Foto: Sven Paustian
Trotz Facebook, Skype & Co.: Warum die Jugend von heute keine Gründe liefert, kulturpessimistisch zu sein.
Lena Uphoff
13.10.2011

Mein Großvater hat mir gerne und oft erklärt, dass sich unsere Schriftkultur in einem beispiellosen Niedergang befinde. Ich kann mich noch haargenau an die Gespräche erinnern, die er, Jahrgang 1895, und ich, rund 60 Jahre jünger, in den frühen 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts miteinander führten. Der Greis und der Teenager mochten, ja liebten einander – und lebten doch in Welten, die einander kaum mehr berührten.

1920, als junger Lehrer in Mannheim beschäftigt und mehrere Eisenbahnstunden von seiner Verlobten – meiner Großmutter – getrennt, so erzählte Opa Albert mehr als einmal, habe er ihr täglich – „täglich!“, darauf legte er großen Wert, und seine Stimme gewann an Lautstärke – einen mindestens achtseitigen Brief geschrieben. Darin habe er ihr alles berichtet, was er erlebt habe und was ihn bewegte. „Und ihr?“, unterbrach er sich rhetorisch fragend, „und ihr? Ihr könnt doch gar nicht mehr schreiben. Das Höchste, was von euch zu erwarten ist, sind Ansichtskarten mit einem Satz: Aus dem Urlaub in Österreich grüße ich euch herzlich. PS: Das Wetter ist sehr schön!“

Peinlich sei das. Die Jugend im Lande der Dichter und Denker, im Lande Lessings und Kleists, Goethes und Schillers gebe die wichtigste Kulturtechnik preis, äffe die Amis nach. „Das Einzige, was ihr noch könnt, ist telefonieren!“ Großvater, der Kulturpessimist, kam dann gerne auf das zu sprechen, „was ihr Musik nennt und Kunst“.  Er starb 1974, lange vor dem Siegeszug der mobilen Telefonie, des weltweiten Netzes, von Facebook und SMS.

Großvater war von 1934 bis 1945 Mitglied der NSDAP gewesen. Als ich ihn kennenlernte, erzählte er – wie die meisten seiner Generation – höchst ungern von dieser Zeit. Und tat er es doch, dann durchaus sarkastisch die eigene „Verirrung“ beschreibend. Seinen kulturellen Antiamerikanismus, seine Skepsis gegenüber neuen Techniken und Formen der Kommunikation, pflegte er, abgesehen von den zitierten Gesprächen, eher still und leise und schüttelte dazu sein schlohweißes Haupt.

Schade, dass der Urenkel den Uropa nicht über Goebbels befragen kann

Neulich trat ich ins Zimmer meines Sohnes, Jahrgang 1995. Er saß vor seinem Notebook. „Facebook!“, entfuhr es mir, „Facebook, aha! Hattest du nicht gesagt, du wolltest Schularbeiten machen? Faceboook! Das sind also die Schularbeiten!“ Mein Sohn sah mich ruhig und lange an. Ein nachsichtiges Lächeln spielte um seinen Mund. „Ja, Papa, ich mache Schularbeiten. Mit Facebook. Wir beschäftigen uns in Deutsch gerade mit Rhetorik, und unsere Arbeitsgruppe analysiert die Sportpalastrede von Joseph Goebbels. Und über Facebook tauschen wir unsere Arbeitsergebnisse aus. Kannst gerne reinschauen.“ Was ich tat. Und ich musste zugeben, wenn auch widerwillig: Es stimmte, was er gesagt hatte. Meine Niederlage hinwegmurmelnd verließ ich den Raum.

Als ich eine halbe Stunde später wiederkam, hörte ich aus dem Notebook Mädchenstimmen brabbeln – und die eines Jungen, den ich kannte. Neugierig spähte ich auf den Bildschirm. Skype! „Und? Schon fertig mit Deutsch?“, fragte ich. „Bereits beim gemütlichen Teil des Nachmittags angekommen?“ Wieder dieser nachsichtig überlegene Gesichtsausdruck bei dem Jungen: „Nein, Papa, wir machen gerade eine Videokonferenz unserer Arbeitsgruppe. Wenn du möchtest, kannst du gerne mithören.“ Und diesmal weniger widerwillig, stattdessen mit demütiger Einsicht, gab ich zu: Die Arbeitsgruppe „Sportpalastrede“ tauschte sich via ­Skype ernsthaft und konzentriert über die rhetorischen Tricks des Propagandaministers aus, über die quasireligiöse Sprache, in der er das kriegsmüde Volk noch einmal zu einem Gelöbnis hochgepeitscht hatte, dem Führer bis zum Endsieg zu folgen.

Mir fiel Großvater Albert ein. Nein, diese Jugend schreibt noch weniger als meine Generation, aber dafür kann sie anderes, beherrscht Techniken der Kommunikation, die uns nicht zur Ver­fügung standen. Kein Anlass zum Pessimismus! Diese Jugend ist nicht schlechter als frühere Generationen. Sie ist nur anders. Schade, dass mein Sohn seinen 100 Jahre älteren Urgroßvater nicht mehr über Goebbels befragen kann.

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Warum sollte diese Jugend auch schlechter sein, als andere Generationen?
Schlechter sind aus meiner Erfahrung nur die Alten, die unbelehrbar egoistisch und kindisch sind.

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