Anthia Cumming
Herzenswünsche
Öfter, als uns bewusst ist, formulieren wir unsere sehnlichsten Wünsche. Gebete sind offensichtlich kein Monopol der Religionen
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
18.07.2014

„Bitte, bitte, eine Drei!“, wispert die Schülerin flehentlich, während der Chemielehrer die korrigierten Klausuren austeilt. Der Lehrer hält das mit Rotstift bearbeitete Blatt fertig benotet in seiner Hand. Die Zensur auf dem Papier wird sich bestimmt nicht mehr in eine bessere verwandeln. Die Schülerin kann bestenfalls hoffen, dass die Sache günstig für sie entschieden ist.

Genau genommen ist das Flehen der Schülerin ein Gebet. Vollständig müsste ihr Satz heißen: „Bitte, lass es eine Drei sein!“ Dabei weicht die Schülerin auf Nachfrage, an wen sie die Bitte richtet, vermutlich aus: „Das ist nur so eine Redensart.“

Jeder Mensch betet – wenigstens hin und wieder. Dem „O Gott!“-Seufzer merkt man das zumindest formal noch an. Auch ein „Oje“ ist ein abgekürztes Stoßgebet, vollständig heißt es: „O Jesus!“ Theologen sagen, das Gegenüber des inneren Zwiegesprächs sei Gott. Denn es gehört nun einmal zu einem Wunsch, dass man ihn an jemanden richtet. Das Gebet ist aber deshalb noch lange kein Monopol der Religionen. Nur weil jemand die Vorstellung ablehnt, dass Gott ein persönliches Gegenüber ist, muss er das Stoßgebet keinesfalls für eine Schrulle halten. Abtrainieren sollte er es sich jedenfalls nicht. Sonst verlernt er möglicherweise zu benennen, was er eigentlich gerade will.

Hilft Beten wirklich - Pastor Henning Kiene sagt: In jedem Fall

Etwas anderes ist das religiöse Gebet, das in einen Ritus eingebunden und von Formeln durchsetzt ist. Jesus von Nazareth stand ihm eher skeptisch gegenüber. „Wenn ihr betet, sollt ihr nicht wie die Heuchler sein, die gern in Gotteshäusern und an Straßenecken stehen und beten, damit die Leute sie sehen“, sagte er in der Bergpredigt (Matthäus 6). „Wenn du betest, geh in deine Kammer, schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist“, heißt es da weiter. Im Gebet soll der Mensch nicht religiöse Selbstdarstellung betreiben, sondern Gott seine Herzenswünsche vortragen – auch wenn „euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet“. So sah es Jesus.

Im Gebet kann der Mensch zu einer starken Persönlichkeit heranreifen

Im Klassenzimmer tritt der Chemielehrer vor die Schülerin und drückt ihr die Klausur in die Hand. Wieder eine Fünf! Hätte sie sich doch besser auf die Klausur vorbereitet! Auf das bange Hoffen folgt die Enttäuschung. War das Stoßgebet umsonst? – Nein, das war es nicht. Wer wunschlos ist, dem kann auch kein Wunsch in Erfüllung gehen. Man kann die Frage auch umgekehrt stellen. Wenn die Chemieklausur doch mit einer Drei benotet worden wäre, hätte das bedeutet: Gott hat das Gebet der Schülerin erhört? Aus Sicht der Betenden schon.

„Bittet, so wird euch gegeben“, sagte Jesus (Matthäus 7): „Klopft an, so wird euch aufgetan.“ Sollte deshalb jeder Gebetswunsch in Erfüllung gehen? Nicht unbedingt. Ein Gebet ist darin einer Bitte von Mensch zu Mensch ähnlich. Sie kann überwältigend direkt sein, wie die des blinden Bettlers Bartimäus in Jericho. Jesus fragt ihn: „Was willst du?“ Er antwortet: „Dass ich sehen kann“ (Markus 10,51). Woraufhin Jesus ihn heilt. Ebenso kann eine Bitte ausgeschlagen werden. Nachts im Garten Gethsemane fleht Jesus in Todesangst: „Lass diesen Kelch an mir vorüber gehen“ (Lukas 22,42). Da sind die Wachleute schon im Anmarsch. In derselben Nacht wird Jesus verklagt und tags drauf zu Tode gequält.

Im Gebet kann der Mensch zu einer starken Persönlichkeit heranreifen. Er kann lernen, seine Wünsche auf das Wesentliche zu konzentrieren: auf das tägliche Brot, darauf dass ihm die Schuld vergeben wird, dass er vor Versuchungen bewahrt und dem Bösen fernbleibt.

Aus kleinen Wünschen können auch große werden. Der Mensch kann im Gebet lernen, Gott die Ehre zu geben: „Geheiligt werde dein Name.“ Er kann Frieden und Gerechtigkeit herbeisehnen: „Dein Reich komme.“ Und er kann darin gelassen werden, Dinge hinzunehmen, die er selbst nicht ändern kann: „Dein Wille geschehe.“ Diese Bitten hat Jesus in dem schönsten aller Gebete zusammengefasst. Es beginnt so: „Vater unser im Himmel“.

Vor hundert Jahren gewann der franz. Apotheker Émile Coué (1857-1926) in kurzer Zeit weltweites Auf- und Ansehen, weil er durch seine enormen praktischen Erfolge bewusst machte, dass wir Menschen STÄNDIG AUTOSUGGESTION BETREIBEN.
Das bedeutet ins Religöse übersetzt: Wir beten unablässig in einer bestimmten Qualität.
Jeder noch so kleine Gedanke, den wir denken, hat konkrete, praktische Folgen.
Was könnte es da Wichtigeres für uns geben, als BESSER denken - beten - Autosuggestion zu lernen?
Wer da aus der Not zu Gott ruft: "Hilf!", sich aber nicht bewusst wird, wie oft er dabei denkt: "Du hast mir ja noch nie geholfen, Du wirst mir wieder nicht helfen.", der hat die Bibel zu flüchtig gelesen: "ALLES, worum ihr bittet, werdet Ihr empfangen."
In einer Welt des NICHT GENUG, achten wir nicht auf die Qualität unseres Tuns.
Wenn es nicht das Gewünschte bringt, wiederholen wir nur unsere Anstrengungen.
Dabei sollte uns doch irgendwann auffallen, dass wir davon immer nur angestrengter werden.
Warum wiederholen wir unsere MISSERFOLGSGEDANKEN, -worte, -taten ständig?
Warum haben wir uns darauf konditionieren lassen, dass wir nur noch nicht fleißig genug waren?
Warum fragen wir uns nicht, ob wir intelligent genug waren?
Beten ist keine Fleißaufgabe; Beten ist eine Intelligenzaufgabe.
Intelligenz besteht darin, demütig zu akzeptieren, dass man auch ANDERS denken kann.
An Coués Beispiel ließe sich das lernen.
Freundlich grüßt
Franz Josef Neffe

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Zitat aus dem Artikel: "Jeder Mensch betet - wenigstens hin und wieder." Ach ja? Und wenn einer nicht betet? Dann lauern wir darauf, dass wir ihn auf frischer Tat bei einer benutzten Floskel oder einem geäußerten Wunsch erwischen. Dann ist er gnadenlos dran. Dann gibt es kein Halten mehr. Aus einer Floskel oder einem Wunsch wird dann auf Teufel komm raus begrifflich ein Gebet gebastelt. Dieses Schema ist bei vielen Gläubigen sehr beliebt. Nach gleichem Schema erfährt man, dass auch jeder glaubt - er hat es bloß nicht spitz gekriegt. Ich wünschte mir, die Gläubigen würden mal mit dieser gedanklichen Zwangseingemeindung der ungläubigen Nichtbeter aufhören. Klar, das war jetzt wieder ein Gebet. __________________________________________ Zitat: "Denn es gehört nun einmal zu einem Wunsch, dass man ihn an jemanden richtet." Und wenn sich ein Wunsch eindeutig an niemanden richtet, dann erfinden wir eine Instanz, an die der Wunsch gehöriger Weise zu richten wäre. Ich wünsche mir, dass der Urlaub nicht verregnet. Wer ist jetzt zuständig für die Entgegennahme dieses Wunsches? Die Naturgötter sind nicht mehr im Dienst. Der Christengott ist einerseits scharf darauf, dass man ihn fleißig bittet, andererseits macht er erfreulich klar, dass er sich in keinerlei Lieferpflicht sieht. Diesen Wunschadressaten sollte man also besser unter die gefährlichen Scharlatane einreihen. Was spricht dagegen, einen Wunsch zu äußern im Wissen, dass es keinen Wunschadressaten gibt? Zitat: "Sonst verlernt er möglicherweise zu benennen, was er eigentlich gerade will." Das glatte Gegenteil trifft zu. Solange ich mir keinen Hokuspokus zum Wetter denke, weiß ich genau, was ich will: Schönes Wetter! _________________________________________ Zitat: "Im Gebet kann der Mensch zu einer starken Persönlichkeit heranreifen." Diese Befürchtung teile ich. Wer allerdings den grausamen Unfug mit der Einteilung der Mitmenschen in starke Persönlichkeiten einerseits und lausige Verlierertypen andererseits nicht mitmachen will, hat allein deshalb einen guten Grund, von Gebeten aller Art Abstand zu nehmen.

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Nach meiner Erfahrung ändert Beten nicht nur den Betenden sondern auch seine Beziehung zu anderen Menschen und zu sich selbst, ja, sein Verhältnis zur Natur.
Messbar ist das nicht und lässt sich auch nicht dingfest machen. Ich erlebe es aber als wirksam.
Und das hat nach meiner Erfahrung nichts mit Autosuggestion oder Konditionierung zu tun.
Was aber die Überheblichkeit angeht, so meine ich, dass Beten bescheiden macht. Meine Möglichkeiten sind begrenzt. Aus Unachtsamkeit, aus Schwäche, werde ich schuldig an meinen Mitmenschen, der Natur, und an mir selbst. Beten hat für mich viel mit Selbsterkenntnis zu tun. Ich stelle mich meinen Taten und Gedanken. Und Vergebung muss ich erbitten, gegenüber denen, die durch mich Schaden erlitten, gekränkt, verletzt wurden, und wo das nicht möglich ist, vor Gott.

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Ich muss doch tatsächlich Iwan zustimmen. Ich bezweifle auch sehr, dass ein Wunsch immer einen Adressaten hat. O jemine (O Jesu Domine) oder das neuerdings grassierende "omg" werden nach meiner Beobachtung in der Regel vollkommen gedankenlos gebraucht, also auch ohne Hintergedanken. Wer, darauf angesprochen, antwortet: "Bin nicht gläubig", den sollte man in diesem Un- oder Nichtglauben bitte auch respektieren. Indessen, Iwan, gibt es einen Haufen Leute, die durchaus "starke Persönlichkeiten" sind, obgleich sie von einem großen Teil der Umwelt als Verlierertypen eingestuft werden.

Ich möchte den Begriff des Betens wirklich einem bewussten Gespräch mit Gott vorbehalten, ihn aber nicht aufs Bitten oder Wünschen beschränken. Ja, Gott hört mein Gebet, das glaube ich fest. Trotzdem ist er kein Wunscherfüllungsautomat und erfüllt keineswegs alle meine Wünsche (aber alle seine Verheißungen - GLAUBE ich!)

Beten ist, Gott sei Dank, KEINE Intelligenzaufgabe. Gott hört das Gebet auch von denen, die er anders begabt hat als mit der gesellschaftlich so hoch geschätzten Intelligenz. Er hört auch die Kleinen und die Schwachen und die mit diversen Behinderungen.

Wunscherfüllung, positives Denken und die Verheißungen von Herrn Coué stehen auf einem anderen Blatt. Über M. Coué gibt es den schönen Limerick:

"This very remarkable man / Commends a most practical plan. / You can do what you want / If you don't think you can't. / So don't think you can't think you can!"

Sehr lustig, aber Beten ist das nicht :-)

Grüße
Coriander

PS. Das ist mir zu doof, bei Chrismon womöglich noch nen Extra Account aufmachen zu müssen oder wie auch immer. Ich bin registrierte Userin auf ev.de; wenn ich von da auf Chrismon weitergeleitet werden, aber beim Einloggen solche Hürden aufgebaut werden, mach ich hier bald gar nichts mehr.

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CoriAlsGast schrieb am 18. August 2014 um 18:33: "Indessen, Iwan, gibt es einen Haufen Leute, die durchaus "starke Persönlichkeiten" sind, obgleich sie von einem großen Teil der Umwelt als Verlierertypen eingestuft werden." Wer das Güteprädikat "starke Persönlichkeit" verliehen bekommt, hängt davon ab, was derjenige, der die lobende Einschätzung von Stapel lässt, sonst so zu Gott und der Welt denkt. Dem dürfte mutmaßlich auch der Autor des Artikels nicht widersprechen. Durch Ihren richtigen Hinweis erhalte ich die Möglichkeit, etwas deutlicher zu machen, dass ich etwas anderes zur Debatte stellen wollte. _______________________________________________ Es ist heutzutage allgemeines Gedankengut, das, was eine oder einer tut, aus ihren oder seinen sogenannten Persönlichkeits- oder Charaktereigenschaften zu erklären. Diese Sicht ist bei Gläubigen wie Ungläubigen gleichermaßen verbreitet. Ich habe Zweifel daran, ob das zutrifft. Mir ist klar, dass ich damit dem widerspreche, was in den Psychologielehrbüchern steht. Bei Socken trifft es zu, dass die einen die Eigenschaft haben, im Trockner einzulaufen und andere eben nicht. Ich meine allerdings, dass Menschen ziemlich was anderes sind als Textilien mit bestimmten Eigenschaften. Insofern geht es mir nicht darum, zu debattieren, wer zu Recht oder Unrecht ein positives oder negatives Prädikat zugewiesen bekommt. Mir scheint es in jedem Fall ein Irrtum zu sein, die Gedanken und Taten eines Menschen damit zu erklären, dass er eine starke Persönlichkeit ist oder es ihm an dieser Auszeichnung mangelt.

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WeißeWucherblume schrieb am 18. August 2014 um 14:16: "...seine Beziehung zu anderen Menschen und zu sich selbst..." Sie pflegen eine Beziehung zu sich selbst? Das würde mich mal interessieren, wie das läuft. Wenn Staaten zu anderen Staaten Beziehungen pflegen, entsenden sie Botschafter und sonstiges Personal, nicht nur zur Spionage. Die angebliche Beziehung, die die Mitarbeiterin einer Firma zum Chef oder zur Chefin pflegt, besteht im Gehorsam, der gefälligst als motivierte Selbstständigkeit zu erscheinen hat. Aber jetzt eine Beziehung zu sich selbst?

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