Monika Höfler
Tränen sehen und zählen
Wer nicht trauern darf, findet keinen Neuanfang
16.07.2014

Ina steht, hinter einem Baum verborgen, auf dem Friedhof. Der Mann, den sie liebt, wird zu Grabe getragen. Aber die Blumen und die Erde auf seinen Sarg wirft eine andere – seine Frau. Ina hat keinen Platz in der Trauergemeinde. Ihre Beziehung war eine, von der niemand wissen durfte. Jetzt ist sie selbst im Tod zum Schweigen verpflichtet. Wie soll sie den Alltag bewältigen, die Wochenenden, die sie manchmal gemeinsam verbracht haben? Das Schlimmste: Ihre Tränen kann sie niemandem zeigen. Sie muss funktionieren, als sei nichts geschehen. Die abschätzigen Mienen kann sie sich vorstellen: „Was will die denn? Ist ja nur die Geliebte gewesen, hat einer anderen den Mann wegnehmen wollen! Selber schuld.“

„Selber schuld“ – das sind Männer, die ihre Frau ver- lassen haben und mit ihrem Katzenjammer Freunden auf die Nerven gehen: „Du hast doch gesagt, du hältst es nicht mehr aus! Was willst du noch?“ Selber schuld die Frauen, die es nicht vermocht haben, sich für ihr Kind zu entscheiden, und die es abtreiben ließen. Kaum jemand darf wissen von ihrer Trauer um das Leben, zu dem sie sich nicht bekannten. Oft wagen sie erst Jahrzehnte danach, einer Seelsorgerin zu erzählen, was sie damals getrieben oder gehalten hat. Selber schuld – mit diesem Votum macht man es sich genauso einfach wie dann, wenn man es für unangebracht oder übertrieben hält, dass ein Mensch trauert.

Wie gehe ich mit meiner Trauer um? Am besten darüber reden und vielleicht auch zusammen weinen. Susanne Breit-Keßler im Gespräch

Da ist der Vater mit 98 Jahren gestorben, Kinder, Enkel und Urenkel weinen bitterlich. „Der hat doch sein Leben gelebt“, wird gesagt und der Schmerz über den Verlust eines wunderbaren, gütigen Menschen abgetan. Ein Kind wird tot geboren, und manchmal ist jemand da, der tatsächlich meint, das Paar sei jung genug, es könne noch weitere Kinder bekommen.

Menschen brechen schier zusammen unter einem Verlust – aber sie dürfen ihre Trauer nicht zeigen. Man spricht ihnen das Recht darauf ab oder straft sie mit Vorwürfen. Sie können sich ­dadurch mit tatsächlicher oder vermeintlicher Schuld nicht auseinandersetzen.

Wer der Wahrheit ins Gesicht schaut, wird frei für einen Neuanfang

Damit macht man aufrichtiges Weiterleben unmöglich. In einem Gebet des Alten Testamentes heißt es: „Zähle die Tage meiner Flucht, sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie“ (Psalm 56,9). Das ist es, was Menschen brauchen, die sich mit ihrer Trauer allein- gelassen fühlen und im Geheimen trauern: dass sie wahrgenommen und ernst ­genommen werden. Sie haben andere nötig, die ihre Tränen ­sehen möchten, die empathisch zuhören. Das heißt längst nicht, dass man alles gutheißt, was einem anvertraut wird, oder man Schuld ver- schweigen müsste. Im Gegenteil – erst wenn man der eigenen Wahrheit ins Angesicht schaut, wird man frei für einen Neuanfang.

Wenn einer endlich Raum bekommt, offen darüber zu weinen, was er verloren, vielleicht auch selber dahingegeben hat, dann kann er oder sie mit der Zeit die eigene Lebensgeschichte akzeptieren. Vielleicht sogar ihren inneren Sinn erkennen. Wenn man mit anderen deren Tränen sammelt und liebevoll zählt, hilft man ihnen, Trauer und Schuld ehrlich hineinzunehmen in das eigene Leben. Dann, wenn unsereins lernt, mitzuweinen und die Dinge beim Namen zu nennen, können Trauernde als Kinder, Männer und Frauen sie selbst sein und werden – mit ungeahnten neuen Perspektiven.

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Danke für diesen Beitrag! Auch ich trauere um meinen Geliebten. Er lebt noch, aber ich habe Schluss gemacht, aus Vernunft. Schließlich sind wir beide verheiratet, beide nicht glücklich zwar, aber trotzdem. Und ich bin gläubig.
Dabei wäre ich am liebsten bei ihm geblieben. Ich wurde noch nie so geliebt wie von ihm, habe mich noch nie so geborgen gefühlt, ihm ging es genauso. Trotzdem habe ich Schluss gemacht, aus Rücksicht auf unsere Ehepartner und wegen der 10 Gebote.
Er war sehr verletzt, als ich es ihm gesagt habe und mich zerreißt es auch schier. Aber hatte ich eine andere Wahl? Für ihn zählten nur er und ich, ich sah uns in einem sozialen Umfeld und sah auch die Konsequenzen unseres Handelns. Trotzdem tut es sehr weh und manchmal hadere ich auch mit meinem Glauben, dass ich jetzt meine große Liebe opfern muss, nur weil Ehebruch verboten ist.
Und auch ich werde eines Tages hinter einem Baum auf dem Friedhof stehen und um meinen Liebsten weinen, während vorne am Grab die Ehefrau Blumen streut...
Haben Sie keinen Tipp für mich (und ihn), wie wir wieder unseren inneren Frieden finden?

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Das kommt mir bekannt vor.
"nach beinahe zwei Jahren muss doch mal Schluss damit sein."
"Du meldest Dich ja gar nicht mehr."
"Wir müssen mal wieder eine Feier machen, so wie früher."
"Du kannst ja traurig sein, aber bitte zuhause. Und Du könntest Dich mal wieder ein bisschen mehr um Deine Freunde und Familie kümmern."

Das ist alles sicher nicht böse gemeint. Aber die Unwissenheit und das Bedürfnis, Tod und Trauer zu verdrängen ist so groß. Und das schmerzt fast noch mehr.
Eine andere trauernde Mutter hat geschrieben, dass Trauer nicht bewältigt werden kann. Sie muss durchlebt werden, weil man mit ihr leben muss.
Die Unfähigkeit der Gesellschaft mit diesem unbequemen Seelenzustand der Sehnsucht umzugehen, macht Trauernde mitunter krank.

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Es ist sicher sehr schwer, einen lieben Menschen zu verlieren, egal wodurch man ihn verliert. Aber es gibt noch einen anderen Grund zu trauern. Das ist, wenn man seine Gesundheit verliert. Auch diese Trauer sitzt sehr tief. Wenn man dann aber nach 2 verlorenen (und gelittenen ) Jahren feststellen muss, dass diese schwere Erkrankung durch falsche Medikamente erfolgte und gleich danach wieder durch falsche Medikamente ein weiteres Jahr verliert, ist man voller Wut. Diese Wut kann auch sehr zerstörerisch sein. Ich habe fast 2 Jahre benötigt, um mich von dieser Wut zu befreien und wieder schlafen zu können. Geholfen hat mir persönlich, dass ich mir die ganze Wut von der Seele geschrieben habe. Vielleicht hilft das ja auch anderen Betroffenen. Denn Außenstehende können damit nicht umgehen.

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"dass ich jetzt meine große Liebe opfern muss, nur weil Ehebruch verboten ist." - Ich finde es problematisch, religiöse Gebote vor der Stimme des Herzens zu bevorzugen - denn meiner Erfahrung nach ist das Herz der direkteste Zugang zum Göttlichen. Eine große Liebe lässt einen so gut wie ungefiltert erfahren, dass der Urgrund des Seins, göttliche Liebe, immer und überall präsent ist.
Was natürlich nicht zweitrangig ist, sind andere Menschen, die involviert sind. Aber auch die Menschen in der Umgebung profitieren, wenn man authentisch und ehrlich lebt - was nicht heißt, das dies immer der bequemste Weg für alle Beteiligten ist.
Und die Liebe bleibt, rationale Erwägungen sind ihr wurscht - nicht wahr?

Also ich würde nicht auf den Friedhof warten....

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Herzlichen Dank für diesen einfühlsamen und tröstenden Artikel. Ich kenne die Trauer im Verborgenen sehr gut. Selten habe ich jedoch Menschen gefunden, welche die Kraft haben, wirklich auf Trauernde einzugehen, zuzuhören und der Trauer Raum zu geben. Die Trauernden sollen möglichst schnell wieder "funktionieren".
Ich hatte verschiedene Anlässe zu trauern: Eine gute Freundin von mir erkrankte an einer schweren Depression, ihren Eltern durfte man dies nicht sagen, um sie zu schonen. Die Last der Trauer über den schweren Zustand musste ich grösstenteils tragen, da sich viele im Umfeld überfordert fühlten.
Später erlebte ich eine grosse Trauer, weil sich mein über 95-jahre alter Vater aus Altersgründen mir gegenüber (seiner einzigen Tochter) äusserst lieblos, anspruchsvoll, und undankbar verhielt. Meine engere Verwandtschaft hielt sich emotional raus und meinte, "der Vater sei doch ein netter alter Mann".
Die grösste Trauer erlebte ich vor drei Jahren, wo unter traurigen Umständen meine 10-jährige Beziehung mit meiner Lebensgefährtin auseinanderbrach. Auch hier war es sehr schwierig, die Trauer mitzuteilen, da viele Menschen einer gleichgeschlechtliche Beziehung gegenüber zurückhaltend bzw. ablehnend gegenüberstehen.
Die Trauer konnte ich zwar im Rahmen von psychotherapeutischen Gesprächen mitteilen. Im Alltag und mit Menschen in meinem Umfeld war dies leider nur beschränkt möglich, was oft zu einem Gefühl einer grossen inneren Einsamkeit führte. Ich teile nun mein Leid
(und meine Dankbarkeit - trotz allem) dem Göttlichen im Gebet mit. Anna

Mein Name ist Caterina Woj, ich bin Dokumentarfilmerin. In meinen Filmen dokumentiere ich die Geschichten von Menschen. Oft solche in Notsituationen. Ich erzähle ihre Geschichten mit Sensibilität und Rücksichtnahme. "Trauer im Verborgenen", das Thema des von mir sehr beachteten Magazins Chismon interssiert mich sehr. Gern würde ich eine solche Geschichte im Film erzählen oder einem Fernsehbeitrag. Bitte schreiben Sie mir, wenn Sie betroffen sind und mit ihrer Geschichte vor die Kamera gehen würden.
Sehr herzlich
Caterina Woj
www.caterina-woj.de

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Ja, es tut weh immer wieder jeden Tag festzustellen "selber Schuld an der Situation" besonders, wenn es kein Zurück mehr gibt, was tun?
Ich danke für Ihre sachlichen und einfühlsamen Schilderungen vielleicht helfen sie.

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