Ach, wie schön das war, als wir noch Probleme hatten
Erst waren es nur die Manager. Jetzt reden schon die Kirchen von Schmerzpunkten
Tim Wegner
24.05.2017

Der Sitznachbar im ICE, wie üblich zu laut am Handy. „Können Sie noch mal konkret die Schmerzpunkte benennen?“ Ich ahne: Der ist nicht Fakir. Der ist nicht Palliativmediziner. Der ist nur Willi Wichtig in einem Betrieb, in dem man zu verpassten Fristen oder überteuerten Angeboten nicht mehr „Problem“ sagen darf (schon lange nicht mehr), in dem auch die „Herausforderung“ durch ist und der „Knackpunkt“ sowas von 90er. Jetzt also: Schmerzpunkt. Aua.

Nervt mich das so, weil mein Schmerzpunkt in diesem Moment sehr konkret im rechten Innenohr liegt, in das der Kerl brüllt? Nein, das war beim „Knackpunkt“ auch schon so. Es nervt, weil ich ahne, was echte Schmerzen sind, seit ich die Titelgeschichte „Sterben tut weh“ unserer Chefreporterin gelesen habe. Seit ich in Wartezimmern sitze mit Menschen, die nicht nur wie ich Migräne haben, sondern Hexenschuss, Trigeminusneuralgie, Tumore. Man sieht das den Gesichtern an, was Schmerzen sind. Ganz ehrlich, solang einer noch im ICE rumschreien kann, wirds schon nicht so wehtun.

War absehbar, dass Kirchenleute mit gewisser Verzögerung in die Sprachmode einstimmen. Obwohl Christenmenschen ja sonntags 60 Minuten lang studieren könnten, wo der Jesus seine echten Schmerzpunkte hatte. Aber nein, auch hier taugt der Schmerzpunkt zur Dramatisierung an falscher Stelle. „Denn Gnade ist Schmerzpunkt der Geschichte des Christentums“, schreiben die Reformierten in einer Einladung nach Uelzen, und gleich bin ich froh, dass mein Zug an Uelzen meistens vorbeifährt.

Lebte ich in Kolumbien statt Köln, hätte ich vielleicht nur noch einen Sohn

Warum nicht: Seit Martin Luther streiten Christen über den Begriff Gnade? Das hätte ich verstanden, und es wäre auch weniger Genitiv. Und dann der „Ökumenische Pilgerweg für Klimagerechtigkeit“. Führte von Flensburg nach Paris, vorbei an „Schmerzpunkten, die sichtbar machen, wo weiter intensive Bemühungen zum Klimaschutz nötig sind“. Pilgern am klimatischen Schmerzpunkt, ffft. Klingt nach Blasen am großen Zeh. 

Was mir wirklich wehtut? Das Foto von Nora, Mutter von Max (18) und Samuel (9). Nora lebt in Medellín, einer Stadt, die sich gerade schick macht wie Köln-Ehrenfeld, lauter junge Leute, die was mit Start-ups oder was mit Musik machen. Aber Medellín ist in Kolumbien, wo 52 Jahre Krieg eine Gesellschaft von Hass, Rache und zu vielen Waffen hinterlassen haben.

Max ist tot, Samuel überlebt hoffentlich. Ich habe auch zwei Söhne. Würde ich statt in Köln in Kolumbien leben, hätte ich vielleicht nur noch einen. Wenn ich Nora und Samuel angucke, das ist Schmerz. Punkt. 

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