Fulbert Steffensky, Theologe am Vierwaldstättersee in Luzern fotografiert.Sophie Stieger
30.04.2011
20. Sonntag nach Trinitatis
Das ist der Wille Gottes: Dass ihr heilig lebt
1. Thessalonicher 4,1-8

Gesetze regeln, was der Regelung bedarf. Wo niemand tötet, braucht es kein Verbot des Tötens zu geben. Wo niemand stiehlt, braucht es kein Verbot des Stehlens zu geben. Paulus regelt in seinen Briefen, was der Regelung bedarf. Offensichtlich betrügt an sich schon in dieser jungen Gemeinde der Thessalonicher.

Darum die Mahnung des Apostels: Niemand gehe zu weit und übervorteile andere im Handel! Offensichtlich gibt es ein wildes Sexualleben, darum die Mahnung, die Unzucht zu meiden. Offensichtlich gibt es Streitsucht, Überheblichkeit, Händel der Gemeindemitglieder untereinander. Offensichtlich gibt es Fresser und Säufer, gegen die Paulus vorgehen muss.

Welche „normalen“ Gemeinden, wenige Jahrzehnte nach dem Tode Christi und wenige Jahre nach ihrer Gründung! Die Zeit, die in der Apostelgeschichte beschrieben ist, scheint lange vorbei; die Zeit, da die Gemeinde beieinanderblieb „im Brotbrechen und Gebet“; die Zeit, in der sie „alle Dinge gemeinsam“ hatten und in der sie ihre Habe teilten, „je nachdem es einer nötig hatte“ (Apostelgeschichte 2).

Die Kirche ist Heilige und Hure zugleich

Vielleicht hatte es diese Urzeit ja gar nicht gegeben, und es hat einer nur davon geträumt. Wie schnell die frühen Gemeinden „Kirche“ wurden, wie wir es heute sind! Es ist ein geringer Trost für uns heute, dass die damaligen Gemeinden Sauhaufen waren, wie wir es auch sind. Man kann sich gelegentlich fragen, was der Welt fehlte, wenn diese Kirche fehlte. Die Kirche ist Heilige und Hure zugleich, sagt man in der Theologie.

Das Wort Hure ist fast zu gemütlich und zu poetisch für diesen verlorenen Haufen. Wir müssen es zugeben: Es gibt Fortschritte der Humanität, die eher gegen die Kirche als mit ihr erreicht wurden. Man wäre blind, wenn man dies leugnete. Aber ich wäre auch blind, wenn ich nur dieses sähe.

Ich sehe eine andere Wahrheit und nenne sie mit Heinrich Böll: „Unter Christen ist Barmherzigkeit wenigstens möglich, hin und wieder gibt es sie: Christen, und wo einer auftritt, gerät die Welt ins Staunen. (. . .) Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache, und mehr noch als Raum für sie: Liebe für die, die der heidnischen wie der gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen . . .“

Es ist eine Gnade, dass wir eine Bibel haben, die gegen uns spricht

Solange die Kirche aufmerksam ist auf jene Lebensverlorenen, so lange ist sie selber nicht verloren und sie darf den Namen Gottes anrufen. Eine Religion allerdings, „die nicht den Mut hat, für die Menschen zu sprechen, hat auch nicht das Recht, von Gott zu reden“ (Luis Espinal). Die Kirche ist ein widersprüchliches Gebilde, wie sie es von Anfang an war. Aber sie ist wenigstens widersprüchlich und nicht eindeutig in ihrer Bosheit.

Die alten Bücher retten ihre Widersprüchlichkeit. Solange es die Bibel gibt und solange diese in der Kirche gelesen wird, sagt da eine Stimme: „Das ist der Wille Gottes, Eure Heiligung.“ Es erklärt die Stimme, wie Menschen leben sollen, „um Gott zu gefallen“.

Es ist eine Gnade, dass wir die Bibel haben, in der Christus für uns und zu unserem Trost spricht. Es ist eine Gnade, dass wir eine Bibel haben, die gegen uns spricht und uns nicht in Ruhe schlafen und boshaft sein lässt. „Unsere Heiligung“ ist der Wille Gottes, sagt der Apostel.

Vielleicht hat Paulus die Wurst höher gehängt, als wir springen können. Aber so machen es alle guten Lehrer.

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