Dirk von Nayhauß
Der dunkle Ort
Eine Trutzburg aus dem 13. Jahrhundert war eines der schlimms­ten Zuchthäuser der DDR. Im Frauengefängnis Hoheneck herrschten verheerende Zustände: überbelegte Zellen, Akkordarbeit, drakonische Strafen. Die „Politischen“ wurden besonders schikaniert – vom Personal und von den schwerkriminellen Frauen, mit denen sie zusammen eingesperrt waren. Drei ehemalige Häftlinge berichten
19.03.2012

Petra Koch

Im Prager Staatsgefängnis war in die Wand das Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ eingeritzt. Ich wusste damals nicht, dass es von Dietrich Bonhoeffer ist. Ich betete es von da an jeden Tag. Ich komme aus einem atheistischen Elternhaus, habe mich aber immer gefragt, ob es doch einen Gott gibt. In Hoheneck durfte man den ­Gottesdienst besuchen. Eine Mitgefangene erzählte mir aber, dass der Pastor unter dem Talar Stiefel trug.

Sie war deshalb überzeugt: „Das ist doch einer von der Stasi.“ Die von mir gewünschte Bibel habe ich nicht bekommen, da ich offiziell konfessionslos war. Doch auch so hat mir mein Glaube geholfen. Ich kannte zwar nicht die Rituale, konnte damals noch nicht das Vaterunser auswendig, aber ich wusste, es gibt eine Kraft in mir: Wenn ich die zulasse, wird sie mir Halt geben und mich nie mehr verlassen. Ich habe Zwiesprache mit Gott gehalten – wie mit einem guten Kumpel.

Ich habe gesagt: Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel. Ich hatte damals meine Zweifel, inzwischen nicht mehr, denn ich bekam ein gutes Feedback von oben. Ich war mir sicher: Mir passiert nichts, und alles wendet sich zum Guten. Und so war es auch. Viele von den kirchlichen Ritualen waren und sind mir fremd. Ich habe nach der Freilassung versucht, mich der Kirche anzunähern, habe mich evangelisch taufen lassen. Aber es ist mir nie gelungen, mich der Kirche als Gemeinde anzu­nä­hern. Doch mein Glaube war und ist unerschütterlich.

"Sie wollten unsere Persönlichkeit brechen,
das war das erklärte Ziel.
Doch  mein Glaube hat mir geholfen"

Und das war gut, denn in Hoheneck wollten sie unsere Persönlichkeit brechen, das war das erklärte Ziel. Hoheneck war ein Ort, wo man Hoffnung und Energie brauchte. Die Zuchthausatmosphäre war natürlich ein unsagbar guter Nährboden für ­alles, was mit Zukunftsdeutung einhergeht. Kartenlegen stand hoch im Kurs, mehr jedoch noch das Orakeln, obwohl beides streng verboten war. Alle Gefangenen haben jede Form von Spiritualität in sich aufgesogen wie ein Schwamm. Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, was es bei mir war: Neugier, Hoffnung oder Glaube? Jeder Mensch braucht in einer ausweglos erscheinenden Situation etwas, woran er sich festhalten kann.

In Hoheneck gab es eine Sage um eine weiße Frau, die dort spuken sollte – es war überhaupt ein mystischer Ort. Ich erinnere mich an ein besonderes Erlebnis bei der ersten Kinovorstellung. Genau diese Situation hatte ich schon einmal geträumt. Das spürte ich mit großer Intensität. Ich hatte mich damals gewundert, warum in meinem Traum nur verhärmte Frauen im Kino ­saßen. Nun hatte mich diese schicksalhafte Traumszene in der Realität eingeholt.

In Hoheneck hörte ich auch zum ersten Mal von den zwölf Heiligen Nächten: Die „Rauhnächte“ vom 25. Dezember bis zum 6. Januar stehen jeweils für einen Monat des neuen Jahres. Was man in dieser Zeit träumt, geht in jenem Monat in Erfüllung. Ich habe in der achten Nacht vom Transport in die Freiheit geträumt und bin wirklich im August entlassen worden.

Als ich 2011 erneut nach Hoheneck fuhr, wusste ich: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, mich der Vergangenheit zu stellen. Ich tat es ganz allein. Es hat sich so ergeben. Erstaunlicherweise war meine Zelle auf ­Planet III, die Nr. 73, die einzige, die offen war. Erst war die Angst groß, dann habe ich mich getraut, hineinzugehen. Ich hatte alles größer in Erinnerung.

Selbst in der leeren Zelle kam es mir eng vor. Da sollen zwölf Doppelstockbetten und Schränke gestanden haben? Ich habe gebetet, weil ich dankbar war, die Zeit dort überlebt zu haben. Es war auch eine Genugtuung, dass die mich nicht kleingekriegt haben, denn in Hoheneck konnten sie mit dir machen, was sie wollten. Sie hätten die Zelle aufschließen, mich an die Wand stellen, erschießen und verscharren können. Man war nur eine Nummer.

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Tatjana Sterneberg

Unrecht kann ich nicht ertragen. Schon in der Schule galt ich als kämpferisch. Zum Beispiel wenn Mitschüler benachteiligt wurden, nur weil ihre Eltern nicht Mitglied der SED waren. Oder für eine Klassenarbeit schlechter benotet wurden, weil diese nicht die ­gewünschten Lobeshymnen auf die Errungenschaften der DDR enthielt. Trotz Indoktrination war ich unpolitisch.

Mit meinem Ausreiseantrag berief ich mich auf die Menschenrechte und die geschlossenen Verträge zwischen West und Ost. In der Ideologie des DDR-/SED-Regimes war ich nun ein Staatsfeind, der „konsequent seine Ausreise fordert“ und mit allen Mitteln der DDR-Geheimpolizei verfolgt wurde. Nach der Verurteilung sollte ich im Frauenzuchthaus Hoheneck mit „Erziehung durch Arbeit“ als politisch Andersdenkende auf Linie gebracht werden. Der Praxis der NS-Zeit entsprechend, vegetierte ich mit 23 Mitgefangenen auf 24 Quadratmetern; größere Zellen waren mit bis zu 60 Gefangenen belegt.

Ausgelegt auf 600 Haftplätze, war Hoheneck 1974 mit über 1600 Frauen mehrfach überbelegt. Zwangsarbeit im Dreischichtsystem, unzureichende Ernährung, unzumutbare hygienische und medizinische Verhältnisse, Postzensur und militärischer Drill waren an der Tagesordnung. Zudem sollte der Einsatz von Stasispitzeln die Politischen zermürben; vermeintlich unbekannte Tatbestände sollten gegebenenfalls erneut justiziabel verwertbar gemacht werden. Immer wieder kritisierte ich die unmenschlichen Haftbedingungen. Immer wieder wurden Arreststrafen gegen mich verhängt; letztlich 14 Tage strenger Arrest, nur weil ich mitbekommen hatte, wie eine Mitgefangene um ihr Leben schrie, und ich daraufhin die Arbeit verweigert hatte.

"Arrest und jede Menge
Psychopharmaka. Es ist ein Wunder,
dass ich überlebt habe"

Eine Metallblende schirmte die Fensterluke der Arrestzelle vor Licht und Kontaktaufnahme ab. Zwei Tigergitter trennten Liegepritsche (ohne Matratze) von Toilettenkübel. Ich erhielt täglich 200 bis 300 Gramm trockenes Brot und je ­einen Topf Malzkaffee, jeden dritten Tag ein warmes Mittagessen.

„Bei Nahrungsverweigerern ist das Wasser abzusperren und keine weiteren Getränke zu verabreichen“, heißt es in der Anweisung der Anstaltsleitung, die ich viele Jahre später im Staatsarchiv, Außenstelle Chemnitz, ausfindig machte. Nach fast drei Jahren Haft, im Oktober 1976, wurde ich im Arrest nicht ansprechbar auf dem Boden liegend aufgefunden. Ich wachte in der Krankenabteilung auf. Nach Rückverlegung in das Arbeitskommando konnte ich tagelang nicht sprechen, meine Sprache war wie gelähmt, wohl eine Folge erneut verabreichter Psychopharmaka. Die letzten Haftmonate habe ich wie durch einen Schleier erlebt und kaum noch agiert.

Nach dem Fall der Mauer habe ich Teile meiner Stasiakten einem Facharzt vorgelegt. „Über längere Zeit waren Ihnen verschiedene Psychopharmaka, auch Neuroleptika verabreicht worden, obwohl Sie unter Unruhe und Schlafstörungen litten. Dass Sie das überlebt haben, ist ein Wunder“, so seine erste Einschätzung. ­Sedativa und Psychopharmaka bewirken bei längerer Verabreichung und höherer Dosierung eine Ausschaltung der bewussten Wahrnehmung. Wer nichts wahrnimmt und sich nicht erinnert, kann nichts erzählen.

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Dr. Renate Werwigk-Schneider

Im Zuchthaus in Frankfurt (Oder) hatte ich es vergleichsweise gut, ich durfte als Ärztin arbeiten. Aber in Hoheneck wollten sie mir es so richtig zeigen und haben mich als Kinderärztin aus­gerechnet in eine Zwölferzelle mit lauter Kindesmörderinnen gesteckt. Die erzählten mir dann immer wieder ihre schrecklichen Geschichten. Überhaupt war die ganze Umgebung furchteinflößend.

Im Erdgeschoss unter uns saßen die alten Nazi­frauen, die grüßten noch mit „Heil Hitler“. Mir lief ein Schauer über den ­Rücken. Es war nur Abschaum dort, und dann hieß es auch noch: „Bild dir nicht ein, du bist was Besseres.“ Es regierte Neid und vor allem Hass, die Lebenslänglichen nahmen es übel, wenn man nur einige Jahre sitzen musste. Ich hatte immer Angst, man tut mir was an.

Ich kam in die Bettwäscheproduktion. Ich sollte doch mal sehen, wie es sich als Arbeiter lebt. Mein Fluchtpunkt war die Kirche, das war ein Ort der Ruhe. Hier konnte ich mich mit anderen Politischen austauschen. Ansonsten war ich mit mir alleine, habe keinen Kontakt gesucht und bin allen aus dem Weg gegangen. Ich war unnahbar, keiner konnte mir was, aber ich fühlte mich wie eine lebende Leiche. Selbst zu den Wachteln war ich arrogant und von oben herab. Körperlich haben sie mir nichts getan, aber man hat mich spüren lassen, dass ich eine Verbrecherin war, auf einer Stufe mit Kriminellen. Das war meine größte Strafe.

 

"Man behandelte mich wie eine Verbrecherin,
ich war auf einer Stufe mit Kriminellen. Das war
für mich die größte Strafe"


Trotzdem war ich nie wirklich verzweifelt, denn in meinem Hinterkopf war immer die Hoffnung, dass ich in absehbarer Zeit wieder rauskomme. Die hygienischen Umstände mit Kübel statt Toilette waren schlimm, das Essen wohl auch. Aber das war mir egal. Mir war der Appetit völlig vergangen. Ich habe zehn Kilo abgenommen, sah aus wie ein Gespenst.

Meine Freilassung sah so aus: Es erschienen zwei Männer und sagten, ich ginge auf Transport. Dann brachten sie mich zur Stasi nach Karl-Marx-Stadt. Dort nahm mich nach längerer Wartezeit ein weiterer Stasimann in Empfang und teilte mir mit, man wolle mich heute entlassen und wohin ich denn entlassen werden wolle. Daraufhin sagte ich: „In die Bundesrepublik.“ Wir fuhren dann an die Grenze bei Wartha-Bebra und warteten. Keiner sprach ein Wort. Dann kam ein Mercedes mit Ostberliner Kennzeichen.

Die Rechtsanwälte Vogel (Ost) und Stange (West) stiegen aus. Ich bekam ein Paket mit all meinen Papieren und einen Blumenstrauß von meinen Eltern. Dann fuhren wir über die Grenze. Ein schwarzer Mercedes mit vier schwarz gekleideten Männern kam, ich musste mich zeigen. Dann hieß es: „Das ist die Richtige“, und ein Geldkoffer, es sollen 100 000 DM ge­wesen sein, wechselte den Besitzer. Später hörte ich, dass zusätzlich auch noch ein Spion für mich ausgetauscht worden war.

Kurz darauf, im Oktober 1968, habe ich meinen Freund geheiratet und das Hochzeitsfoto kommentarlos an meinen Vernehmer in Sofia geschickt, der mir damals prophezeit hatte, wir würden nie zusammenkommen. Das hatte Folgen. Es hieß, ich hätte damit den ganzen Freikauf gefährdet. Denn die Bulgaren waren empört, dass die Gefangenen, die sie brav auslieferten, von der DDR „verkauft“ wurden. Das hätten sie ja auch selber tun können.

Ich bin nicht wieder in Hoheneck ge­wesen, an diesen Ort des Schreckens wollte ich nie zurück. Mein Leben ist schön, ich mag es mir nicht vermiesen. Meine Therapie, das war über all die Jahre mein Beruf. Mit Kindern zusammen zu sein, ihnen zu helfen, hat mir gut getan. Die Zeitzeugenarbeit ist wichtig. Was in diesem Unrechtsstaat geschehen ist, darf nicht vergessen werden.

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Ich suche eine Frau, die im Frühjahr in Potsdam im Stasi-Gefängnis "Linden-Hotel" meine Zellennachbarin war und Wand an Wand mit mir klopfend sich unterhielt, sang, betete. Ich habe die Vermutung, daß es eine der hier "erzählenden" Frauen war, von der ich an anderer Stelle las, sie sei in Potsdam verurteilt worden. Das muß noch vor meinem Verfahren im April 1968 im Bezirksgericht Potsdam gewesen sein, da sie etwa Ende März/Anfang April plötzlich weg war.
Später soll sie mit ihrem Mann in Hannover gelebt haben.
In der Hoffnung einer Wiederbegegnung
J. Matthes

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