Anja Lehmann
Weil Rituale die heutige Lebenswelt mit den Traditionen verbinden, geben sie den Menschen Halt.

Wenn Sie im Sommer hoch in den skandinavischen Norden fahren und dabei den Polarkreis überqueren, wissen Sie schon, was Sie erwartet: eine Polartaufe. Lebertran schlucken und von Neptun pitschnass gespritzt werden. Ein altes Ritual, inzwischen ohne große Bedeutung, aber doch irgendwie lustig. Es macht den Schritt über diesen Breitengrad zu etwas Besonderem.

Unsere Tage sind voller großer und kleiner, bewusster und unbewusster Rituale: Die Tasse Tee am Morgen, ohne die der Start in den Tag holprig wäre. Ein ruhiger Moment des Innehaltens am Abend. Die Art, einander zu begrüßen, folgt einem Ritual. Und manche Freundin brauche ich sonntagabends vor 21:45 Uhr gar nicht anrufen, da schaut sie „Tatort“, jeden Sonntag.

Rituale schaffen Vertrautheit

Mir ist es ein liebgewordenes Ritual, am freien Samstag zuerst das Feuilleton mit Eindrücken aus einer ganz anderen Welt zu lesen und erst danach den Politikteil. Spätestens dort stoße ich auf ein schlechtes Ritual. Bevor ich erfahre, was der eine will und vertritt, lese ich Absätze lang darüber, warum das, was der andere vorschlägt, falsch bis völlig sinnlos ist. 

Rituale machen das Leben übersichtlicher. Sie begründen Gewohnheiten, sie sind Anker zum Festhalten. Und sie geben wie bei der Polartaufe einem Ereignis eine besondere Bedeutung. Rituale schaffen Verlässlichkeit und Vertrautheit. Wenn wir vor dem Länderspiel die Nationalhymne singen, schafft das Zusammenhalt. Als wir in Kindertagen mit dem abgeschmus­ten Teddy im Arm einschliefen, liebevoll begleitet von den Eltern mit Liedern, Gebeten, der Gutenachtgeschichte, gab uns das Halt und Geborgenheit.

Rituale verändern sich

In unserer hektischen Welt gewinnen Rituale an Bedeutung. Auch nach religiösen Riten wird neu gesucht. Ihnen wird  zugetraut, das Sehnen nach Dauerhaftigkeit zu stillen, und auch danach, Tiefe und Heimat zu finden. Aber Rituale verändern sich. Einerseits sollen sie nah am Menschen sein, in die Zeit passen. Andererseits spiegeln sie die religiösen Erfahrungen und die Praxis vieler Generationen. Frisch erfundene ­Rituale sind eigentlich ein Widerspruch in sich, sie sollen bewährt und gelebt und gereift sein und gerade nicht beliebig oder variabel.

Keine leichte Aufgabe für die Kirche. Sie soll den Menschen in ihrer Lebenswelt weit entgegenkommen und Taufe, Hochzeit oder Beerdigung möglichst individuell gestalten. Aber zugleich sollen die Liturgien die Kraft der Tradition entfalten. Alte, würdevolle Rituale und Texte sind ein Reichtum, auf dessen Erfahrung auch moderne Menschen nicht verzichten wollen. Sie erlebbar und erfahrbar zu machen, ihre Bedeutung und ihren Sinn zu eröffnen, das ist die Aufgabe der Kirche.

Alte Rituale neu entdecken

Religiöse Rituale, vertraute Lieder und Gebete entlasten davon, immer selbst nach Worten suchen und ständig neue Zeichen kreieren zu müssen. Im Urlaub, wenn mehr Zeit zur Verfügung steht als sonst im Jahr, gibt es vielleicht auch Gelegenheit, alte Rituale neu oder wieder zu entdecken. Und falls Sie über den Polarkreis gekommen sind, werden Sie sich gern und lang an diesen besonderen Moment erinnern.

Vielleicht entdecken Sie Rituale, die Sie mit hinübernehmen können in die Arbeitsmonate. Eine bewusst gemeinsam gestal­tete Zeit in der Woche. Oder einen Moment am Tag nur für Sie selbst, womöglich mit Gott. Ein Moment – einen „Zeit- Anker“, wie die Lyrikerin Carola Moosbach beschrieben hat: „Mitten am Tag / in den Himmel greifen / mit kurzen Armen / aber immerhin / ins Jenseits von Zeit Zweck und Ziel / (...) lachen und beten mit eiligem Mund / aber immerhin.“

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