Boko Haram Entführung
Patience wurde von ihrem Onkel zwischendurch umgetauft - ihr muslimischer Name lautete Binto
Andrea C. Hoffmann
"Ab jetzt bist du Muslima!"
Patience I. ist 17 Jahre alt und schwanger, als sie von Boko Haram entführt wird. Doch ihr gelingt die Flucht. Ein Auszug aus ihrem Buch, in dem sie von den Grausamkeiten der Terrorsekte erzählt
22.11.2016

„Wer bist du?“, fragte er.

„Ich heiße Patience“, antwortete ich schüchtern.

„Patience wie der Patient?“, mischte sich ein zweiter, sehr junger Mann ein. Er klopfte sich belustigt auf die Schenkel. Ich glaube, er wollte mit mir flirten. „Haha, was für ein komischer Name.“

„Nein, Patience wie die Geduld.“

„Das ist ein ganz normaler Name“, sagte der Ältere und sah den Jüngeren streng an. „Wo kommst du her, Patience?“

„Aus Ngoshe“, antwortete ich. Das geschah ganz automatisch. Denn Ngoshe war ja der Ort, aus dem meine Familie stammte. Dass ich seit meiner erneuten Heirat in Gwoza lebte, hatte ich noch nicht verinnerlicht.

„Aus Ngoshe … was du nicht sagst.“ Der Ältere betrachtete mich eingehend. Er schien zu überlegen. „Aber du bist nicht die Tochter von Haruna Aiga?“

„Doch, das bin ich“, sagte ich und sah ihn erstaunt an. Dass der Mann so treffsicher den Namen meines Vaters benennen konnte, wunderte mich doch sehr.

„Dann bist du meine Nichte“, stellte er fest. Und plötzlich wusste ich, wen ich vor mir hatte: Das war mein Onkel Amadou, der älteste Bruder meines Vaters. Ja, er war Muslim, erinnerte ich mich. Auch mein Großvater und meine Großmutter waren Muslime gewesen. Erst mein Vater und sein nächstältester Bruder, also der, der in Ngoshe direkt neben uns wohnte, hatten mit der Familientradition gebrochen und sich zum Christentum bekannt.

Menschen wechseln oft aus Karrieregründen den Glauben

Den Grund dafür kannte ich aus Erzählungen während meiner Kindheit. Anscheinend hatte mein Nachbar-Onkel einmal einen Autounfall, bei dem er fast ums Leben gekommen wäre. Obwohl kaum mehr Hoffnung bestand, brachten die Leute ihn ins Missionshospital nach Gwoza. Und die christlichen Ärzte dort flickten ihn auf wundersame Weise wieder zusammen. Mein Onkel und mein Vater waren von deren Können und von deren Hilfsbereitschaft so angetan, dass sie danach ihren Glauben angenommen haben – aus Dankbarkeit gewissermaßen.

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###drp|8dnJZRMch_nQ0vz9_5GYWsXi00118970|i-40|Foto: Philipp Breu|###Mehr zum großen Thema Islamistischer Terror finden Sie auf unserer Schwerpunktseite: chrismon.de/islamistischer-terror

Ich hatte es als Kind immer für selbstverständlich gehalten, dass sie beide Christen waren, obwohl der Rest der Familie dem muslimischen Glauben anhing. Schließlich gab es viele gemischt-religiöse Familien. Wie ich bereits sagte, wechseln die Menschen oft auch aus Karriere­gründen oder aus politischen Motiven den Glauben. Das ist nichts Außergewöhnliches. Ihre ­Familien zeigen dafür allerdings in der ­Regel kein großes Verständnis. Oft werten es die Älteren als Schmähung, wenn sich ihre Kinder aus der Glaubensgemeinschaft entfernen. Vielleicht, dämmerte es mir jetzt, hatten wir deshalb so wenig mit dem muslimischen Teil der Familie zu tun?

Zuletzt hatte ich Onkel Amadou bei meiner Hochzeit gesehen, bei der ersten. Zu diesem Anlass war er aus Ashigashiya angereist und hatte mir sogar ein Geschenk mitgebracht: einen schönen Stoff, aus dem ich mir ein Kleid nähen sollte. ­Danach hatte ich nie wieder etwas von ihm und seiner Familie gehört. Was für ein unfassbares Glück, dass ich ausgerechnet ihn jetzt und hier wieder traf!

"Ich werde dafür sorgen, dass du zum rechten Glauben zurückfindest"

„Lieber Onkel“, sagte ich aufgeregt. ­­

„Ich bin so froh, dich zu sehen!“ Einer spontanen Eingebung folgend, fiel ich vor ihm auf die Knie. Er wirkte betreten.

„Lass das“, raunte er, „steh auf.“

„Bitte rette mich“, flehte ich, „sag ihnen, dass sie mir nichts zuleide tun sollen, lieber Onkel.“

Ich wusste nicht, ob er ein lieber oder ein böser Onkel war. Nur, dass er die einzige Hoffnung war, die mir blieb.

„Aber Kind!“, antwortete Onkel Amadou beschwichtigend. „Niemand will dir etwas zuleide tun. Wir wollen alle nur dein Bestes.“

Er zog mich nach oben. Was für ein merkwürdiger Kommentar, dachte ich. Was meinte er mit „mein Bestes“?

„Deine Familie ist auf Abwege geraten. Aber ich werde dafür sorgen, dass du zum rechten Glauben zurückfindest. Ich will, dass du dich zum Islam bekennst.“

„Aber Onkel Amadou“, sagte ich nervös, „du weißt doch, dass wir Christen sind. Ich kann doch nicht einfach …“

„Selbstverständlich kannst und wirst du“, unterbrach er mich. „Vergiss deine Vergangenheit. Sie gibt es bereits nicht mehr: Schließ dich uns an und werde die Frau eines Kriegers.“

Hatte mein ­Onkel denn gar kein Ehrgefühl?

„Wie kannst du nur so etwas sagen? Du weißt doch, dass ich bereits verheiratet bin.“

„Du bist Witwe“, entgegnete er kalt.

Ich spürte eine große Wut in mir hochsteigen. Mein Onkel wusste also, dass mein erster Mann verstorben war. Wusste er auch, dass seine Freunde ihn ermordet hatten? Hatte er vielleicht sogar Hand in Hand mit ihnen gearbeitet? Ich wollte ihn anbrüllen und ihm sagen, dass sie alle Mörder waren. Dass sie meine Mutter auf dem Gewissen hatten. Aber ich biss mir auf die Lippen. Jetzt nicht die letzte ­Chance verspielen, ermahnte ich mich.

Die ganze Geschichte

Andrea C. Hoffmann, Patience I.: Die Hölle von innen – In den Fängen von Boko Haram. dtv München. 256 Seiten, 14,90 Euro

Äußerst beherrscht sagte ich: „Ich bin nicht mehr Witwe. Ich habe wieder geheiratet.“

„Einen Ungläubigen?“

„Einen Christen.“

„Das zählt nicht. Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Die Ehe ist hiermit aufgehoben.“

Ich sah ihn wütend an. Hatte mein ­Onkel denn gar kein Ehrgefühl? Wollte er den Ruf unserer Familie völlig ruinieren? „Willst du mich etwa zur Ehebrecherin machen?“

„Aber nein! Es ist genau so, wie ich ­sage: Eine Muslima darf nicht die Frau eines Christen sein.“

„Aber ich bin keine Muslima.“

„Doch, das bist du ab jetzt.“

Zwei Männer prügelten auf mich ein. Ich bekam Angst um mein Baby

Ich war völlig außer mir, als er so mit mir sprach. Mein eigener Onkel! Was war nur in ihn gefahren? Ich hatte das Gefühl, einen völlig gefühlskalten Fremden vor mir zu haben.

„Sprich mir nach“, befahl er. „La– ila–ha ­illa– ’lla–h muh.ammadun rasu–lu ’lla–h – Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Allah gibt und dass Mohammed sein Gesandter ist.“

Ich blieb stumm.

„Sprich es nach!“, brüllte er.

Onkel Amadou verpasste mir eine ­Ohrfeige. Ich fing an zu weinen. Zwei der Männer begannen, auf mich einzuprügeln. Sie hieben mich auch in die Seite. Ich bekam schreckliche Angst um mein Baby.

Konnte es durch ihre Schläge verletzt ­werden? Oder gar meinen Leib verlassen? „Ja, ich sage es ja schon: Illalala …“

Ich sprach absichtlich irgendeinen Unsinn, jedenfalls nicht das islamische ­Glaubensbekenntnis. Aber das merkten sie gar nicht. Jedenfalls gaben sie sich schnell zufrieden.

„Siehst du“, sagte mein Onkel, „es geht doch. Und ab jetzt bist du nicht mehr ­Patience. Du heißt Binto.“

„Binto?“ War er von allen guten Geis­tern verlassen?

„Ja, das ist dein muslimischer Name. Auf den hörst du ab jetzt.“

"Tötet sie, wenn sie querschießt"

Ich starrte meinen Onkel an und ­konnte nicht fassen, was er da von sich gab. ­Meinte er das alles wirklich ernst? Sprach er aus Überzeugung? Oder fürchtete er, dass sie ihn töten würden, wenn er nicht nach ihren Regeln spielte? Für unsere Familie war dies alles eine Katastrophe. Wie wollte Onkel Amadou meinem Vater und meinem Onkel aus Ngoshe je wieder unter die Augen treten? Ich kannte ihn, wie gesagt, nicht gut, aber ich hatte das deutliche Gefühl, dass er überhaupt nicht er selbst war. Stand er etwa unter Drogen? Ich versuchte, die Pupillen seiner Augen zu erkennen. Aber er wich meinem Blick aus.

„So, und jetzt weiter“, sagte er, „ich kann nicht ewig Zeit mit dir vertrödeln. Auch wenn du meine Nichte bist, bekommst du keine Sonderbehandlung.“

Er wies die anderen Männer an, mir ­einen Niqab auszuhändigen.

„Du solltest mir dankbar sein“, zischte er.

„Aber Onkel, ich bin keine Muslima!“, machte ich einen letzten Versuch, ihn zur Vernunft zu bringen, „das werde ich nie sein!“

„Doch, das bist du, Binto.“ Er starrte mich feindselig an. Und ich senkte beschämt meinen Blick. „Tötet sie, wenn sie querschießt“, befahl er seinen Kumpanen. Dann wandte sich Onkel Amadou dem nächsten Gefangenen zu.

 

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