Futur drei
Über 500 Jahre kann man wie ein Archivar reden. Oder wie jemand, der die Zukunft verändern will. Sondierungen im Mutterland der Reformation
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
26.04.2017

Es gibt Menschen, die gehen freiwillig ins Gefängnis. Sun Xun ist so einer. Der chinesische Künstler kauert auf dem Boden seiner kleinen Zelle und zeichnet, Strich für Strich, tagelang. Zwei Figuren – sie könnten mit ihren faltenreichen Gewändern einem mittelalterlichen Stich entnommen sein – wachsen an den Wänden empor und flankieren den Zellenausgang. Doch statt Köpfen trägt eine auf ihren Schultern eine in Flammen stehende Erdkugel, die andere einen beflügelten, aber drückend schweren Felsbrocken. Fliegen geht so nicht.

Hier also sind "Luther und die Avantgarde" zu Hause, in einem ehemaligen Gefängnis nahe der Wittenberger Schlosskirche. Es ist ein denkwürdiger Ort, um zu überlegen, was die Zukunft bringt. Aber es ist richtig, genau das zum Reformationsjubiläum 2017 zu tun. Denn alle Feierlichkeiten und Erklärungen können nur dann zum Erfolg werden, wenn sie Position beziehen zu den großen Zukunfts­fragen: Glauben, sozialer Zusammenhalt, Schöpfungsverantwortung, Gerechtigkeit zum Beispiel. Bei aller Geschichtstrunkenheit im Jahr 2017 ist das Entscheidende, was danach folgt.

Auch auf den Plakaten des Trucks, der seit Monaten durch das evangelische Europa fährt und Hunderte ­Reformationsberichte einsammelt (der sogenannte Europäische Sta­tionenweg), fragt ein Seelöwe, einen Globus auf der Nase balancierend: "Verändern wir die Welt oder ver­ändert die Welt uns?" Ja, wie ist denn nun der Stand der Dinge?

1.

Anruf bei Lars Robin Schulz. Er ist verantwortlich für das Rahmenprogramm einer "Summer School", und die findet, ja, in Wittenberg statt. Die evangelische Kirche ist mächtig stolz auf diese gemeinsame Veranstaltung mit allen deutschen Begabtenförderungswerken. Mehr als 500 Studenten und Doktoranden aus aller Welt treffen sich Ende Juli bis Ende August unter dem Motto "Es reicht. Was mich angeht". Sie campieren in der Jugendherberge und der Evangelischen Akademie. Was reicht? Das Studium, das politische Lavieren der GroKo, der Umweltschlendrian, der Flüchtlingszustrom? Es reicht – nämlich für alle.

Portrait Eduard KoppLena Uphoff

Eduard Kopp

Eduard Kopp ist Diplom-Theologe und in der chrismon-Redaktion leitender Redakteur Theologie. Er ist insbesondere verantwortlich für die Rubriken "Doppelpunkt" (Essay), "Religion für Einsteiger", "Vorbilder", für die Herausgeber-Kolumne "Auf ein Wort" und die Leserbriefe.

Die "Summer School": eine einzige Zukunftswerkstatt. Lars Robin Schulz spricht von religiöser Toleranz, von Rohstoffen und Verteilungsgerechtigkeit, er erwartet spannende Beiträge aus Südafrika, der Demokratischen Republik Kongo, aus Indonesien, aus den USA, aus der Türkei. Es soll auch ein feministisches Bibel­seminar geben und ein Planspiel mit der Energieavantgarde Anhalt. Von Bildungseliten zu sprechen, fällt der evangelischen Kirche schwer. Hier sollte sie es selbstbewusst tun: Die Sommerschule wird genau diese Leute zusammenbringen.

2.

Apropos Bildungselite. Im Briefkasten liegt ein dicker Umschlag. Eine Pfarrerin schickt Kopien eines Tests aus dem schulischen Religionsunterricht (den nicht sie, sondern jemand anders vor etlichen Jahren gehalten hatte). Sie war damals Vikarin in einer Düsseldorfer Gemeinde und sperrte Augen und Ohren auf. Das Thema: Wie die evangelische Kirche entstanden ist. Soll man über die Ergebnisse lachen, soll man weinen? "Eltern, die damals solch abstrusen Unterricht abgesessen haben, können heute natürlich auch kaum etwas weitergeben", schreibt die Pfarrerin und empfiehlt die Lektüre zum Reformationsjubi­läum. Da heißt es zum Beispiel:

"Luther versteckte sich vor den Juden auf einer Burg"

"Früher waren die Juden und ­Martin Luther noch katolisch. Dann wurden sie Evangelisch. Im Kloster gründete er die Evangelische Kirche. Die Juden wollten ihn später ermorden. Er versteckte sich auf einer Burg. Dort übersetzte er die Lateinische Schrift ins Deutsche." (Dafür gab es die Note 4.) – "Luther blieb im Kloster. Er brachte es so weit, dass er Papst wurde." (Note: 2.)

Kinder müssen die Religion wie­ ­eine Fremdsprache erlernen, sagt Axel Noack, pensionierter Bischof von Mitteldeutschland, Amtssitz Magdeburg, eine gute Auskunftsperson, was ­Zukunftsfragen angeht. Wird das Reformationsjubiläum das religiöse Wissen vertiefen? "Es ist sehr erstaunlich, wie viele Menschen sich heute für das Jubiläum interessieren", sagt der Theo­loge. "Darunter sind auch viele, die nicht zur Kirche gehören." Wahr sei aber auch: "Die Mehrheit der Menschen bei uns interessiert religiöses Wissen nicht." Sie sind nicht einmal dagegen.

3.

Kinder müssen die Religion wie eine Fremdsprache erlernen, sagt immer wieder Axel Noack, pensionierter Bischof von Mitteldeutschland, Amtssitz Magdeburg und trotz seiner 71 Lebensjahre ein Vordenker seiner Kirche. Trägt das Reformationsjubiläum dazu bei, religiöses Wissen zu verbreiten? "Es ist schon sehr erstaunlich, wie viele Menschen sich heute für das Jubiläum interessieren", sagt der Theologe.  "Darunter sind auch viele, die nicht zur Kirche gehören. Selbst in Wittenberg, wo das Thema den Menschen am Hals raushängen könnte, sind immer noch viele Menschen voll dabei." Wahr sei aber auch: ""Die Mehrheit der Menschen bei uns interessiert religiöses Wissen nicht. Sie sind nicht einmal dagegen."

Axel Noack hat vorausgesehen, dass sich mit dem demografischen Wandel auch die Aufgaben der Kirche verändern. Seit Jahren beobachtet er: Die gesellschaftliche Mitte wird schwächer - politisch, wirtschaftlich, kulturell. Und damit die klassische Kliental der Kirche. Die Ränder werden stärker, aggressiver. Es gebe bei manchen religiöses Interesse, einen zunehmend aggressiven Atheismus. Das klang schon vor ein paar Jahren wie eine Ankündigung von Pegida und AfD:

"Wir nutzen Luther zu wenig für wirtschaftliche Fragen"

Das wäre eine schöne Hoffnung: das Reformationsjubiläum als die so notwendige Klammer für die Gesellschaft! Ist das realistisch? "Da bin ich mir nicht so sicher", sagt Noack. "Es wird ein bisschen helfen, aber im Grunde den großen Trend nicht verändern, auch nicht den sozialen und wirtschaftlichen. Das ist mein Kummer, dass wir Luther zu wenig nutzen für wirtschaftliche Fragen. Luther und der Wucher – das war ein großes Thema. Das sehen wir heute in Deutschland viel zu wenig. Da fehlt uns was." Wann wird er sagen können, dass das Reformationsjubiläum ein Erfolg ist? Noack: "Das weiß ich gar nicht. Das mit den 500 Jahren hat uns der liebe Gott in die Wiege gelegt. Die Welt wird deswegen nicht besser sein als vorher. Der liebe Gott erhält seine Kirche und seine Welt von Aufschub zu Aufschub, und das Jubiläum ist jetzt wieder eine Gelegenheit, was zu machen. Ich rechne da nicht mit so großen Erfolgen oder Misserfolgen."

Einer, der gern in die Zukunft blickt, ist der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm. Gerade erst hat er, gemeinsam mit dem Chef der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, in einem Versöhnungsgottesdienst die Gemeinsamkeiten von Katholiken und Protes­tanten beschworen. Jetzt erscheint ein Buch über seine Zukunftsideen, seine politischen und kirchlichen Utopien. "Radikal lieben" steht auf dem Umschlag (Gütersloher Verlagshaus).
Bedford-Strohm wirbt dafür, die Liberalisierung der Gesellschaft "konstruktiv" aufzunehmen. Kein Lamento mehr über den kirchlichen Bedeutungsverlust, kein Trauern um die guten alten Zeiten! Die verlorene kirchliche Prägekraft habe "allzu oft auf einer unhinterfragten, mehr auf staatlichen Privilegien beruhenden gesellschaftlichen Dominanz als auf innerer Überzeugungskraft" gegründet, schreibt er. Die Gesellschaft werde pluraler, der Einzelne wichtiger. Darauf muss die Kirche eingehen. Bedford-Strohm wünscht sich außerdem eine "Erweckungsbewegung der ganz anderen Art", nicht frömmelnd, nicht rückwärtsgewandt. "Frömmigkeit ist ein Tor zur Freiheit", sagt er.

Ein verpixeltes Bild, nur aus dem Orbit zu erkennen

Vor dem ehemaligen Wittenberger Gefängnis bei der Schlosskirche ist der Kölner Künstler Achim Mohné mit seinem Werk schon ganz schön weit gekommen. Er hat 672 Bodenplatten verlegt. Aus der Nähe betrachtet wirken sie abstrakt, aber vom Satelliten aus ergeben sie ein grob gepixeltes Porträt, das von ­Edward Snowden. Sein Bild soll sich in die Weltkarten von Google Maps einschleusen, wie ein Parasit in den Servern und Netzen ausbreiten und überall für Freiheit werben.

Eine globale Protestwelle geht vom kleinen Wittenberg aus, diesmal von 672 kleinen, radikalen Bildpunkten, die kein digitaler Filter aufzuhalten vermag. Wittenberg, die ganz andere Medienstadt.

Permalink

Im obigen Artikel heißt es u.a.:

„Die verlorene kirchliche Prägekraft habe „allzu oft auf einer unhinterfragten, mehr auf staatlichen Privilegien beruhenden gesellschaftlichen Dominanz als auf innerer Überzeugungskraft“ gegründet, schreibt er. Die Gesellschaft werde pluraler, der Einzelne wichtiger. Darauf muss die Kirche eingehen.“

Meine Überzeugungen zur Zukunftsgestaltung der Kirche(n)! möchte ich in zehn Punkten zusammenfassen:

1. Beide Kirchen müssen sich darauf einstellen, dass sie heute nur noch dann eine Chance haben, wenn der Diskurs innerhalb derselben nicht mehr von fachwissenschaftlichen und zugleich menschenfernen Nebenschauplätzen bestimmt wird, sondern endlich man die Nachfolge Jesu dadurch antritt, dass man sich prioritär den Menschen zuwendet, vor allen den hilflosen und benachteiligten.

2. Beide Kirchen werden sich darauf einzustellen haben, dass, wenn sie auch in Zukunft auf dem Markt der Sinnanbieter noch eine Rolle spielen wollen, sie ihr Pastoral- und Seelsorgekonzept grundlegend verändern müssen.

3. Beide Kirchen werden zu realisieren haben, dass die Erwartungshaltung, nur die Kirchentüren öffnen zu müssen, um die Gottesdienstbesucher hineinzulassen, keinerlei Zukunftsperspektive bietet. Gewiss darf Kirche ihre in der Vergangenheit gemachten Gotteserfahrungen nie in Vergessenheit geraten lassen. Doch es wäre ein grobes Missverständnis, Gottes Wirken auf eine in der Vergangenheit abgeschlossene Periode zu reduzieren und der Meinung zu verfallen, dass all das, was Gott den Menschen zu sagen hatte, ausschließlich und endgültig als ein in der Vergangenheit liegendes und nicht mehr zu erweiterndes oder ergänzendes Geschenk Gottes an die Menschen zu betrachten wäre. Gottes Evidenz in dieser Welt ist jedoch auch immer wieder von Unverständlichkeiten, Brüchen und Diskontinuitäten geprägt. In Zeiten des Wandels und rascher Veränderungen gilt es einerseits am Unaufgebbaren christlichen Glaubensverstehens festzuhalten, aber andererseits auch sich zu öffnen für das von Gott den Menschen angebotene Neue, Überraschende, Ungewohnte.

4. Beide Kirchen werden realisieren müssen, dass ein grundlegender Paradigmenwechsel notwendig ist, nämlich dahingehend, dass Kirchen davon auszugehen haben, dass nicht mehr die Gläubigen zur Kirche, sondern die Kirche zu den Gläubigen kommen muss!

5. Beide Kirchen sollten erkennen, dass Gottesdienst- und Predigtangebote zwar nicht als obsolet zu betrachten sind, jedoch haben solche Angebote ihren Monopolanspruch längst verloren.

6. Beide Kirchen werden nicht um die Erkenntnis herumkommen, dass Gottesdienst auch Menschendienst und Menschendienst zugleich auch Gottesdienst ist. Die Referenzgröße für die alternativlosen Reformen ist der Dienstprimat der Kirche. Deshalb sehe ich im Konzilspapier „Gaudium et spes“ ein Dokument, dessen Inhalt immer und immer wieder von beiden Kirchen als Leitplanke und Richtschnur für konkretes Handeln im Alltag verstanden werden sollte: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände. Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist. Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden.“ (GS 1)

7. Beide Kirchen müssen zu der Erkenntnis gelangen, dass sie nur dann eine Überlebenschance haben, wenn sie genau das machen, was Jesus von Nazareth gemacht hat. Seine Jahre als Wandercharismatiker waren dadurch geprägt, dass er stets und in erster Linie an der Seite der Menschen gestanden hat, ihnen Mut gemacht und Nähe geschenkt hat, ihnen Sünden vergeben und die Botschaft der Gottes- und Nächstenliebe nicht nur gepredigt, sondern konkret vorgelebt hat. Nur die Rückkehr zu diesen jesuanischen Quellen werden beiden Kirchen eine Überlebenschance bieten.

8. Beide Kirchen sollten schleunigst den Mut finden, aus ihren teilweise versteinerten Traditionen herauszukommen und die „Zeichen der Zeit“ erkennen. Nicht ein krampfartiges Festhalten an von jungen Gläubigen nicht mehr nachvollziehbaren Ritualen und einer total verquasten Theologensprache ist gefragt, sondern das Hinhören auf Nöte, Sorgen und Ängste von Menschen muss im Mittelpunkt stehen. Die Geschichte zeigt immer wieder, dass sich Identität vor allem nicht in bewusster Wiederholung des angeblich immer so Dagewesenen realisiert, sondern bedeutsam und als eigentliche Quelle für Identität erweist sich die Vermittlung von Kontinuität und Diskontinuität; Kontinuität impliziert auch Diskontinuität, denn aus dem Entwicklungsprozess geht das Andere, das Neue, das für die Gegenwart und Zukunft Bedeutsame hervor. Die Wandlung ermöglicht eine neue Erfahrung dahingehend, dass man sich genau in ihr selbst treu bleibt bzw. erst sich in ihr wieder neu entdeckt. Biblische Erfahrungen und Vorbilder fordern gerade zu einem auch in der Gegenwart unverzichtbaren „Exodus“ heraus.

9. Beide Kirchen erliegen einem fulminantem Irrtum, wenn sie meinen, das drohende Zusammenbrechen eines Hauses dadurch verhindern zu können, dass man nur noch jeden Tag auf den Dachboden steigt, um zu sehen, welches Ausmaß der Verfall von Balken und Mauerwerk erreicht hat. Christliches Selbstverständnis und christlicher Glaube basieren nicht ausschließlich auf einem „regressiven Identitätsgedächtnis“ (Werbick). Kirche darf ihren „Honig“ nicht nur aus Vergangenheitserinnerungen saugen, sondern es gilt deutlich zu machen, dass Gott seine segnende und heilende Begegnung in jeder Gegenwart seinem Volk aufs Neue macht; Gott widerfährt seinem Volk immer wieder neu. Es muss also – wie der in El Salvador lebende Jesuit und Befreiungstheologe Jon Sobrino formuliert - immer wieder daran erinnert werden, dass „Gott ein ‚Heute’ hat, nicht nur ein bereits bekanntes und interpretiertes ‚Gestern’, weil er mit der Gegenwart seiner Schöpfung eine Absicht verbindet, nicht nur in der Vergangenheit.“

10. Beider Kirchen Zukunft und Akzeptanz wird entscheidend davon abhängen, ob die Vertreter beider Kirchen den Mut haben, auf der offenen See, auf das raue Meer der Wirklichkeit zu fahren oder ob sie ängstlich sich im sicheren Hafen den Auseinandersetzungen der Gegenwart entziehen.

Paul Haverkamp, Lingen

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