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"Wir müssen wachsam sein"
Wie konnten die Protestanten 1914 nur so begeistert in den Krieg ziehen? Und sind wir heute wirklich klüger als sie?
Fragen an den Siegener Theologieprofessor Georg Plasger
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
16.07.2014

chrismon: 1914 bejubelten die Protestanten den Ersten Weltkrieg. Wie passt das zur Friedensbotschaft Jesu?

Georg Plasger: In weiten Teilen der evangelischen Kirche teilte man die Ethik in zwei Bereiche. Die Friedensbotschaft Jesu gehörte in den Bereich des privaten Glaubens, der eigenen Erlösung, nicht in den Bereich des politischen Handelns. Da erschien der Widerspruch gar nicht mehr so groß. 

Die meisten evangelischen Theologen in Deutschland waren damals auch dem Nationalismus gegenüber unkritisch. Was hat der Nationalismus mit dem Evangelium zu tun?

Zumindest war damals nicht deutlich, dass das Evangelium dem Entstehen eines Nationalgefühls widerspricht. Nicht nur Protes­tanten, auch die katholische Kirche wollten deutschnational sein. Sie wollten nach der politischen Einheit des Reiches von 1871 das Bewusstsein der nationalen Einheit aller Deutschen vertiefen.

Das Verhalten der evangelischen Kirchen in Deutschland hat schon Zeitgenossen befremdet.

Der Schweizer Prediger Karl Barth, später Begründer der Dialektischen Theologie, hat schon 1914 gesagt, der Krieg bringe nur Unglück, er könne nichts Positives daran sehen. Barth hat alle verurteilt, die den Krieg für ein göttliches Instrument hielten, um andere Völker für ihre Vergehen an Deutschland zu bestrafen. Dass 93 deutsche Intellektuelle, auch berühmte Theologen, den Krieg anfangs öffentlich mit ihrer Unterschrift befürworteten, hat Barth sehr irritiert. Er fragte nach den wahren Gründen des Kriegs, er ahnte damals schon, dass wirtschaftliche Motive den Krieg begünstigten. Später hat Barth die ständige Gegenwartsanalyse zur Aufgabe der Theologie erklärt. Dafür sind die Kirchen heute wesentlich offener als damals.

Gegenwartskritische Theologen empörten sich über Säkularisierung, die Geldgier der Kapitalisten, über sittliche Verrohung in der Arbeiterschaft – nur eben nicht über den Krieg!

Diese Kritik betraf das Fehlverhalten Einzelner. Als Mittel dagegen forderten die Theologen eine stärkere Ordnung in der Gesellschaft. Dass also der Staat schärfer eingreift, wenn es um individuelle moralische Verfehlungen geht. Über strukturelle Verfehlungen, zum Beispiel um ungerechte Besitzverhältnisse, machte man sich weniger Gedanken.

"Auch heute besteht die Gefahr einer falschen Solidarität"

Warum hat niemand dieses Missverhältnis bemerkt?

Weil man Geschichtstheologie betrieb. Wer davon ausgeht, dass Gott ein Land wie Deutschland erschaffen hat, dessen Kaisertum sich auf Gottes Gnade beruft, und dass dieses Land sich in einer schmachvollen Lage verteidigen darf, der sieht die Sache anders als wir. Man glaubte, Gott gebiete diesen Verteidigungskrieg. Gott werde Deutschlands Feinde strafen. Man wähnte sich auf der ­richtigen Seite, daher die Formel „Gott mit uns“. Sie schrieben Gott auf ihre eigenen Fahnen. Und das taten nicht nur Deutsche.

Die Pfarrer des Ersten Weltkriegs rühmten sich, dass sie mit den Leuten hofften, feierten und trauerten. Nichts anderes ­
tun Pfarrer heute. Wann besteht die Gefahr einer falschen Solidarität?

Empathie ist gut und notwendig. Die Frage ist: Nehmen Pfarrer Ursachen des Unheils unkritisch hin oder protestieren sie dagegen?

Militärseelsorger sind auch heute im Einsatz. Würden die Sol­daten da kritische Begleitung als fehlende Solidarität verstehen?

Das kann ich nicht beurteilen. Ich kenne den bisherigen Militärbischof Martin Dutzmann als jemanden, der sich immer wieder die Frage gestellt hat: Haben die Pfarrer noch einen kritischen Abstand? Schon wer so fragt, hat Distanz gewonnen. Aber es ist richtig: Hier besteht die Gefahr einer falschen Solidarität.

Damals stachelten Pfarrer die Leute mit Kriegspredigten an.

Die meisten Kriegspredigten fallen in das Jahr 1914. Sie riefen zur großen Begeisterung auf, behaupteten zuweilen auch, dass dieser Krieg ein Instrument Gottes sei. Mitzukämpfen sei christlicher Liebesdienst. Mit Bibelzitaten wie „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“ rechtfertigte man es, wenn junge Männer ihr Leben im Krieg aufs Spiel setzten. Doch je länger er dauerte, desto müder waren die Leute vom Krieg, und umso mehr sehnten sie sich nach Frieden. Den Kirchen fiel es immer schwerer, dieser Ernüchterung mit ihrer anfänglichen Kriegsbegeisterung zusammenzubringen.

Not lehrt beten, sagt der Volksmund. Hat er recht behalten?

Die Statistiken sagen: Die Teilnahme an kirchlichen Festen war während des Erstens Weltkriegs nie ­wieder so hoch wie in den ersten Kriegsmonaten. Als der ­Stellungskrieg seine Opfer forderte, blieben sie weg. Man kann also nicht sagen, dass Not die Menschen in die Kirchen trieb.

„Wann hat man jemals aus einem Krieg gelernt?“

Pfarrer überbrachten Todesnachrichten, führten Gefallenenlisten, organisierten vaterländische Kirchgemeindeabende und Kriegerfamilienabende, hielten Kriegsgebetsstunden. Der Krieg war sehr präsent im Alltag der Pfarrer.

Ja. Und man hatte einen völlig anderen Blick auf den Krieg als wir heute. Wir nehmen eine Diskrepanz zwischen Heldenverehrung und Massenmord wahr. Diese Diskrepanz war damals kaum jemandem bewusst. Man gedachte auch nach dem Krieg weiter der Helden. Das ist ja auch nachvollziehbar: Wenn der eigene Sohn im Krieg fällt – schon das Wort „fallen“ ist ein Euphemismus –, dann steht für die Familie das eigene Leid im Vordergrund. Und nicht, dass der Sohn ausgezogen ist, um andere zu töten.

Kirchliches Heldengedenken gab es auch vor dem Weltkrieg – die Sedanfeiern. Schon der Deutsch-Französische Krieg von 1870 bis 1871 war ungewöhnlich grausam. Warum hatten die Kirchen daraus keine Konsequenzen gezogen?

Die Frage kann man fortsetzen: Warum hat man nicht später aus dem Ersten Weltkrieg gelernt? Schon wer den 1871er Krieg neutral und ruhig betrachtet, kann eigentlich Soldaten nicht mehr für Helden halten. Aber vielleicht stand einer solchen Betrachtung zu vieles im Wege: die Trauer über die eigenen Opfer, die Wut über die Kriegsgegner. Nach 1918 kam die sogenannte Schmach von Versailles hinzu. Man musste eingestehen, den Krieg ver­loren zu haben und für die gewaltigen Reparationsforderungen aufkommen. Aus Sicht der Kirchen war auch die Weimarer Republik mit ihrem säkularen Selbstverständnis desaströs. Bis 1918 war der Protestantismus die deutsche Leitkultur gewesen, das ging nach Kriegsende verloren. – Und wann hat man überhaupt jemals aus einem Krieg gelernt? Selbst nach 1945 hat kaum jemand die Ungeheuerlichkeiten des Zweiten Weltkriegs aufge­arbeitet, jedenfalls nicht bis in die späten 1960er Jahre.

Welche politischen Alternativen sahen die wenigen oppositionellen Theologen zwischen 1914 und 1918?

Schon im Frühjahr 1913 hatten einige Theologen einen Friedensaufruf veröffentlicht, hundert Jahre nach der Völkerschlacht von Leipzig. Damals zeichnete sich ab, dass das deutsche Heer weiter aufrüsten wollte. Statt Hass und Misstrauen unter den Völkern zu verschärfen, sollten die Völker sich in einer Rechtsgemeinschaft verständigen, wie im Völkerbund der 1920er Jahren und wie die Vereinten Nationen heute. Einzelne haben dies auch während des Krieges weiter gefordert. Der Marburger Religionsphilosoph Rudolf Otto zum Beispiel, der Kieler Theologieprofessor Otto Baumgarten und der Sozialethiker Friedrich Siegmund-Schultze, ein Pionier der Friedensbewegung. Heute sammeln wir weitere Stimmen aus dem Ersten Weltkrieg in einem Forschungsprojekt, vor allem die von Pfarrern. Offenbar gab es mehr als bislang wahrgenommen. Aber insgesamt waren es wenige.

"Wir Protestanten sollten immer mit den Friedenskirchen im Gespräch bleiben"

Was entgegnete man den Pazifisten?

Dass sie illusionär seien. Es hieß, sie hätten eine gute Grund­einstellung, seien aber keine Realisten.

Trauerfeier am 3.6.2011 in der Epiphaniaskirche in Hannover für drei in Afghanistan getötete Bundeswehrsoldaten. Foto: Peter Ste, picturealliance

Das hielt man der früheren Bischöfin Margot Käßmann vor, die in einer Neujahrspredigt sagte: „Nichts ist gut in Afghanistan.“

Deswegen sollten wir Protestanten, wenn es um Krieg und Frieden geht, immer mit den Friedenskirchen im Gespräch bleiben. Also mit den Mennoniten, den Quäkern, den Brüdergemeinden und anderen. Sie folgen mit ihrer konsequent pazifistischen Haltung seit Jahrhunderten sehr genau der Botschaft Jesu und sind somit ein Stachel im Fleisch der Christenheit. Sie mussten sich auch immer mit dem Vorwurf auseinandersetzen, ihre Ablehnung von Kriegsdienst und Militär sei illusionär.

Inzwischen hält die Evangelische Kirche in Deutschland keinen Krieg mehr für gerecht. Sie spricht vom gerechten Frieden.

Das ist ein Fortschritt, kein Zweifel. Aber selbst diese Formel lässt die Frage offen: Was passiert im Fall eines ungerechten Friedens? Sagt dann die Kirche unter bestimmten Umständen wieder Ja zur sogenannten rechtserhaltenden Gewalt, also zum Einsatz von Militär? Wir erleben gerade auch in der Kirche eine unter anderem von Bundespräsident Joachim Gauck angestoßene Debatte um Kriegseinsätze im Ausland. Das Militär der Alliierten hat 1945 Deutschland befreit, und aufgrund dieser Erfahrung kann ich verstehen, wenn Gauck kein prinzipielles Nein zu Kriegsein­sätzen aussprechen will. Aber solche Einsätze müssen immer Ultima Ratio bleiben, also die allerletzte Option. Man darf sie nicht zur Gewohnheit werden lassen. Frieden ist der Ernstfall, wie es der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann einst sagte. Und es geht um mehr als nur um Stellungnahmen. Die Kirchen müssen auch über ihren aktiven Beitrag zum Frieden weiter nachdenken. Zum Beispiel wie eine Friedenerziehung aussehen könnte.

Die Protestanten haben 1914 so vieles falsch gemacht. Da fragt man sich: Ist die christliche Botschaft wirklich so dehnbar?

Die christliche Botschaft war immer auf Interpretation angewiesen. Die ist in der Tat dehnbar. Haben die diversen Interpretationen im Laufe der Jahrhunderte mehr Gutes oder mehr Schlechtes bewirkt? Da kommt man zu keiner eindeutigen Antwort.

„Wir wissen nicht, wie man uns später beurteilen wird“

Wofür braucht man die christliche Botschaft dann noch, wenn man mit ihr alles und das Gegenteil belegen kann?

Man muss die Interpretation von der Botschaft selbst, also der Mitte des Evangeliums unterscheiden. Das ist die Hauptaufgabe der Theologie. Leider sind viele Theologen damit gescheitert.

Interpretieren wir die biblische Botschaft heute zutreffender als die Theologen des Ersten Weltkriegs?

Das mag sein. Vielleicht werden wir in der Rückschau aber auch ähnlich kritisch beurteilt, wie wir von heute aus die Theologen des Ersten Weltkriegs beurteilen.

Sind wir insgesamt klüger als die Theologen von 1914?

Ich hoffe, ja. Wir wissen, wie problematisch Nationalismus sein kann. Wir haben internationale Kontakte. Wir wissen, dass Gewalt Gegengewalt erzeugt. Aber andererseits erleben wir, wie die Kirchen in Fragen von Krieg und Frieden unter ähnlichem Anpassungsdruck stehen wie die Kirchen damals. Und schauen Sie sich den Neokolonialismus an, wie heute Entwicklungsländer ausgebeutet werden. Da wissen wir gar nicht, wie die Menschen in hundert Jahren unser Verhalten beurteilen werden. Der Re­formierte Weltbund hat vor ein paar Jahren in Accra in Ghana ein Nein zur gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung ausgesprochen, wie sie uns vom globalen neoliberalen Kapitalismus aufge­zwungen wird. Wir müssen wachsam sein und auf solche warnenden Stimmen aus den Kirchen des Südens hören, die uns auf unsere blinden Flecken aufmerksam machen.

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