Sandra Stein
Starke Schmerzen erdulden
Wie hält man das aus?
Er hämmert, sticht, bohrt, beißt. Er macht aggressiv oder lethargisch, er kommt überfallartig oder in unsanften Wellen. Wie hält man das aus? Mehrere Menschen erzählen, wie sie das Leben mit Schmerzen ertragen – oder versuchen, es erträglich zu finden
27.03.2014
20Min

Leticia, 8, verletzt sich schnell. Ihre Mutter Kristina Cimesa schickt sie trotzdem raus in die Welt

Meine Tochter steht gern auf der Bühne. Neulich spielte sie bei der Begrüßung für die Erstklässler einen Löwen, der nicht lesen kann. Und bald führt die Theatergruppe der Schule ein Musical auf, darin ist sie die Braut – die Hauptrolle. Sie lacht dann und singt und reißt andere mit. Das ist die helle Seite von Leticia.

Ihre dunkle Seite lautet Epidermolysis bullosa. Schmetterlingskrankheit. Leticias Haut ist so empfindlich wie der Flügel eines Schmetterlings. Zwei von 100.000 Kindern kommen mit dem Gendefekt zur Welt. Wenn Leticia hinfällt, wenn ihr jemand auf den Fuß tritt, wenn man ihre Hand hält und sie stolpert – dann löst sich an dieser Stelle die oberste Hautschicht. Sie blutet. Oder sie bekommt dicke Blasen. Und danach Narben. Überall am Körper sind große Wunden. Bevor wir Leticia verbinden können, geben wir ihr Schmerztropfen, dann warten wir fünf Minuten. Ich vermute, dass sie ständig starke Schmerzen hat; aber sie spricht nicht darüber.

Wenn sie müde ist, schimpft sie: "Warum habe ich diese Haut?" Vor ein paar Tagen trat sie mir auf den Fuß und fragte, ob das wehtue. Ich sagte: "Nein." Sie war so verzweifelt: "Warum nicht, Mama?" Das ist für mich kaum auszuhalten. Ich versuche, stark zu sein, auch für ihre jüngeren Geschwister Valentin und Leonarda. Eine heulende Mutter – das geht nicht, wenn das Kind sich den Finger geklemmt hat und die Haut herunterhängt.

Sie spricht nicht darüber, ob ihr etwas wehtut

Leticia muss immer aufpassen: Rutschen ist zu gefährlich, beim Baden brennt die Haut. Manchmal verletzen Kinder sie aus Versehen und sind so verschreckt, dass sie sich nie wieder melden. Sie sagt ihnen nun: "Ich bin so geboren, wir können trotzdem spielen. Ich habe keine Schmerzen." Das stimmt zwar nicht, aber es ist besser, als wenn ihre Freunde sich distanzieren.

Anfangs behandelte ich Leticia wie ein rohes Ei. Wir waren viel zu Hause. Urlaub in der Sonne? Zu heiß! ­Urlaub im Schnee? Zu kalt! Bis mein Mann sagte: "So geht das nicht. Leticia muss raus. Hinfallen kann sie überall, dann soll sie dabei wenigstens etwas erleben." Er hatte recht. Mit 14 Monaten kam unsere Tochter in eine Kita, heute besucht sie die zweite Klasse einer inte­grativen Schule. Wir waren in Dubai, Kroatien, Malaysia.

Leticia schwimmt, und sie geht zum Mitmachzirkus. Einrad fahren wird sie wohl nicht können. Aber vielleicht reiten. Außerdem lernt sie Klavier spielen. Das hält ihre Finger beweglich – die rollen sich durch die vielen Narben allmählich zu Fäusten. Zwei Mal wurden die Finger operativ begradigt, eine schlimme Prozedur, sie brauchte Morphium und für jeden Verbandswechsel eine Vollnarkose. Ich sage ihr immer wieder: "Leticia, mit deinen Händen wirst du nicht arbeiten können – also müssen wir viel für den Kopf tun." Da hat sie sich Chinesischunterricht ausgesucht. Manchmal sagen Leute: "Schaut, wie fröhlich sie ist, bestimmt wird alles gut." Das würde ich gerne glauben. Sie hat einen starken Willen. Zurzeit möchte sie Ärztin werden.

Protokoll: Mareike Fallet


Thomas M. Stein, 65, musste miterleben, wie seine Frau Margret an Krebs starb. Zuletzt litt sie furchtbar, sagt der Musikmanager

 Thomas SteinSandra Stein

Zuerst hatte Margret Brustkrebs, dann tauchten ­Metastasen in der Hüfte auf: Knochenkrebs. Und der hat starke Schmerzen hervorgerufen. Über ein Jahr ging das so. Mal fing es frühmorgens an mit diesen ex­tremen Schmerzen, dann erst abends. Mal litt sie einen kompletten Tag, dann hatte sie wieder einen halben Tag nichts – wir konnten es nicht definieren, die Wellen ­hatten keinen ablesbaren Rhythmus.

Natürlich gibt es Therapien, um die Schmerzen erträglicher zu machen. Aber das Problem dabei ist: Ärzte können nicht sicher sagen, wie welches Medikament bei welchem Patienten wirkt. Und es kann lange ­dauern, bis die richtige Dosis gefunden wird. Wir wollten auch nicht, dass Margret völlig betäubt wird, sie sollte ja noch eine Portion Normalität mitbekommen. Das war sehr schwierig. Einmal war die Dosierung zu hoch, so dass meine Frau völlig orientierungslos war – bis wir gemerkt haben, woran das lag. Kurz vor ihrem Tod haben wir Margret alle vier Stunden Morphium gespritzt.

Konkret über die Schmerzen gesprochen haben wir kaum. Es war ja nicht so, dass Margret sich einen Finger eingeklemmt hätte und man sagt: "Beiß doch die Zähne zusammen." Sie hat teilweise vor Schmerzen geschrien, manchmal wie ein angestochenes Tier, das ging durch und durch. Es müssen bestialische Schmerzen gewesen sein. Nichts, was punktuell hämmert, sticht oder brennt – der komplette Körper tat ihr weh.

Ich kann in dem ganzen keinen Sinn sehen

Manchmal wurde Margret aggressiv, hat mich angeschrien – schließlich war ich in diesen Momenten der­jenige, der nicht in der Lage war, ihre Schmerzen zu ­lindern. Und die Wand kann man nur schlecht an­brüllen. Trotzdem wollte sie, dass ich dablieb, Alleinsein hat noch mehr Schmerzen verursacht. Wenn ich bei ihr war, habe ich mit ihr leiden müssen, und das hat es für sie vielleicht ein wenig besser gemacht.

Wut habe ich in diesen Momenten nicht gefühlt. Auf wen oder auf was hätte ich ärgerlich sein sollen? Eher hilflos. Mich trieb ständig die Frage um: Wie kann ich sie beruhigen, wie schaffe ich es, dass sie sich ent­spannen kann? Wie kann ich die Zeit, die meiner Frau bleibt, erträglicher machen? Ich habe dann versucht, die Ärzte zu erreichen, aber natürlich waren sie nicht vierundzwanzig Stunden verfügbar für uns. Und: Wir wollten nicht, dass meine Frau sofort ins Krankenhaus eingeliefert wird, sondern dass sie möglichst lange zu Hause bleiben kann. Wie schlecht es mir selber ging, wurde mir erst dann bewusst, wenn sich meine Frau zeitweise ein wenig besser fühlte und ich etwas Luft bekam.

Diese Form von körperlichem Schmerz ist unvorstellbar – man will es sich auch nicht vorstellen. Ich kann in ­dem Ganzen keinen Sinn sehen. Nachdem ich erlebt ­habe, was Schmerzen anrichten, weiß ich zwar nun, zu welchen Medikamenten ich wahrscheinlich greifen ­würde, wenn es mich träfe. Aber ich kann auch klar ­sagen: Ich habe Angst vor Schmerzen dieser Art.

Protokoll: Juliane Ziegler


Elsbeth Hoeck, 45, Sozialpädagogin in Lübeck, erzählt von der Geburt ihres ersten Kindes:

 Elsbeth HoeckSandra Stein

Zuerst habe ich die Schmerzen fast genossen. Ich hatte so lange darauf gewartet. Der errechnete Geburtstermin war verstrichen ohne ein Anzeichen von Wehen, eine Woche, zwei Wochen – immer noch nichts. Freunde und Verwandte fragten ständig: Tut sich was?

Dem Kind ging es gut. Die Ärzte wollten die Geburt dennoch am 14. Tag einleiten. Das war ein Donnerstag. Als ich frühmorgens in der Klinik erschien, bekam ich eine Vaginaltablette, die Wehen auslösen sollte. Alles schien nach Plan zu gehen: Bald krampfte sich der Bauch regelmäßig zusammen, alle sieben Minuten, das weiß ich noch genau. Natürlich tat das weh, und natürlich war ich auch etwas ängstlich, aber vor allem war ich erleichtert und froh: Endlich geht’s los! Und die Wehen waren schon so stark, dass ich es im Liegen schlecht aushalten konnte. Ich ging viel spazieren im Klinikgarten, es war Anfang März, ein klarer Tag. Wenn sich eine Wehe mit einem Ziehen im Rücken ankündigte, das immer stärker wurde – ein bisschen so wie eine heranrollende Welle –, dann stützte ich mich irgendwo ab und atmete tief in den Bauch, so wie wir das im Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatten. Es half tatsächlich.

Die Ernüchterung kam mit den Untersuchungen: Der Muttermund hatte sich auch nach zwölf Stunden nicht ­geöffnet. Alle Schmerzen umsonst, so schien mir. "Die Tablette reicht manchmal nicht", sagten die Ärzte und hängten mir am nächsten Morgen eine Infusion an. Die Wehen, die damit ausgelöst wurden, waren ganz anders als die vorher. Sie schienen wie aus dem Nichts zu kommen, waren hart und heftig. Ich kam mir vor, als wäre ich an einen Motor angeschlossen, der mich alle zwei Minuten innerlich zusammenquetschte. Veratmen konnte ich nichts mehr. Aber vor allem: Ich hatte das Gefühl, von oben drücken wir, aber unten öffnet sich nichts. Die Untersuchung bestätigte das. Treppen laufen, weitere Infu­sionsversuche, zunehmende Müdigkeit, Erschöpfung – die Tage und Nächte verschwimmen in meiner Erinnerung.

Der Schmerz passt zu dem, was im Körper passiert

Am Samstagabend meinte die Hebamme: Sie brauchen eine Pause. Sie gab mir etwas zum Schlafen, und am Morgen danach hatte ich endlich wieder Energie und Kraft. Und dann merkte ich, wie die Wehen nach und nach eine andere ­Dimension kriegten. Immer schneller kamen und ­gingen. Sie taten bald so weh, dass ich meinen Mann anschrie. Er solle mir gefälligst sagen, wie ich atmen soll. Aber der Antrieb kam jetzt aus meinem Inneren und brachte wirklich etwas in Bewegung. Ich spürte, wenn es losging, konnte mich innerlich wappnen. Der Arzt wollte mir eine Rückenmarksanästhesie geben, aber ich lehnte ab. Endlich hatte ich die richtigen Wehen, das wollte ich nicht gefährden.

Finn kam am frühen Nachmittag zur Welt. Nach der Geburt war ich hellwach, euphorisch und sofort verliebt in den kleinen Kerl. Ob der Schmerz beim Gebären einen Sinn hat? Mir erscheint er stimmig. Er verhält sich konform zu dem, was im Körper passiert. Wenn der Kopf eines Kindes sich durch die Scheide quält, dann ist klar, dass das enorm wehtut.

Drei Jahre später bekam ich meinen zweiten Sohn. Auch er war mehr als zwei Wochen überfällig, aber diesmal haben wir gewartet, bis es von selbst losging. Es war eine unkomplizierte Geburt. Ein paar Stunden Wehen, und dann war Niko schon da – ich war erstaunt, wie einfach das ging. Das war schon alles?

Finn hatte gestern seinen 19. Geburtstag, Niko ist jetzt 16. Beide sind tolle Jungs, aber durchaus unterschiedlich. Ob sich das schon bei den Geburten angedeutet hat, ist schwer zu sagen. Wer weiß, wie es bei Finn verlaufen wäre, wenn wir abgewartet hätten, bis er so weit ist. Letztendlich: Die Erinnerung an die Geburtserlebnisse und -schmerzen verblassen natürlich mit den Jahren. Was aber bleibt, ist das Gefühl: Wir haben zusammen etwas geschafft.

Protokoll: Hanna Lucassen


Maria, 21, empfindet tiefe Befriedigung, wenn sie sich schneidet. Wie eine Bestrafung, die sie genießt

Schmerz ist für mich ein wohltuendes Gefühl – so, als habe bei mir jemand etwas falsch programmiert und Schmerz und Liebe verwechselt. Ich falle dabei in eine Art Trance, ich stehe dann neben mir und gucke mir beim Schneiden zu, ein dissoziativer Zustand.

Seit ich vor vier Monaten in die Klinik kam, versuche ich, mich nicht mehr so häufig zu schneiden. Mit vier, fünf Malen bin ich bisher ausgekommen. Es war mir jedes Mal sehr peinlich, weil man danach den Pflegern Bescheid sagen muss. Aber manchmal ertrage ich es einfach nicht mehr länger: Wenn ich meine Regeln nicht eingehalten habe, zum Beispiel eine bestimmte Gramm- oder Kalorienzahl beim Essen überschritten oder in der Therapie zu viel preisgegeben habe, muss ich mich bestrafen. Schneiden ist dafür die einfachste Möglichkeit. Es geht schnell, und man kann es überall machen. Bevor ich damit anfange, fühle ich mich immer wie jemand, der eine Woche nichts gegessen hat. Er hat das Steak schon auf dem Teller und wartet nur darauf, dass er los­legen darf. Ich mache es mir in meinem Zimmer bequem, schalte Musik ein – Punkrock, Queen oder nur Radio – und hole ein Handtuch, Verbandszeug, Desinfektionsmittel und Rasierklingen. Wenn ich all das neben mir angeordnet habe, kommt der erste Schnitt.

Wenn die schnitte gut geworden sind, hält die Befriedigung an

Ich schneide immer in meine Unterarme. Pro Session ­müssen es mindestens zehn Schnitte sein, je mehr, desto ­besser. Ich muss in einer bestimmten Anordnung schneiden, die zu den vorherigen Schnitten passt. Wenn die Schnitte gut geworden sind und ich Glück habe, hält die Befriedigung nach der Session noch eine Weile an.

Vielleicht klingt das, als sei Schneiden für mich eine Be­lohnung, keine Bestrafung. Aber das ist es nicht. Es ist einfach meine Methode, mich selbst auszuhalten. Manche versuchen, mit Ersatzhandlungen davon loszukommen, Chilis kauen, auf Erbsen laufen, kalt duschen. Ich halte das für Scheiß. Wenn ich dazu in der Lage bin, etwas anderes zu tun, bin ich auch in der Lage, es ganz seinzulassen.

Wann ich mit dem Schneiden angefangen habe, weiß ich nicht mehr. Vielleicht mit zwölf, als sich meine Eltern getrennt haben. Meine Einstellung zu Schmerzen war aber schon als Kind anders als bei den meisten. Mein Vater langte gern mal zu, allerdings habe ich das nie als negativ empfunden. Manchmal habe ich ihn sogar extra provoziert. Schmerz war etwas Tolles. Es war Zuwendung. Mit meiner Mutter habe ich bis ­heute nicht wirklich über das Schneiden geredet. Sie hat es wohl erst er­fahren, als mich das Internat in eine Klinik geschickt hat.

Dies ist mein vierter Klinikaufenthalt, denn leider reicht Schneiden nicht mehr aus. Ich treffe jetzt Männer, von denen ich ahne, dass sie mir Gewalt antun werden. Das ist gefährlich. Trotzdem hat es keinen Sinn, damit aufhören zu wollen, solange ich nicht gelernt habe, mit mir selbst klarzukommen.

Protokoll: Gabriele Meister


Reinhold Messner, 69, hat alle 14 Achttausender der Erde bestiegen. Das Bergsteigen ist für ihn eine Grenz- und Selbsterfahrung. Kälte, Gefahr, Schmerzen, Todesangst gehörten dazu

 Mario Wezel

Ich kann eine Sache, die ich mit Passion betreibe, gar nicht ohne Schmerz betreiben. Niemand geht in die Antarktis, wenn er nicht eine Begeisterung dafür hat. Deshalb gehört es dazu, Kälte, Einsamkeit, Dunkelheit auszuhalten. Der Schmerz ist dabei weder etwas Unangenehmes noch etwas Angenehmes. Ich muss mich anstrengen, ich muss Kälte ertragen, Angst, Schrecken und Hoffnungslosigkeit. Sonst kann ich solche Dinge nicht machen.

Bei der Nanga-Parbat-Expedition 1970, bei der ich meinen Bruder in einer Lawine verlor, hatte ich an der Merkl-Scharte ein Nahtoderlebnis. Ich schwebte außerhalb meines Körpers und sah mich von oben – eine typische Sterbeerfahrung. Es war ein angenehmes Gefühl, das Zurückkommen eher etwas Sonderbares.

Der Schmerz als Folge meines Tuns ist ein erträglicher

Ich habe den Schmerz beim Beinahetod als selbstverständliche Folge des Tuns empfunden und nicht als Leiden. Dass ich erfrorene Füße hatte, kaum noch gehen konnte, keine Hoffnung mehr sah, je in die Zivilisation, ins Leben zurückzufinden, all das war im Grunde keine körperliche Tragödie. Es war eine Selbstverständlichkeit – ich habe mich am Ende in den Tod fallen lassen. Die Schmerzen psychischer Natur, die später hinzutraten, als mir andere unterstellten, ich hätte den Bruder am Gipfel in die Rupalwand zurückgeschickt, um mit der Überschreitung eines Achttausenders eine Heldentat zu vollbringen, waren unendlich viel schlimmer für mich. Das war psychische Folter. Weil sie durch Willkür zugefügt wurden. Dies zu verarbeiten, ist sehr viel schwerer.

Der Schmerz als Folge meines Tuns, das ich mit Leidenschaft mache, weil ich es gewollt habe, ist ein erträglicher. Er basiert auf meiner Grundhaltung: Das selbstbestimmte Leben ist mir heilig. Deshalb kann ich Leiden und Schmerz dabei nicht anderen anlasten. Wenn das Leben, das Tun, nicht selbstbestimmt ist, ist das etwas ganz anderes. Allein wenn ich einer Arbeit nachgehen müsste, die ich nicht mag, die ich nicht will, aber zu der ich gezwungen bin, zum Beispiel weil ich eine Familie zu ernähren habe, dann würde ich weitaus stärker leiden, als wenn ich bei 40 Grad Kälte drei Monate lang in Selbstverantwortung durch die Antarktis gehe.

Protokoll: Irene Nießen


Sabine Faber, 53, ist Lehrerin und leidet seit ihrer Kindheit an Migräne. Oft kann sie nur im dunklen Zimmer liegen, nichts sehen, nichts hören, so schrecklich sind die Schmerzen

Ich sitze in der Schule, die Lehrerin steht vorn an der Tafel. Wahrscheinlich haben wir Englisch oder Deutsch, irgend so etwas. Plötzlich merke ich, wie meine linke Körperseite taub wird und sich ein Auge anfühlt, als würde jemand ein Messer dahinterstechen. Immer wieder, ein pulsierendes Stich! Stich! Stich! Dazu furchtbare Übelkeit. Ich melde mich und will der Lehrerin sagen, dass ich gleich erbrechen muss und nach ­Hause will. Aber ich bringe nur ein Lallen heraus. Die Lehrerin fragt nicht weiter nach, sie hat noch 44 andere Kinder in der Klasse. Als ich es nicht schaffe, meine Jacke anzuziehen, weil mein Arm taub ist, lachen mich meine Klassenkameraden aus. Ich will nur noch nach Hause, nur noch irgendwie die eine Stunde Schulweg hinter mich bringen und mich ins Bett legen. Auf dem Weg renne ich in ein Kleidergeschäft, weil mir so übel ist, aber niemand will mir eine Tüte geben. Lieber soll ich so schnell wie möglich verschwinden. Als ich mich in der Bahn übergeben muss, ist mir das unendlich peinlich.

14 Jahre war ich damals alt, seitdem hatte ich immer wieder Migräneattacken. In der Forschung hat sich viel getan, aber das Bild von der "eingebildeten Kranken, die sich ihre Migräne nimmt", haben viele immer noch. Dabei haben Migränepatienten wirklich andere Probleme als Menschen mit gewöhnlichen Kopfschmerzen: Bei Gesunden fängt das Gehirn stark zu filtern an, wenn es viele Reize empfängt. So können sie zum Beispiel Flackerlicht in der Disco gut ertragen. Aber mein Gehirn schaltet nicht runter. Ich bleibe extrem wach und aufmerksam. Eigentlich ist das ein Vorteil in meinem Beruf – ich bin Lehrerin. Aber wenn die Reize zu viel werden, geht plötzlich gar nichts mehr. Dann kann ich mich nur noch ins dunkle Zimmer legen, bloß nichts sehen, nichts hören, so schrecklich sind die Schmerzen. Zwischendurch muss ich immer wieder erbrechen.

Ich muss akzeptieren lernen, dass ich nein sagen muss

Im letzten halben Jahr hatte ich an 15 bis 17 Tagen im Monat Migräne. So oft kann ich natürlich nicht zu Hause bleiben, das könnte ich den Schülern gegenüber nicht verantworten. Und ich bin sehr, sehr gern Lehrerin! Deshalb versuche ich so oft wie möglich, mich trotzdem in die Schule zu schleppen. Wenn ich das nicht mehr schaffe, habe ich oft ein schlechtes Gewissen, obwohl ich weiß, dass ich nichts für meine Krankheit kann. Ich bereite sehr viel Unterricht vor, wenn es mir gutgeht, damit ich notfalls auf etwas zurückgreifen oder wenigstens Material weitergeben kann.

Gesagt haben meine Kollegen noch nie etwas, aber toll finden sie es bestimmt nicht, wenn sie mich vertreten müssen. Man sieht mir die Schmerzen ja auch nicht an. Die meisten kennen mich als lebenslustige Frau mit viel Energie. Wenn ich mit Attacken im Bett liege, sieht mich niemand.

Das führt zu einem Teufelskreis: Wenn ich viel arbeite und mich bei Extraangeboten in der Schule engagiere – was ich eigentlich sehr mag –, kommt die Migräne erst recht. Trotzdem bin ich sehr dankbar, dass ich keine lebensbedrohliche Krankheit habe und es immer wieder Tage gibt, an denen es mir gutgeht. Wenn ich starke Schmerzen habe, bete ich oft: "Jesus, hilf mir, ich kann es nicht mehr aushalten." Langsam begreife ich, dass "helfen" aber auch "akzeptieren lernen" heißen kann – dass ich nicht immer so kann, wie ich will, und dass ich Nein sagen muss, bevor etwas zu viel für mich wird. Egal, was andere denken. Das ist schwer, aber die Schmerzklinik Kiel hat mir schon viel geholfen, und meine Familie unterstützt mich, die Tipps umzusetzen. Meine drei Kinder hatten ­alle selbst schon schlimme Migräne, und mein Mann weiß nach 28 Ehe­jahren auch, was das bedeutet.

Protokoll: Gabriele Meister


Sytze van der Zee, 74, spürt kaum Schmerzen. Vor ein paar Jahren wäre er deshalb fast gestorben

Wenn ich erzähle, dass ich kaum Schmerzen spüre, wo ­andere schon wimmern, sagen viele Leute: "Das ist ja toll! Mir macht auch vieles nichts aus." Schließlich will keiner als wehleidig gelten. Dabei spüre ich wirklich weniger als andere – aber toll ist das für mich überhaupt nicht. Vor ein paar Jahren wäre ich deshalb fast gestorben: Als ich eines Morgens aufwachte, war mein Bett nass vor Schweiß, in der Magengegend spürte ich ein Brennen und Ziehen. Alles fühlte sich irgendwie taub an, hören konnte ich auch schlecht. Die Schmerzen waren erträglich, wurden aber überhaupt nicht besser: Am Abend des dritten Tages sah mein Bauch aus, als hätte ich eine Pyramide verschluckt. Im Krankenhaus erklärten mir die Ärzte, dass vermutlich ein Magengeschwür aufgebrochen sei. Ich müsse sofort operiert werden. Das hörte sich zwar nicht gut an, aber wenigstens wollten sie gleich etwas unternehmen. Dass man an einem aufgebrochenen Geschwür sterben kann, war mich nicht bewusst.

Als ich nach der Operation aufwachte, fühlte ich mich wie neu geboren: Das Brennen war verschwunden, hören konnte ich auch wieder. Vielleicht war ja doch alles nicht so schlimm gewesen? Der Operateur, der später zur Visite kam, nahm mir die Illusionen: "Sie haben noch einmal Glück gehabt. Vier Stunden noch und Sie wären tot gewesen". Warum ich nicht früher ins Krankenhaus ge­kommen sei, fragte mich der Pfleger. So ein Magendurchbruch sei normalerweise kaum auszuhalten. Das wunderte mich. Dass ich Schmerzen besser ertragen kann als andere Leute, war mir bis dahin nie in den Sinn gekommen. Dann erinnerte ich mich aber, wie ich mir mit 17 bei einem Schlittenunfall das Kreuzband gerissen hatte und danach noch ein wenig herumgelaufen war. Dass ich das noch konnte, hatte mir keiner glauben wollen. Auch als ich klein war, hatten mir die Impfungen und Piekser bei den Schuluntersuchungen nie etwas ausgemacht, während manche meiner Klassenkameraden zu heulen anfingen.

Das Thema "Schmerzen" ließ mich nicht mehr los. Ich befragte Schmerzpatienten und Extremsportler und veröffent­lichte ihre Antworten in einem Buch. Auch meiner eigenen Geschichte ging ich auf den Grund. Eine Ärztin sagte mir, meine hohe Schmerztoleranz sei wahrscheinlich genetisch bedingt. Vorstellen kann ich mir das schon. Väterlicherseits waren meine Vorfahren Bauern, Metzger und Seeleute aus Friesland – ziemlich raue Burschen. Manche wären vielleicht stolz darauf. Ich bin es nicht. Manchmal ist es zwar schon von Vorteil, wenig zu spüren, zum Beispiel beim Zahnarzt, aber mit einem Kreuzbandriss herumzulaufen, war sicher nicht gut für mein Knie. Ich musste den Traum von der Hockey-Nationalmannschaft aufgeben. Schmerzen sind ein Warnsignal. Sie melden, dass etwas kaputt ist und hindern einen daran, das Körperteil weiter zu bewegen. Mein Warnsystem funktioniert einfach nicht so gut. Das macht mir Sorgen.

Protokoll: Gabriele Meister

Sytze van der Zee: Schmerz. Eine Biographie. Knaus 2013, 22,99€


Alexander Stegner*, 32, litt an einem Bandscheibenvorfall, zehn Wochen lang. Wenn die Schulbehörde erfährt, wie schlecht es ihm ging, ist die Verbeamtung gefährdet – fürchtet er

Einmal im Jahr treffe ich mich mit Freunden aus der Studien­zeit in München. Diesmal wollten wir zum Schlittschuhlaufen gehen. Und hinterher Kneipentour, klar. Aber dazu kam’s nicht mehr. Auf der Eisbahn habe ich das Gleichgewicht verloren und bin hingefallen, auf die Hüfte. Mir ist sofort so ein dumpfer Schmerz oben in den Rücken gejagt. Zwischen den Schulterblättern haben sich die Muskeln verhärtet. So etwas war mir noch nie passiert.

Zuerst dachte ich mir: Fühlt sich fies an, aber wird schon wieder. Zum Krankwerden war der Zeitpunkt denkbar schlecht, ich bin nämlich Lehrer und noch bis zum Herbst auf Probezeit verbeamtet. Wenn man in dieser Zeit ernsthaft krank wird, kann es sein, dass eine Nachuntersuchung durch den Amtsarzt angeordnet wird. Und das kann die Verbeamtung gefährden.

Soweit dachte ich am Anfang aber gar nicht. Ich bin erst mal runter vom Eis. Wenn ich mir an die Stelle oben am Rücken gefasst habe, ging es einigermaßen. Sobald ich losgelassen habe, war der Schmerz wieder da. Ich kaufte mir Schmerztabletten und legte mich bei einem Kumpel auf die Gästematratze. Die Nacht war schrecklich. Am nächsten Tag bin ich zum Notarzt, der mir Schmerzmittel für die Rückfahrt im Zug verschrieben hat. Ich habe die maximale Dosis eingeworfen und den Rücken mit Wärmepflastern zugeklebt. So habe ich die drei Stunden Fahrt ausgehalten.

Der Orthopäde stellte fest: Bandscheibenvorfall! Die Bandscheibe war aufgerissen, ein Nerv eingeklemmt. Der Arzt hat mir Medikamente, Spritzen, Wärmeanwendungen, Massage und Krankengymnastik verschrieben. Trotzdem hatte ich zwei Monate lang höllische Schmerzen. Stehen, sitzen, liegen: nichts davon ging länger als zwei Minuten. Ich habe nur gewartet, dass der Tag rumgeht. Nachts habe ich immer mal eine Stunde geschlafen, lag dann wieder stundenlang wach, habe Schmerzmittel nachgeworfen.

Nach zwei Wochen hat mich der Di­rek­tor der Schule am Telefon nach der Diagnose gefragt. Da habe ich ganz unbedarft gesagt: Bandscheibe, das kann man nicht einschätzen. Später kam ich ins Grübeln: Muss der Direktor der Schulbehörde mitteilen, was ich habe? Kommt die Nachuntersuchung? Im Internet habe ich mir Gerichtsurteile zu abgelehnten Verbeamtungen durchgelesen. Das hat mir Sorgen gemacht.

Sechs Wochen war ich krankgeschrieben, dann hatte ich gleich einen Termin beim Direktor. Man sah mir meine Probleme noch an, ich hatte einen steifen Rücken und habe mich bewegt wie ein Roboter. Der Direktor meinte gleich: "Schön, Sie zu sehen, aber gut sehen Sie nicht aus." Er hat nachgefragt: Was genau haben Sie nun? Wie ist das einzuschätzen? Er hat das aus meiner Sicht eher aus Mitgefühl gefragt, trotzdem war ich unsicher. Ich habe etwas gedruckst, meine Devise war: möglichst wenig Unmut erzeugen, eher Fortschritte betonen.
Wie es mir wirklich geht – das habe ich nur mit meiner Freundin besprochen, auch weil es mal besser war, mal schlechter. Ich wollte bei Kollegen und Freunden keinen komischen Eindruck hinterlassen. Ich fragte den Arzt, wie es weitergehen würde. Es kann wieder alles gut werden, sagte er, es können auch Probleme bleiben. Nach sieben Wochen habe ich wieder angefangen zu unterrichten, in Teilzeit. Da hatte ich noch Schmerzen, musste mich zusammenreißen. Im Kollegium hätte ich den Grund für mein Fehlen am liebsten verschwiegen. Aber irgendwie ist es doch durchgesickert.

Nach zehn Wochen waren die Schmerzen komplett weg. Ich mache nun regelmäßig meine Kräftigungsübungen, kann wieder normal arbeiten, heben – alles! Nun muss ich noch einige Monate abwarten, ob ich zur Nachuntersuchung zum Amtsarzt muss.

Protokoll: Felix Ehring


Neda Navid*, 47, wurde in einem Gefängnis im Iran gefoltert. Der Grund: Ihre Söhne hatten sich in der Demokratie­bewegung engagiert. Auch Jahre später sitzt ihr die Angst im Nacken und lähmt sie, auch ganz einfache Dinge zu tun

Im Gefängnis eingesperrt zu sein war für mich unerträglich, auch wenn es nur drei Tage waren. Die meiste Zeit waren meine Augen verbunden. Ich hörte die Schritte der Aufseher, ich hörte Schreie von anderen Häftlingen. Ich wurde unerwartet auf den Rücken und die Arme geschlagen, ich weiß nicht einmal, ob es Männer oder Frauen waren. Ihre Schläge und ihre Schreie kamen völlig überraschend, ich war ja wie blind. Bis heute, vier Jahre nach meiner Ausreise nach Deutschland, kriechen mir Schmerzen durch Rücken, Arme und Kopf. In den letzten fünf, sechs Monaten sind sie sogar wieder stärker geworden. Beim Verhör fragten die Aufseher nach meinen beiden Söhnen. Da wusste ich, warum ich im Gefängnis war. Meine Söhne hatten sich vor und nach der Wahl 2009 in der Grünen Bewegung engagiert, sie kämpften für mehr Demokratie. Bei einer Demonstration waren sie verhaftet worden. Ich hatte Todesangst um sie und um mich, denn meine Cousine war bereits im Gefängnis getötet worden.

Ich konnte im Verhör überhaupt nichts sagen. Ich wollte mit Politik nichts zu tun haben. Ich habe mich nie politisch engagiert. Als den Männern und Frauen meine Antworten nicht gefielen, haben sie mich erneut geschlagen, auf den ­Rücken und auf die Arme, Dutzende Male. Ich habe geschrien und geheult. Ich habe gebettelt, dass sie mich freilassen. Seit den Tagen im Gefängnis bin ich ein anderer Mensch. Es fällt mir schwer, in den Gefängnis­aufsehern ­irgendetwas Menschliches zu erkennen. Ich habe das Gefühl, dass sie es genießen, wenn sie den Häftlingen etwas Böses antun, wenn sie über sie herrschen und ihnen Gewalt antun. Ich glaube, dass sie krank sind. Denn auch im Iran wird niemand gezwungen, anderen Menschen Gewalt anzutun.

Nach der Haft ging die Angst nicht wieder weg. Ich konnte nicht einmal allein durch die Stadt gehen. Hier in Frankfurt am Main mache ich eine Therapie, aber die Angst und die Schmerzen quälen mich weiter, vor allem wenn ich allein bin.

Wenn es mir ganz schlecht geht, dann telefoniere ich mit meinem Enkelkind im Iran. Oder ich gehe in einen Kellerraum bei uns im Haus, und dort schreie ich sehr, sehr laut meine Wut und Schmerzen heraus. Ich bin zwar verheiratet, aber seit vierzehn Jahren lebe ich von meinem Mann getrennt. Von ihm kann ich also auch keine Hilfe erwarten.

Ich denke Tag und Nacht daran, was ich erlebt habe. Auch die Schmerzen durch die Schläge kommen dann zurück. Das alles kostet mich viel Kraft. Dazu kommt, dass ich auch hier in Deutschland große Probleme habe. Mich zum Beispiel mit einem Händler, einem Behördenmit­arbeiter oder mit meinem Vermieter auseinanderzusetzen, ist für mich zu schwer. Bevor ich im Gefängnis war, wäre ich dazu in der Lage gewesen.

Protokoll: Eduard Kopp

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In Ihrem Titel Thema Schmerzen Magazin 04/14 berichten Sie auch über das Thema Migräne Sabine Faber/ Protokoll Gabriele Meister.
Hierzu eine Empfehlung, die vielen Leidgeplagten vielleicht weiter helfen könnte.
Histamin - Intoleranz
Es gibt nahrungsmittelinduzierte Unverträglichkeitsreaktionen, welche sich auch in Migräne äußern können und viele Jahre unerkannt bleiben.
Ein Glas Wein oder Bier, ein Stückchen Käse dazu, frische Früchte zum Nachtisch oder ein Stückchen Schokolade zum Dessert können Auslöser sein, dass bereits auf die Nacht oder am frühen Morgen der Kopf hämmert. In Kombination mit Medikamenten oder Allergien kaum zu diagnostizieren.
Meist kommen noch Nackenverspannungen, Streß privat oder beruflich bzw. wechselnde Großwetterlagen dazu, von diesen der Betroffenen glaubt sie seien der Auslöser. Die Migräne ist da. Im günstigsten Fall nach 3-4 Stunden vorbei.
Der Zustand kann jedoch auch Tage andauern verbunden mit Erbrechen, Bauchschmerzen, Licht und Geräuschempfindlichkeit.
Vielleicht kann dieser Hinweis Migränegeplagten helfen.

Mit freundlichem Gruß
Susanne Panther, Rheinmünster

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