Lukas Augustin
Claudine und der Mörder ihrer Brüder
Zwei Menschen, durch eine furchtbare Tat für immer verbunden, sitzen zusammen am Tisch. Ob sie ihm vergeben wird? Vielleicht. Zwei andere sind schon weiter. Innocent und Wellars, sein früherer Peiniger. Sie teilten sich eine Kuh, redeten miteinander, immer wieder. Ruanda, zwanzig Jahre nach den Massakern: eine Baustelle der Versöhnung

Dieses Haus“, sagt Wellars Uwihoreye und schaut ­seinen Freund an, „weißt du noch, wie wir hier getrunken haben?“
„Ja“, sagt Innocent Gakwerere. Er betrachtet die ­Ruine des Hauses, in dem er vor dem Völkermord gelebt hat. „Vor allem an den Feiertagen.“ Er gluckst. Wellars seufzt. Dann schweigen sie.

„Wir haben auch Fußball gespielt“, sagt Wellars, „unsere ­Eltern waren eng befreundet.“ Innocent kippt einen Mauerrest ins wuchernde Gras. Er rollt einen Stock zwischen seinen Fingern, schaut zu Wellars und fragt: „Bitte, sag mir, wie war es?“
„Es war schlimm. Schrecklich. Wir waren zu Tieren geworden.“
„In der Kirche, wo wir uns versteckt haben, konnten wir die Flammen sehen“, sagt Innocent. „Überall im Dorf war Feuer, Häuser brannten. Als der Mob zu uns kam, bin ich mit“, sagt Wellars. „Jeder wollte plündern. Wir waren Diebe! Wir sind weiter zu deinem Haus. Wir haben alles rausgeholt, dann haben wir es niedergebrannt.“
„Es sah aus, als wäre der Teufel verrückt geworden“, sagt ­Innocent.
„Bruder, meine Reue hört nie auf, bitte vergib mir.“ Innocent kichert. „Ich hab’ dir schon vergeben.“
„Nie wieder werd’ ich so was tun. Glaub mir, Innocent, und wenn es noch einen Völkermord gäbe, ich würde mich zu ­Hause einsperren, statt mich dem Mob anzuschließen. Sie müssten mich umbringen.“

Nahe der Ruine leben Ananias Ndahayo und Claudine Murebwayire. Sie begegnen sich fast jede Woche, aber seit 19 Jahren reden sie nicht. „Wenn ich Claudine sehe, springt mein Herz“, sagt Ananias. „Ich will mit ihr reden. Wenn ihr Begleiter mir zunickt, sagt sie: Warum grüßt du den Mörder meiner Brüder?“ Ananias bat Claudines Schwager, zu vermitteln, aber sie weigerte sich: „Ich will diesen Mörder nicht in meinem Haus. Wechsle die Straßenseite und sprich mich niemals an.“
Mugina ist ein Dorf wie viele in Ruanda, einige Weiler entlang eines Bergrückens. Felder für Hirse, Bohnen und Mais fallen steil ab ins Tal, Bananenwälder tupfen die Erde grün. Während des Völkermords 1994 verübten Hutu-Milizen in der Kirche von Mugina ein Massaker. Tutsi waren von überall hierher geflüchtet, weil der Bürgermeister, ein Hutu, Schutz versprach. Am 20. April, das Morden lief seit zwei Wochen, töteten ihn die Kämpfer der Interahamwe. Dann griffen sie die Kirche mit Gewehren und Macheten an und töteten mehr als 30 000 Tutsi. Innocent Gakwerere ist einer von wenigen Überlebenden.

Einige Tage vor dem Angriff hatte er sich, mit Macheten halb zerhackt, dorthin geschleppt. Bei dem Angriff wurde er erneut zerhackt, Granatsplitter trafen seine Beine. Zwischen Leichenbergen fiel er in Ohnmacht, für vier Tage.
„Einmal habe ich meine Augen geöffnet und sah eine Frau auf mich zu kriechen. Sie hatten ihre Achillessehnen durchtrennt.“ Die Frau hieß Claudine Murebwayire. Noch lebten ihr Mann und ihre Brüder.

"Ich wollte nur noch Rache."

Als er aufwachte, ließ die Interahamwe gerade das Kirchen­gelände für den Wochenmarkt räumen. Ein Bulldozer schob Leichen zusammen. „Mein Körper war voller Würmer“, sagt Innocent. „Ich sah Babys an der Brust ihrer toten Mütter. Ich dachte: Ganz sicher gibt es keinen Gott.“ Männer suchten die ­Toten nach Kleidung und Schmuck ab, Innocent sah einen Mann, den er aus dem Chor kannte. Er flehte: „Zieh mich zur Straße, damit der Bulldozer mich überfährt.“ Der Mann rannte weg. „Als mir klarwurde, dass ich nicht sterben würde, wollte ich nur noch Rache.“

Damals töteten Nachbarn ihre Nachbarn, sechs Menschen pro Minute. Seither sucht das Land einen Weg, mit Hundert­tausenden Tätern umzugehen. Während sich in den Städten ­Täter ­und Opfer aus dem Weg gehen, treffen sie sich in Dörfern wie Mugina jeden Tag.

Wellars Uwihoreye kam 1966 zur Welt. Er wuchs als Hutu unter Tutsi auf, mit zwölf wurde er Metallarbeiter. Von Freunden hörte er, „dass Tutsi Zisternen kauften, in denen sie uns Hutus in Öl braten wollten“. Propaganda aus dem Radio. „Tutsi erzählten mir davon nicht. Sie kamen mir plötzlich wie Heuchler vor.“ Innocent Gakwerere, sein Freund aus Kinder­tagen, arbeitete damals in Kigali. Am 6. April 1994 wurde das Flugzeug des Präsidenten, eines Hutu, im Anflug auf die Hauptstadt abgeschossen. Kurz darauf zogen Hutu-Extremisten mordend durch die Straßen und Innocent, ein Tutsi, beschloss, in sein Dorf zu flüchten.

Als er ankam, war seine Familie schon ge­flohen. Eine Nacht schlief er im Haus, dann versteckte er sich in einer Bananenplantage. Nach zehn Tagen wurde er entdeckt. Jemand schrie „Inyenzi!“ – Kakerlake, dann noch einer, und bald jagten ihn Hutu mit Macheten und Knüppeln. Sie trugen Masken aus Bananenblättern und sangen: „Iyeee tubatsembatsembe, iyeeee, iyeee, tubatsembatsembe.“ Innocent träumt noch davon: „Eeeh, lasst uns sie ausrotten!“ Es war Wellars, der den Mob alarmiert hatte, den Mob, der Innocent fing, der ihn fast zu Tode hackte und blutend zurückließ, bevor er sich zur Kirche rettete.

Wellars zögerte nicht, seinen Freund zu verraten. Tutsi zu töten war für ihn Selbstverteidigung. Jemand hatte ihn gefragt: „Warum hilfst du nicht? Wir kämpfen für unser Land!“ „Da ­habe ich mich sofort dem Mob angeschlossen. Der Teufel ist ­in mich gefahren. Ich spürte Hass, den Drang zu töten. Es war wie ein Kurzschluss im Hirn. Wenn du Gnade spürst oder Liebe, kannst du niemanden töten.“Wenn sich Wellars und Innocent heute treffen, sprechen sie kaum noch über damals

Zur gleichen Zeit in einem Dorf im Ostkongo. Christophe Mbonyingabo, 22, hatte sich bisher nichts daraus gemacht, ein Tutsi zu sein – obwohl seine Familie Jahrzehnte zuvor vor Hutu ge­flohen war. Nun strömten Tutsi-Flüchtlinge aus Ruanda in sein Dorf, mitten unter ihnen die Täter, Hutu-Milizionäre auf der Flucht vor den Rebellen der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) des heutigen Präsidenten Paul Kagame. Sie drohten, an den Bewohnern „die Arbeit zu vollenden“. Christophe schloss sich einer Rache-Miliz an.

Aber er fragte sich auch, wie dieser Hass jemals wieder verschwinden würde. Bald verließ Christophe die Miliz. Er studierte in Kigali, er wollte einen anderen Weg wählen. „Nach dem Holocaust sagte die Welt: ‚Nie wieder!‘ Das klingt gut. Aber wie macht man das?“ Während des Völkermords hatte die UN ihre Blauhelmtruppen abgezogen. Später eröffneten sie ein Strafgericht in Tansania. Christophe war wütend: „Sie selbst hätten sich dort verantworten müssen. Sie hätten den ­Völkermord stoppen können. Ihr habt uns sterben lassen. Was wollt ihr uns jetzt beibringen?“

"Ich wollte, dass Donner sie totschlägt"

Christophe gründete CARSA, eine christliche Organisation, die für Versöhnung eintritt. Er hätte lieber ein Unternehmen aufgezogen. „Aber früher gab es auch Leute, die Geschäfte machten, die hart arbeiteten – und im Völkermord verloren sie alles.“

Als Innocent im Krankenhaus sein Gesicht im Spiegel sah, erkannte er sich nicht. Er dachte an Hiob. „Du magst am Leben sein, aber die Kinder deiner Familie sind tot, dein Vieh ist tot. Ich war sicher, ich würde nie eine Frau finden, mit dieser Nase, diesem Gesicht. Wer würde mich nehmen, behindert und un­fähig, Geld zu verdienen?“ Wo er hinging, sah er Täter. „Sie hatten Land und Vieh, ich hatte nichts. Wenn wir keine Seife im Haus hatten, wurde ich wütend, weil ich kein Geld mehr verdienen konnte. Ich wollte, dass der Donner sie totschlägt. Mein Herz explodierte. Ich hatte keine Kraft, jemanden mit einer Machete zu töten, also wollte ich ihnen schaden, indem ich vor Gericht falsch aussagte.“

Ananias Ndahayo, der Mann, der die Brüder von Claudine Murebwayire getötet hatte, wurde 1996 festgenommen. Er bekam sechseinhalb Jahre Gefängnis.

In den Jahren nach dem Völkermord stauten sich Hunderttausende Fälle auf. 2001 belebte die Regierung traditionelle Dorftribunale wieder. Mitbürger urteilten über die Täter. Wer gestand und um Vergebung bat, wurde milder bestraft. Es war der Versuch, über die Strafe hinauszudenken, an Versöhnung. Als Innocent im Radio davon hörte, war er fassungslos: „Ich spürte keinen Frieden.“ Als Ananias im Radio davon hörte, schrieb er einen Brief an den Staatsanwalt. Er gestand seine Rolle bei acht Morden.

Christophe Mbonyingabo erlebte Versöhnung erstmals bei seinem eigenen Workshop. Ein Mann stand auf und rang um Worte. Er habe die Frau und die Kinder eines anderen Teilnehmers umgebracht. Nun bat er um Vergebung. Minutenlang reagierte niemand. Dann stand der Überlebende auf: „Du warst mein Nachbar, wir kannten uns seit vielen Jahren, und du hast mich so zugerichtet, wie ich heute bin. Aber wie du dir jetzt ein Herz fasst und mich vor diesen Leuten um Vergebung bittest, verzeihe ich dir.“

Christophe sagt, er musste sich zwingen, nicht zu schreien. Er stellte sich vor, er wäre das Opfer: „Was, wenn jemand meine Frau und meine Kinder getötet hätte?“ Lange hatte er für so einen Moment gearbeitet. Aber er konnte diesem Mann nicht vergeben.
Nachts lag er wach. Er malte sich eine Szene aus: „Deine Tochter ist krank. Du fährst sie ins Krankenhaus, aber die Schwester schaut sie nicht mal an. Sie legt sie nur ins Bett und rennt den Flur hoch und runter. Nach zehn Minuten geht sie mit dem Baby ins Nebenzimmer. Dann kommt sie zurück: ,Es tut mir leid, das Baby ist tot.‘“ „Ich sah mich ein Messer suchen, um die Schwester zu töten“, sagt er, „ich sah schon die Nachricht: Ein Mann namens Chris­tophe, ein Christ, hat eine Pflegerin ermordet.“ Christophe setzte sich auf und betete, wie so oft. „Gott, es tut mir leid – verzeih mir! So bin ich. Ich würde Rache nehmen.“

Als Wellars Innocent nach dem Genozid zum ersten Mal sah, erstarrte er. „Es war, als hättest du jemanden getötet und nach ein paar Tagen erfährst du, dass er auferstanden ist. Ich sah meine Vergangenheit, aber ich wollte sie vergessen.“ Wellars war als Strafgefangener zum Arbeitsdienst auf einer Baustelle. Innocent sah ihn und kam näher. „Wie geht’s dir?“, fragte er. „Gut“, sagte Wellars. „Du arbeitest hier?“, fragte Innocent. Er wusste nichts von der Haft. „Ja“, sagte Wellars.

Heute sagt er: „Ich konnte nicht mit ihm sprechen. Ich fühlte mich zum ersten Mal schuldig.“ Nach zwölf Jahren im Gefängnis kehrte Wellars nach ­Mugina zurück, in Todesangst vor seinen früheren Nachbarn. Irgendwann ging er zu Innocent nach Hause und gestand seine Taten. Doch echte Vergebung für die beiden Männer kam langsam. Und sie kam in Form einer Kuh.

2010, bei einem Workshop von CARSA, schrieben Innocent und Wellars ihre Erfahrungen auf – und ihre Sorgen. „Dass ich Gott nicht ­liebe“, schrieb Innocent, und wie ­seine Mutter lebendig verbrannt wurde. „Ich bat Gott, mir Liebe zu ­geben für meine Feinde.“ Sie nagelten die Zettel an ein Kreuz und verbrannten sie. „Ich erinnerte mich an Jesus am Kreuz, wie er seinen Peinigern vergeben hatte. Seither habe ich keine Bitterkeit mehr gespürt.“

Wer in Ruanda eine Kuh besitzt, gilt nicht mehr als arm

Als Wellars Innocent vor der Gruppe erneut um Vergebung bat, sagte der nur: „Komm, lass uns etwas trinken gehen.“ Innocent hatte seine Wut auf Wellars Schritt für Schritt verloren: Er hatte erfahren, dass Wellars kein Planer der Morde war; dass er gestohlenes Land zurückgegeben hatte; und von ihm wusste er, wer seine Brüder getötet hatte. Wellars und Innocent sind jetzt Freunde und sorgen gemeinsam für eine Kuh

Später bekamen Innocent und Wellars gemeinsam eine Kuh von CARSA. Innocent hielt sie, aber sie teilten Milch und ­Dünger, und Wellars brachte Futter. Sie fällten Bäume und bauten einen Stall, und sie führten sie zu einem Bullen, zum Besamen. Wer in Ruanda eine Kuh besitzt, gilt nicht mehr als arm.

Traditionell waren in Ruanda Tutsi die Besitzer großer ­Herden. Im Völkermord jagten Hutu nicht nur Tutsi, sondern auch deren Tiere. „Ihr bekommt die Kühe“ – das war Teil der Propaganda. Manche Tutsi sagen, dass sie nur entkamen, weil die Angreifer so auf ihre Kühe fixiert waren.

Innocent und Wellars haben miteinander so viel über den Völkermord gesprochen wie mit niemandem sonst. Mit der Zeit entstand daraus etwas Tieferes. Sie wurden Freunde. Als Innocents Frau krank wurde, brachte Wellars Me­dizin. Als Wellars umzog, half Innocent. Wenn einer Geld hat, kauft er Fanta für beide – oder abends Bier. Und als die Kuh ihr erstes Kalb bekam, übergab Innocent es vor der Dorfgemeinschaft an Wellars, als Zeichen ihrer Versöhnung. Die Kuh ist inzwischen tot, aber die beiden treffen sich noch fast täglich. Sie sprechen nicht mehr oft vom Völkermord. „Nur im April“, sagt Innocent, „wenn die Gedenkfeiern losgehen. Dann frage ich ihn manchmal: Weißt du, wer diesen Bruder umgebracht hat? Oder diesen Freund?“

Als Christophe Claudine zum ersten Mal fragte, ob sie mit Ananias sprechen würde, wies sie ihn schroff zurück. Letzten Herbst stimmte sie einem Treffen zu, erstmals nach 19 Jahren. Ein enges Zimmer, Lehmwände, ein Mitarbeiter von CARSA fragt Claudine, ob sie bereit sei. Ananias steht auf der Tür­schwelle. Von draußen schwappt Hitze in den Raum. Außer dem Geräusch von Fliegen: Stille.
„Lass ihn kommen“, sagt Claudine. „Ich will hören, was er zu sagen hat“.

Ananias setzt sich ihr gegenüber auf eine Holzbank. Er reibt sein Gesicht, greift nach seinem Ellbogen, kauert, als wollte er unsichtbar werden. Dann spricht er, leise, den Blick gesenkt. „Vergib mir, dass ich dich an die Vergangenheit erinnere. – Es war Mai. Ich habe im Bananen­wald gearbeitet, als wir Schreie hörten. Wir sind zur Straße gerannt und fanden einen Mob, der uns mit zu Bucyanas Haus nahm. Es war die Zeit, als Leute getötet wurden. Die Köpfe waren heiß. Man hörte ein Geräusch und rannte einfach los, wie auf der Jagd. Wir fanden zwei Kinder, mein Halbbruder hatte sie festgenommen, er heißt Iryivuze Martin. Mein Halbbruder sagte zum Hausbesitzer: Du musst diese Kinder töten, sie haben sich bei dir versteckt.“

Claudine hört zu, die Arme überkreuzt. „Bucyana weigerte sich. Die Männer flehten Martin an. ‚Lass ihn Geld geben, er kann das nicht.‘ Mein Halbbruder befahl den Kindern, ihr Grab zu schaufeln. Einem gab er eine Hacke. Doch seine Arme versagten, er blutete.“ Ananias verdeckt sein Gesicht mit der Hand. „Du weißt, dass du getötet wirst, da hast du natürlich keine Kraft. Wir gruben selbst. Mein Halbbruder hatte ein langes Schwert und schärfte es an einem Stein. Die Leute drehten sich weg. Sie waren aufgeregt gekommen, aber jetzt hatten sie Angst. Er ging von Mann zu Mann, und fragte, ob hier niemand diese Kinder töten könne. Dann schlug er den Jüngeren, Ndahayo, mit einer Hacke auf den Kopf, und der stürzte. Ein anderer Mann schlug die Hacke dem älteren, Hakiba, drei Mal auf die Brust.“

Claudine, regungslos, schluchzt leise. „Ich hatte einen Knüppel und habe ihnen damit auf die Füße geschlagen. Dann steckten wir sie ins Loch und bedeckten sie mit Erde. Als ihnen die Luft ausging, versuchten sie zu entkommen.“ Ananias atmet laut. „Wir haben sie lebendig begraben. Sie schrien.“ Claudine reagiert nicht, und Ananias beginnt zu weinen.

„Dann gingen wir nach Lamba“, sagt er. „Bucyana musste uns eine ganze Gallone Bananenbier kaufen.“ Ananias war an acht Morden beteiligt. Doch es war der Tod dieser beiden Kinder, sagt er, der ihn zur Besinnung brachte. „Bei ihnen sah ich zum ersten Mal das Blut. Die anderen hatten wir in den Fluss geworfen.“ Bevor Claudine ihr Schweigen bricht, setzt sie sich auf. Sie senkt die Arme, hebt den Kopf. Es ist eine Eruption.

"Vergebung braucht Zeit"

„Ananias lügt. Was hat er mit dem Schwert getan? Bitte lüg nicht, Ananias! Was du auch sagst, du kannst den Tod dieser Kinder nicht verstecken. Ich weiß alles, auch wofür du das Schwert benutzt hast. Wie du sie getötet hast. Lüg nicht!“
„Aber das würde mir doch gar nicht helfen.“
„Du hast noch nie die Wahrheit gesagt, oder? Nicht mal vor Gericht.“
„Ich habe im ersten Verfahren aus Angst nicht gestanden. Aber ich habe Martin das Schwert nicht benutzen sehen, und wie könnte ich etwas zugeben, was ich nicht getan habe?“
„Du hast sie weinend begraben, ohne Gnade oder Mitleid. Es tut mir weh, ich halte es nicht aus. Deine Kumpane sagen, du hättest sie mit dem Schwert gerichtet. Wenn du dich nicht erinnerst, frag sie!“
„Martin will seine Anklage mildern, indem er über andere lügt.“
„Du hast etwas Teuflisches getan. Gerade waren die Rebellen angekommen. Ich glaubte, zwei Verwandte hätten überlebt.“
Ananias vergräbt seinen Kopf zwischen den Händen, weinend. Nur Claudine redet. „Vergebung braucht Zeit. Man muss schlafen und nach­denken. Ich bin alleine in meiner Familie, aber ich lebe mit anderen Leuten. Ich werde mit ihnen sprechen und dann sehen wir, ob du Vergebung verdienst hast. Die Folter! Warum habt ihr sie nicht gleich getötet? Warum mussten sie drei Tage lang leiden, halb begraben? Du warst ein Kind wie sie, einer hieß sogar wie du: Ndahayo! Doch statt sie zu befreien, hast du sie getötet.“

Claudine lächelt kalt. Dann sagt sie: „Ich habe nichts hinzufügen.“ Ananias sagt: „Ich werde nicht aufhören, um Vergebung zu bitten, und ich werde demütig bleiben.“ Und Claudine: „Es war gut, das von dir zu hören. Ist es nicht das erste Mal, dass du mit mir direkt gesprochen hast?“
„Stimmt, es ist das erste Mal.“

Innocents jüngster Sohn heißt auch Innocent. Wenn die Freunde seiner Kinder ihn nach den Narben in seinem Gesicht fragen, erzählt er ihnen von einem Tier, das seine Nase abgebissen habe. „Gehorcht euren Eltern, wenn sie euch Wasser holen schicken, sonst wird das Tier mit euch dasselbe tun.“

An einem Februarmorgen 2014 hat Innocent Claudine zu Hause abgeholt. Zusammen sind sie dorthin gelaufen, wo sie sich erstmals trafen, wo er fast verblutet wäre und sie auf ihn zugekrochen kam, wo 30 000 Tutsi starben – zur Kirche. Heute ist sie eine Gedenkstätte. Innocent hoffte, er könne Claudine helfen, Frieden zu finden. Auf dem Weg zur Kirche hält er ihre Hand.
„Innocent, deine Nase sieht behandelt aus“, sagt sie.
„Siehst du nicht, wie krumm sie ist?“, sagt er, lachend.
„Kann ich zum selben Arzt? Brauche ich eine Überweisung?“
„Deine Beine brauchen sicher eine Sonderbehandlung.“
„Sie sind vergammelt. Das Laufen tut so weh.“
Als sie ankommen, zögert Claudine. Sie steigen in ein Mausoleum voller Särge. Claudine humpelt, Innocent stützt sie. „Hier habe ich meinen Mann verloren, meine Familie, meine Freunde“, sagt sie. „Sie sind hier begraben. Gibt ihnen das nicht ihre Würde zurück?“, fragt Innocent. „Ihre Würde ist mir doch egal. Glaubst du, wir werden unsere Liebsten je wiedersehen?“ In Gummischlappen schlurfen sie durch Sargreihen. Claudine weint. „Bitte hör auf, sonst muss ich auch weinen. Komm, lass uns in einen Sarg schauen. Hast du das Buch gesehen?“
„Ein Gästebuch!“
„Lass uns reinschreiben. Besuchen wir nicht Mama und ­Papa? Ist schon eine Weile her, dass du deine Familie besucht hast, oder?“
Sie gehen zur vierten Reihe, zweiter Sarg. „Das ist meine Familie. Sie hatten sie verbrannt, aber ich fand die Knochen.“

Claudine verlor ihre kleinen Brüder und ihren Mann. Jetzt erst will sie hören, was der Mörder zu sagen hat

„Sei stark!“, sagt Claudine. „Sag, Claudine, was denkst du über Versöhnung? Wie würdest du dich fühlen, wenn du den Täter hierher bringst? Was würde passieren?“
„Das kann ich nicht. Ich respektiere diesen Ort.“
„Weißt du, mein Herz ist erleichtert, seit ich vergeben habe. Weißt du, dieser Mann kam und bereute vor mir – und obwohl ich von vielen Männern zerhackt wurde, konnte ich dann allen vergeben, auch denen, die mich gar nicht darum gebeten hatten.“
„Vielleicht gelingt mir das auch, langsam“, sagt Claudine. „Wie hast du es geschafft, den Tätern zu verzeihen?“
„Einer von ihnen ist heute mein bester Freund.“
„Ihr trefft euch?“
„Seine Frau ist sogar mit meiner Frau befreundet.“
„Sag das nicht!“

„Ich will dich auch dazu ermutigen“, sagt er. Dann stockt er. „Hab’ ich dir nicht gesagt, dass in diesem Sarg meine Mutter liegt, mein Bruder und seine sieben Kinder? Der Geist der Vergebung entwischt mir, wenn wir sie anschauen.“ Innocent schluchzt. „Sag, war ich ein Idiot, dass ich einem Mörder vergeben habe?“, fragt er.
„Ich will vergeben“, sagt sie, „aber ich spüre es heute – und morgen ist es weg.“
„Lass uns rausgehen, dann zeige ich dir, wo sie mich mit der Machete zerhackt haben. Die Frauen und Kinder waren drin, wir Männer hielten draußen Wache. Ich wurde sofort angeschossen und stürzte.“
„Erst gaben wir ihnen Geld, damit sie uns verschonen“, sagt Claudine, „aber sie sagten: Alle runter! Dann begannen sie uns einzeln zu zerstückeln.“

„Ich habe Demut gelernt, und ich sehe, wie ich gesündigt ­habe.“

„Ich habe etwas an dir bemerkt, Claudine. Du sprichst nicht mit anderen. Du isolierst dich, oder?“ Sie nickt.
„Wenn du wie ich ständig mit verschiede­nen Leuten zu tun hast, fühlst du dich mehr wie ein Ruander. Weißt du, ich rede mit allen, Hutu, Tutsi, Twa.“
„Aber wo triffst du all diese Leute?“
„Es klingt elend, aber ich treffe sie in Bars. Bars unterscheiden nicht zwischen ethnischen Gruppen. Ich sag ja nicht, du sollst in Bars – aber wie ist es mit der Kirche. Gehst du dahin?“
„Sonntags, ja“.
„Gut, gut. Ich gehe auch.“
„Trotzdem trinkst du Alkohol, oder?“
„Ja, aber ich bete auch. Vorher beichte ich ­meine Sünden, meis­tens geht es ums Trinken. Aber weißt du, vor kurzem haben wir einen Anführer in der RPF gewählt, und ein Pastor trat gegen mich an. Er bekam eine Stimme, ich 1000.“
„Weil du viele Leute aus den Bars kennst?“
„Klar.“

Im Januar waren sich Claudine und Ananias auf dem Markt begegnet, und sie hatte ihn gegrüßt. Ananias erzählte seiner Frau und seinen Kindern davon, erleichtert. Sie hatten sichwieder verabredet. Aber nach dem Besuch der Gedenkstätte bekam Claudine hohes Fieber. Die Erinnerung an den Tod ihrer Brüder holte sie ein, sie verließ das Haus nicht mehr und wollte niemanden sehen. Christophe telefonierte mit ihr. „Es ist, als ob Ananias ein Gift in sie injiziert hätte, als er ihre Brüder umgebracht hat. Und jetzt versucht sie, das Gift loszuwerden, es zu erbrechen“, sagt er. „Sie kämpft mit sich: Muss ich diesem Mann vergeben? Ich sage ihr immer wieder: Die Zeit wird diese Wunde nicht heilen, sie wird sie vertiefen. Wenn du nichts tust, wird das Gift dich töten.“

Christophe entschied, Ananias alleine zu treffen. Die beiden laufen über einen Acker. Ananias zeigt auf den gegenüberliegenden Hang. „Da drüben haben wir sie getötet. Damals war das alles Wald. Wenn ich vorbeikomme, muss ich immer an die Leute denken, die hier starben.“
„Wurden sie gefunden?“, fragt Christophe. „Im Gefängnis haben wir den Ort verraten, damit man ihre Leichen zur Gedenkstätte bringen kann.“
„Jetzt, wo wir hier stehen“, fragt Christophe, „was hast du bisher gelernt?“
„Ich habe Demut gelernt, und ich sehe, wie ich gesündigt ­habe.“
„Wenn du willst, dass sie dir vergibt, musst du dich in sie hineinversetzen“, sagt Chris­tophe. „Wie würdest du dich fühlen? Wie würdest du wollen, dass sie dich um Vergebung bittet? Es ist wichtig, dass du dich nicht rechtfertigst.“
„Hmm.“
„Glaubst du, sie hat dir verziehen?“
„Ich habe zwei Mal ihre Hand geschüttelt, wir grüßen uns. Für mich ist das ein großer Schritt.“
„Was willst du tun, damit es vorangeht?“
„Ich will demütig bleiben, damit sie nie bereut, mir vergeben zu haben.“ Einen Satz sagt Christophe zu jedem, mit dem er spricht. Er sagt ihn auch zu Ananias. „Du weißt nicht ob sie dir vergeben wird oder nicht. Du kannst nur eines tun: Du kannst deinen Teil beitragen.“

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