Eine Karikatur des Zeichners Dieter Hanitzsch in der "Süddeutschen Zeitung" steht seit Tagen in der Kritik. Aber ist die Darstellung überhaupt antisemitisch? Unter Experten herrscht kein Konsens.
18.05.2018

Über die Deutung der umstrittenen Netanjahu-Karikatur der "Süddeutschen Zeitung" (SZ) sind sich Antisemitismusforscher uneins. Der Berliner Historiker Wolfgang Benz sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Freitag, er könne darin keinen Antisemitismus erkennen. "Ich sehe nicht die üblichen Klischees, die man zur Sichtbarmachung des Ressentiments benutzt", erklärte er. Anderer Meinung ist der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn: "Besagte Karikatur ist israelfeindlich und antisemitisch, aus einer Reihe von Gründen". Der neue bayerische Antisemitismusbeauftragte Ludwig Spaenle nannte die Karikatur "erschreckend".

Aufgrund der am Dienstag in der SZ erschienenen Karikatur beendete die Zeitung ihre jahrzehntelange Zusammenarbeit mit dem Zeichner Dieter Hanitzsch. Zuvor hatte sich Chefredakteur Wolfgang Krach für die Darstellung entschuldigt, die heftige Diskussionen ausgelöst hatte. Der 85-jährige Zeichner wies den Vorwurf des Antisemitismus zurück.

Forscher sieht Überreaktion

Auf die Trennung reagierte Benz mit Unverständnis. "Schon die Distanzierung des Chefredakteurs hat mich etwas befremdet", sagte der emeritierte Professor der TU Berlin. Die derzeitige Stimmung im Land sei, beim Thema Antisemitismus "überzureagieren".

Die Karikatur zeigt den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in Gestalt der israelischen Sängerin Netta, die den Eurovision Song Contest in der vergangenen Woche gewann. Netanjahu ist mit großer Nase und überdimensionierten Ohren abgebildet. In der Hand hält er eine Rakete, auf der ein Davidstern zu sehen ist, über seinem Kopf erscheint eine Sprechblase mit dem Satz: "Nächstes Jahr in Jerusalem!"

Benz zufolge ist die Karikatur nicht antisemitisch. So sei der Davidstern, der sowohl auf der Rakete wie auch im Hintergrund der Karikatur zu sehen ist, nicht nur ein religiöses Symbol, sondern auch eines der Politik, betonte der Historiker. "Und Netanjahus Nase ist zwar groß, aber es ist keine Haken-Nase, wie sie beispielsweise die Nationalsozialisten in ihrer Propaganda darstellten."

Unsicherheit im Umgang mit Juden

Dass die Karikatur für Debatten sorgt, führt Benz auf Unsicherheit im Umgang mit Juden und Israel zurück. Antisemitismus sei ein jahrhundertealtes Phänomen in Europa und durchaus ernst zu nehmen, erklärte Benz. Gegenwärtig herrsche jedoch in der Gesellschaft eine besondere "Entrüstungsbereitschaft".

Der Antisemitismusforscher Samuel Salzborn, Gastprofessor an der Technischen Universität Berlin, ist der Meinung, die gesamte Bildinszenierung verballhorne den israelischen Ministerpräsidenten und zeige ihn physiognomisch derart überzeichnet, dass er als "extrem aggressiv und zugleich als effeminiert und damit als abwertend-verweiblicht" erscheine. Dies sei "ein zentrales antisemitisches Motiv, indem Juden zugleich extreme Macht und Machtlosigkeit unterstellt wird".

"Karikatur ist absolut grenzwertig"

Indem die Karikatur Netanjahu mit einer Rakete in der Hand zeigt, transportiere sie mit Blick auf die aktuellen Gefechte an der Grenze zu Gaza falsche Annahmen, kritisierte Salzborn: "Völlig ausgeblendet bleibt dabei, dass Israel sich aktuell gegen terroristische Angriffe wehrt, also nicht der Aggressor ist." Bei der Formulierung "Nächstes Jahr in Jerusalem" handelt es sich seinen Worten nach um einen Ausspruch aus der Zeit der Diaspora, der hoffnungsfroh gemeint sei. Durch die Rakete werde er in Aggression umgedeutet.

Ach der neue bayerische Antisemitismusbeauftragte Ludwig Spaenle (CSU) findet die Karikatur "erschreckend". Er sagte: "Bei aller künstlerischer Freiheit - die Karikatur ist absolut grenzwertig." Sie verwende negative Stereotype für Juden und bediene Vorurteile übelster Sorte.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.