Christoph Johannes MarkschiesThomas Meyer/OSTKREUZ
20.06.2012
5. Sonntag nach Trinitatis
Und der Herr sprach zu ­Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft (...) in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen...
1. Mose 12,1-4

Normalerweise frage ich mich bei jedem biblischen Text, was er wohl mit mir und meinem Leben zu tun hat. In welches Licht er meinen Tag und meine Nacht rückt. Glücklicherweise unterbrechen manche Abschnitte in der Bibel diesen Kreislauf der Selbstbezüglichkeiten heilsam.

Wenn in der hebräischen Bibel, unserem Alten Testament, Abram verheißen wird, dass er sein Vaterland und seine Verwandtschaft verlassen soll und anderswo zu einem großen Volk werden wird, denke ich erst einmal nicht an meine eigenen Auszugserfahrungen, sondern an das Volk Israel. Und ans Judentum: Die Bibel er­innert mich mit solchen Passagen daran, dass es – wie der Apostel Paulus so schön schreibt – eine Wurzel meines christlichen Glaubens gibt und ich wissen sollte, dass nicht ich die Wurzel trage, sondern die Wurzel mich trägt (Römer 11,18). Diese Wurzel ist der Bund, den Gott mit den ­Vätern Israels und Israel geschlossen hat.

Vom ungekündigten Bund Gottes mit Israel redet es sich inzwischen leichter als früher, leichter als in vielen Epochen der Kirchengeschichte, auch weil er seit dem berühmten Rheinischen Synodalbeschluss von 1980 nunmehr in den meis­ten landeskirchlichen Grundordnungen erwähnt ist.

Wie kritisieren und trotzdem solidarisch mit Israel bleiben?

Eine Gruppe von Beduinen vor einem Nomadenzelt, die sich auf die große Reise zu frischen Weidegründen und klaren Wassern macht, stelle ich mir seit Kindergottesdienstzeiten vor, wenn von Abram/Abraham die Rede ist. Inzwischen nicht mehr aufgrund der Illustrationen in der Ravensburger Kinderbilderbibel, sondern aufgrund der zahllosen Beduinen, die ich im Nahen Osten gesehen habe, mal mehr, mal weniger traditionell lebend.

Heute heißt für diese Menschen Auszug von der Verwandtschaft und dem Wellblechhaus des Vaters beispielsweise, dass die Tochter zum Studieren auf eine israelische Uni­versität geht. Dass das ein Segen sein soll, versteht der Familienrat oft nicht.

Die schwierige Geschichte der Christenheit mit ihrer jüdischen Wurzel verpflichtet uns, solche uralten Geschichten nicht zu schnell auf unsere eigene Situation zu beziehen, sondern eine ganze Weile beim Volk Israel und beim Judentum zu bleiben. Bei dessen Geschichte und Gegenwart. Auch wenn schwierige Fragen aufkommen: Wie stellen wir uns zu der Verheißung, dass die Nachkommen Abrahams ein großes Volk werden sollen, angesichts der völkerrechtswidrigen Siedlungspolitik der israelischen Regierung in den besetzten Gebieten? Wie kritisiert man eine hoch problematische Politik – und bleibt trotzdem solidarisch mit dem Volk Israel und dem Judentum und sensibel für die eigene geschichtliche Schuld? Daran scheitern viele, nicht nur der Literaturnobelpreis­träger Günter Grass.

Anderswo Segenskräfte entdecken

Der Segen, von dem im ersten Buch ­Mose geredet wird, gilt zunächst einmal nicht mir und nicht uns. Solche Erkenntnisse verwundern, verstören, schmerzen vielleicht sogar. Wenn ich aber versuche, mich am Segen für andere zu freuen, damit zu rechnen, dass Gottes Segen unter Umständen Wege geht und Früchte bringt, die ich nicht erwarte, kann ich auch leichter Segensspuren in meinem eigenen ­Leben identifizieren.

Aus dem Vaterland und der eigenen Verwandtschaft auszuziehen, fällt mir (wie den meis­ten Menschen) nicht eben leicht. Wir halten das oft eher für Vertreibung aus dem Paradies und für einen Fluch denn für Segen. Allzumal, wenn es im hohen Alter geschieht und Menschen das Wohnumfeld verlassen, in dem sie fast ein ganzes Leben zugebracht haben.

Anderswo Segenskräfte entdecken, dort, wo wir sie nicht vermutet haben, neuen Wegen zu vertrauen, auch wenn die alten so viel vertrauter, so viel gesegneter erschienen: Das kann man von Israel lernen. Und Gott sei dank inzwischen oft auch mit Israel lernen.

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