Fulbert Steffensky in seiner Wohnung in Luzern fotografiert.
Fulbert Steffensky, Theologe, in seiner Wohnung in Luzern fotografiert.
Sophie Stieger
Fulbert Steffensky, Theologe am Vierwaldstättersee in Luzern fotografiert.Sophie Stieger
04.08.2015
12. Sonntag nach Trinitatis
. . . Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege. Und er nahm ihn aus der Menge und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge löste sich und er redete richtig . . .
Markus 7,31–37

Die Bibel ist voll von Wundergeschichten. Menschen, die nicht hören können und eingesperrt sind in sich selbst, werden geheilt. Der Hunger von 5000 wird mit zwei Broten gestillt. Besessene werden von ihren Dä­monen befreit. Die Geschichten erzählen nicht, wie es war, sondern wie es einmal sein soll. Keine Niederlage und kein Schicksal soll endgültig sein. Jeder soll einmal ­seine Sprache und seine Lieder finden wie jener Taubstumme, von dem Markus erzählt. Keiner soll sprachlos bleiben, sondern reden und verstehen können.

###autor### Ich erschöpfe mich nicht in der Bewunderung jener Heilstaten aus alten Zeiten. Ob sie geschehen sind, wie berichtet ­ wird, ist mir gleichgültig. Sie sind das Versprechen für die Zukunft aller Lahmen, Blinden, Hungernden und Geplagten. So kann man sich in diese unglaublichen Geschichten hineinlesen mit der eigenen Lähmung und Sprachlosigkeit. Die Bibel erzählt nicht nur Wundergeschichten. Sie misstraut der Sucht nach Zeichen und Wundern. Kurz nach der Heilung des Taub­stummen kritisiert Jesus die Zeichenforderung: „Was fordert doch dieses Geschlecht ein Zeichen? Ich sage euch: Es wird diesem Geschlecht kein Zeichen gegeben werden!“ (8,12) Dem sprichwörtlich ungläubigen Thomas sagt Jesus in einer Auferstehungsgeschichte: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ (Johannes 20,29) Wir müssen ohne Wunder leben. Wir haben nur noch die alten Erzählungen.

Gelegentlich berufen sich Menschen auch heute auf Wunder. Ich habe Zweifel, die nicht so sehr mein Verstand erhebt. Meine Wunderkritik kommt aus der Mitte des christlichen Gottesbildes. An Chris­tus, den wir den Abglanz Gottes nennen, sind keine Zeichen geschehen. Er wurde nicht bewahrt vor den Schmerzen des Lebens. Ihn hat kein Gott vor der Folter und dem erbärmlichen Tod am Kreuz gerettet. Wenn ich ihn und sein Schicksal sehe, fange ich an, Wundern zu misstrauen. Es mag sein, dass gelegentlich ein Naturgesetz durchbrochen wird und ein Mensch Gesundheit auf geheimnisvolle Weise erlangt. Viel öfter aber bleiben die Wunder aus. Ein Wunder mag geschehen, theo­logisch interessiert es mich nicht. Viel mehr interessiert mich der wunderlose Glaube, der es fertigbringt, sich durch die Wüsten zu schleppen und doch die Hoffnung nicht aufgibt, dass das Leben nicht in Abgründe stürzt.

Es mögen gelegentlich außerordentliche Dinge geschehen, die wie das un­mittelbare Eingreifen übernatürlicher Mächte aus­sehen, aber sie sind nicht relevant. Im ­Gegenteil: Sie würden den Glauben infrage stellen. Dann erhebt sich noch viel dringlicher die Frage, warum die Wunder ausbleiben, warum die Blinden blind und die Lahmen lahm bleiben.

Wunder ist, was wir als Wunder interpretieren. Vielleicht gibt es für bestimmte Ereignisse in unserem Leben keine bessere Bezeichnung als dieses Wort; Erfahrungen und Verdichtungen unserer Existenz, in denen wir das Leben als stimmig erfahren.

Es sind Erfahrungen der Liebe, der Sexua­lität, des Gelingens eines Werks, der Bekehrung, der Heilung, der Schönheit der Natur, der Musik. Es sind Zeiten, in denen man ein ungeteiltes Ja zum Leben sagen möchte ohne jedes Aber.

Solche Zeiten wirken in der Tat Wunder. Sie heilen den Geist, das Gemüt und sicher auch den Leib. Wo Menschen die Mirakelwünsche aufgeben, wächst ihre Fähigkeit des Staunens und der Verwunderung ­ im alltäglichen Leben – darüber, dass eine Liebe gelingt; eine Freundschaft besteht; ein Blutsauger sich bekehrt; einem Schuldigen Vergebung gewährt wird; darüber dass man wieder atmen kann nach Todesnächten.

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Ein trauriger Beitrag. Resigniert scheint der Verfasser zu sein und enttäuscht vom Glauben und hält sich an seinen Erfahrungen des gelebten Lebens fest.
Gerne hätte er Jesus nicht am Kreuz gesehen, sondern durch ein Wunder gerettet. "Bist du wirklich Gottes Sohn, so steige vom Kreuz herab." wird hier wohl aufgenommen und Gott vorgehalten, dass er seinen Sohn leiden ließ. Das Wunder wird reduziert auf menschliches Verstehen.
Ist es denn nicht das größte Wunder, dass die Liebe Gottes das Kreuz verwandelt hat, dass es ihm möglich ist auch die tiefste Tiefe des Leidens und des Todes zu überwinden? Ich selbst habe in meinem Leben schon viele Wunder erlebt, manche lassen sich erklären und manche nicht. Ich verstehe sie als Gegenwart Gottes. Seine Liebe, die mir in vielfältiger Weise begegnet ist, oft gerade am intensivsten im Leiden.
Ich wünsche dem Verfasser, dass Jesus ihm das Effata zuspricht, um die Wunder in seinem Leben zu erkennen und auf das größte zuzuleben - die Auferstehung und Schauen Gottes von Angesicht zu Angesicht.

Antwort auf von Ferry Suarez (nicht registriert)

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Auch ich kenne Menschen, die durch die Hoffnung auf die Auferstehung Trost erfahren. Für mich ist sie Vertröstung.
Der Hinweis darauf, dass es irgendwann einmal gut werden wird und Gott schon irgendwie weiß, warum all das Böse passiert, nimmt mein Leiden nicht ernst. Den Tod eines Kindes, die Hoffnungslosigkeit in einem Flüchtlingslager.
Mein eigener Tod selbst macht mir dabei weniger aus als seine Folgen: dass ich Leid bringe zu Menschen, die mich lieben. Leid, das sich nicht so einfach trösten lässt.
Sie meinen, dass man nur genug glauben muss, und schon kann man das Leid überspringen? Ich kenne Menschen, die genau das meinten - und sie sind daran zerbrochen.
Deshalb kann ich mit Fulbert Steffensky viel mehr anfangen: "Die Liebe zum Leben bringt Feuer und Wasser zusammen: die harten Fakten und die gerupfte, aber nicht erschlagene Hoffnung. Die Liebe zum Leben lässt sich nicht durch falsche Stimmigkeit betören. Sie wird nicht zynisch und sie bleibt nicht blind." Der Glaube an die Auferstehung kann zynisch sein, weil er blind ist für das Schöne und Schreckliche des Lebens und eine seltsame Nähe zur Liebe zum Tod hat. Hoffnung ist auf dieses Leben ausgerichtet. Noch einmal Steffensky: "Hoffen lernt man auch dadurch, dass man handelt, als sei Rettung möglich. Hoffnung garantiert keinen guten Ausgang der Dinge... Hoffnung ist der Widerstand gegen Resignation, Mutlosigkeit und Zynismus."
Was nach meinem Tod kommt, lege ich getrost in die Hände Gottes.

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