere Wecker nicht so früh stellen. Ich möchte wenigstens noch zehn Jahre mit dir verheiratet sein, damit ich dir rote Rosen schenken kann." Tatsächlich hatten wir nur sieben Jahre.

"Am besten wäre es, wir würden jetzt einschlafen"

Manchmal sagte er auch: "Wenn das nicht geht, dann möchte ich wenigstens vor dir sterben." ­ "Warum sagst du das?", habe ich gefragt. "Dann bleibe ich ja allein zurück." ­ "Ich möchte nicht alleine sein", hat er geantwortet. Oder er sagte: "Am besten wäre es, wir würden jetzt einschlafen und alle beide im Himmel wieder erwachen."

Zurück in Berlin, gingen wir ins Krankenhaus. Früher als Dozentin für Sozialarbeit habe ich einmal eine Vorlesung über Sterben und Tod gehalten. Da gab es ein Buch mit dem Titel: "Ich möchte an der Hand eines Menschen sterben". Jeden Tag vom frühen Mittag bis zum späten Abend war ich nun bei ihm. Als besonders schlimm empfand ich es, als bei meinem Mann ein Kehlkopfschnitt gemacht werden musste. Von da an konnten wir uns nicht mehr unterhalten. Zudem wurde mein Mann ins künstliche Koma verlegt. Mein Mann hatte hübsche blaue Augen. Doch wenn ich das Augenlid hochzog, konnte ich kein Leben mehr erkennen.

Als man ihn aus dem Koma herausholte, saß ich an seinem Bett. Mein Mann hob seine Hand, legte sie auf meinen Kopf und hat mich eine ganze Weile angeguckt. Anschließend schlief er ein. Das war das Letzte, was im wachen Zustand von ihm war. In seinen letzten Tagen bei Bewusstsein hatte Kurt mir von seiner Großmutter erzählt, die er sehr geliebt hatte. Sie war während des Krieges gestorben. Damals war Kurt Soldat. Er sah sie zum letzten Mal während eines Fronturlaubes. Wegen eines Schlaganfalls konnte sie nicht mehr sprechen. Als Kurt sagte: "Großmutter, ich muss zurück an die Front", legte sie ihm die Hand auf den Kopf. Wie zum Segen. Mein Mann wurde dieses Bild überhaupt nicht mehr los.

Er ist an meiner Hand gestorben

Es war der 1. Mai, herrlichstes Wetter. Er ist an meiner Hand gestorben. Sie war kalt. Aber sein Gesicht war noch warm. Ich habe es gestreichelt. Die Urnenbeisetzung konnte erst Anfang Juni erfolgen, weil Kurts Tochter im Urlaub war. Ich war in der Zwischenzeit mit einer Reisegruppe in unserem Heimatdorf Limmritz und habe von dort ein Glas Erde mitgenommen. Und einige Kastanien vom Baum an Kurts Elternhaus, die waren noch ganz grün. Ich habe sie nachher ins Grab geworfen.

Nach dem Tod meines Mannes habe mich sehr einsam gefühlt. Ich habe mich für lange Zeit in einen Kokon eingesponnen. Manchmal habe ich gedacht: "So kann es auch nicht weitergehen." Das wäre nicht im Sinne meines Mannes, der ein recht fröhlicher, heiterer Mensch gewesen ist. Doch selbst wenn man sich an die Kandare nimmt, kann man nicht bestimmen, heiter und fröhlich zu sein.

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