Papa-Tage... Mama-Tage
Bilden Sie den Plural von Zuhause! Das geht nicht? Doch, das geht. Manche Scheidungskinder haben eins bei Papa und eins bei Mama
07.10.2010

Alle drei Tage zieht eine kleine Karawane die Straße entlang. Mittwochs nach der Schule zieht sie zum Papa, samstags oder sonntags zurück zur Mama. Jon, neun Jahre alt, sitzt am wackelnden Holztisch in der Küche seines Vaters und erzählt, wie er und sein kleiner Bruder Antonin dann Blockflöte, Fußballschuhe und Schultasche packen. Antonin, sieben, will auch mitreden. Er will vom Donnerstag reden: Da muss er schon um viertel nach sieben in der Schule sein: Schwimmunterricht! Das ist doch wirklich aufregender als die Tatsache, dass er zwei parallele Zuhause hat, einen Küchentisch in jeder Wohnung, der eine wackelt, der andere nicht, zweimal Hosen und Pullover, zweimal Spielsachen und zweimal genau gleichwertige Erziehungsberechtigte ­ ein Doppelleben.

"Das Normalste der Welt"

Was Antonin als "das Normalste der Welt" empfindet, betrifft eine kleine, aber wachsende Avantgarde und ist als gesellschaftliches Phänomen so neu, dass es nicht einmal eine allgemeingültige Bezeichnung für diese Form von Kindheit gibt. Pendel-kinder, Teilzeitkinder, Mittwochskinder ­ Kinder, die von getrennt lebenden Eltern gemeinsam erzogen werden.

Was für eine Zumutung, könnte man meinen. Da werden Kinder für Tage oder Wochen hin- und hergeschoben ­ eine Lebensweise, die schon erwachsene Berufspendler extrem strapaziert. Und das passiert überdies nach einer Trennung der Eltern, die ­ selbst in den seltenen friedlichen Fällen ­ immer einen Riss, ein frühes Leid bedeutet. Mehr als 200 000 Paare lassen sich hierzulande jährlich scheiden, die Hälfte davon hat Kinder unter 18 Jahren. In gut 90 Prozent der Fälle bleiben die Kinder bei der Mutter. Nach ein bis zwei Jahren hat sich bereits die Hälfte der Väter aus dem Leben ihrer Kinder verabschiedet. Das ist die Normalität. Und die kam für Ralph Amann nicht in Frage.

Als Jon und Antonin noch ganz klein waren, teilten sich ihre Eltern die Erziehungsarbeit. Ralph Amann und Helga Lutz schrieben an ihrer jeweiligen Dissertation. Morgens arbeitete Ralph Amann an seiner philosophischen Doktorarbeit "Über die Zerbrechlichkeit der Welt", während seine Lebensgefährtin sich um die Kinder kümmerte, dann gab es ein gemeinsames Mittagessen, am Nachmittag ging Helga Lutz an den Schreibtisch, und abends kamen öfter mal Freunde vorbei. Eine innige Zeit, ein Zusammenwachsen vom Beginn des neuen Kinderlebens an. Wenn Eltern den Alltag mit ihren Kindern von Anfang an teilen, meint Ralph Amann, "dann erlebt wohl fast jeder, dass zwischen Eltern und Kind so viel und auf eine so unhinterfragbare Weise erwächst wie selten zwischen Menschen". Aber dann zerbrach die Liebe zwischen Mann und Frau. Amann spricht davon, wie ihre Leben immer noch miteinander verflochten sind, und er versucht, eine Liebe zu beschreiben, die jenseits von Job- und Partnerwechsel unbegrenzt gilt. Seine Kinder nach der Trennung nur jedes zweite Wochenende zu sehen, wäre ihm falsch vorgekommen und auch keineswegs im Sinne von Helga Lutz gewesen, die damals eine Stelle an der Universität in Erfurt annahm.

(K)Ein statistischer Vater

Ein statistischer Vater beschäftigt sich 20 Minuten am Tag mit seinen Kindern. Manchmal kommt er von der Arbeit, wenn die Kinder schon schlafen, und manchmal hat er auch am Wochenende zu tun. Manchmal wird er bloß als Gast im Familienalltag erlebt. Dann kann es passieren, dass das Kind es nach einer Trennung seltsam findet, wenn es jedes zweite Wochen-ende quasi mit einem Fremden verbringen soll. Ralph Amann ist nicht so ein statistischer Vater. Jo Terbach auch nicht.

Jo Terbach teilte sich mit Vio Mütter häufig Kinder und Arbeit in den ersten Jahren nach der Geburt. Er, selbstständiger Bauunternehmer, übernahm immer mal wieder das Wickeln und Kochen, während sie ihre ersten Bilderbücher illustrierte. Statistisch wahrscheinlich wäre es gewesen, wenn sie nach der Trennung die Kinder übernommen hätte.

Damals war Mabel drei Jahre alt und Silvester fünf, und die Eltern entschlossen sich zu einer paritätischen Lösung. "Es geht doch gar nicht anders", sagt Jo Terbach. "Wie sollte ich das den Kinder später erklären: Ich habe nicht mehr so viel mit euch zu tun gehabt, weil eure Mutter und ich nicht mehr miteinander konnten? Das ist doch keine Entschuldigung."

Die Scheidungsforschung in den USA und in Deutschland kommt zu dem Ergebnis, dass Trennungen nicht unbedingt ein lebenslanges Trauma bedeuten. Die meisten Scheidungskinder wachsen zu ganz normalen, mehr oder weniger zufriedenen Erwachsenen heran ­ und am besten scheint das dann zu funktionieren, wenn Mutter und Vater für die Kinder weiterhin verfügbar bleiben. Und: Väter haben nach einer Trennung wohl nur dann eine Chance, wenn sie vorher viel Zeit mit ihren Kindern verbracht haben.

Robert Hagen leitet seit vielen Jahren sogenannte Scheidungskindergruppen und berät seit der Modernisierung des Scheidungsrechts 1998 immer mehr Trennungspaare, die ihre Kinder paritätisch erziehen wollen. "Dieses Modell stellt die höchsten Anforderungen an beide Elternteile", erklärt der Familientherapeut. "Schließlich müssen viele Dinge abgesprochen werden, und zwar gerade zwischen zwei Menschen, die ­ zumeist schweren Herzens ­ beschlossen haben, sich voneinander zu lösen."

Das Federmäppchen ist noch beim Papa

Vio Mütter, Silvester und Mabel sitzen beim Frühstück, und plötzlich erinnert sich Mabel: Das Federmäppchen ist noch beim Papa. Der erste Anruf beim Vater, vier oder fünf weitere wird der Tag noch erfordern. Der Vater hat das Gefühl: Immer soll ich das Federmäppchen bringen. Und die Mutter ist der Meinung: Ich habe schon so oft das Federmäppchen oder die Turnschuhe oder das Kuscheltier abgeholt, jetzt bist du dran. Erster Streit vor acht Uhr am Morgen, anschließend kann sich Mabel in der Schule nicht konzentrieren, weil das Geschrei der Eltern am Telefon noch nachklingt in ihrem Kopf.

Vio Mütter hat unendlich viel darüber nachgedacht, wie der Alltag friedlicher ablaufen könnte ­ zumal der Streit der Eltern sich auf die Kinder überträgt. Wenn Silvester seine "Ärgertage" hat, bringt er seine Schwester zur Weißglut. Verzweifelt weigert sie sich beim Sonntagsausflug, neben ihm auf der Rückbank des Autos Platz zu nehmen, und läuft stattdessen blindlings die Straße entlang. In solchen Situationen fühlt sich ihre Mutter völlig hilflos. "Es gibt ja keine Muster, wie man als getrenntes Paar zu agieren hat. Es ist ja keine Mathematik, keine Wissenschaft, sondern Zusammenspiel. Man kann sich Erfahrungswerte raussuchen. Wie machen es andere? Wie lassen sich Dinge übertragen, wo sind die Grenzen?"

,Du brauchst heute nicht zu kommen'

Am Anfang wechselten Vio Mütter und Jo Terbach sich alle zwei Tage ab. Zu viel Unruhe, stellten beide nach einigen Monaten fest. Mabel, heute neun, fand das auch. "Dann war ich bei Mama und dann bei Papa und dann bei Mama und wusste gar nicht, wo meine Anziehsachen waren und was ich da machen sollte." Die Eltern suchten sich eine Familienberatung. Dort bekamen sie zu hören: Kinder brauchen einen Lebensmittelpunkt. Also beschlossen sie, die Kinder sollten in der Regel in der großen Wohnung von Jo Terbach bleiben, in der vor der Trennung alle zusammengelebt hatten. Vio Mütter sollte das Pendeln übernehmen, kam am Nachmittag und brachte nach dem Abendbrot die Kinder mit ins Bett. "Wenn alles abgewickelt war, bin ich in meine Wohnung gegangen. Das haben wir ungefähr ein Dreivierteljahr durchgezogen, dann ist mir die Puste ausgegangen. Es gab so viel Spannungen. Wenn der Vater meiner Kinder sauer war, wenn er mich anrief und sagte: ,Du brauchst heute nicht zu kommen' ­ das war furchtbar."

Also wechseln die Kinder nun wochenweise. Silvester findet das ganz gut so. Wenn er beim Papa zwanzig Minuten fernsehen darf und bei der Mama dreißig, dann ist das insgesamt mehr Fernsehen, als wenn es nur eine Regel gäbe. Zugleich legt er großen Wert darauf, beide Eltern gleichermaßen um sich zu haben. "Ich glaube, wenn die Eltern sich trennen und wenn man bei dem einen weniger ist, kriegt man Fantasien, dass der einen nicht so mag. Man kriegt so Ideen."

Silvesters Schwester Mabel ist anderer Meinung. Ihr gefallen weder das Hin und Her zwischen den Elternhäusern noch die Trennung der Eltern überhaupt. Eigentlich hat sie immer Sehnsucht nach genau dem, der gerade nicht da ist. Was sollen die Eltern da tun? Wie soll sich Jo Terbach verhalten, wenn Mabel zu ihrer Mutter will, die am Nachmittag gerade zu Hause ist und sich vielleicht freuen würde, wenn die Tochter bei ihr auftauchte. Warum soll das Kind nicht zu seiner Mutter dürfen? Wegen der Absprachen, Prinzipien, Kontinuität? Aber ist das wichtiger als die Bedürfnisse des Kindes, hier und jetzt?

Das neue Scheidungsrecht verteilt die Erziehungsverantwortung grundsätzlich auch nach der Trennung auf die Schultern beider Eltern. Viele Väter wollen keine Wochenendpapas mehr sein, viele Mütter wollen nicht mehr Kinder und Job allein stemmen müssen, und überhaupt beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass Kinder anwesende Väter brauchen ­ das neue Elterngeld wird diese Entwicklung unterstützen. 

"Was wir hier haben ist eine sehr intime Dreierbeziehung."

Doch der gesellschaftliche Umbruch muss sich in jeder einzelnen Familie vollziehen, jede einzelne Familie sucht nach Lösungen für den eigenen, einzelnen Fall ­ das ist oft ein schmerzhafter Prozess. Es gibt Vorbilder, ebenfalls Einzelfälle, empirische Forschung gibt es noch nicht, dafür ist das Modell noch zu neu. Die paritätisch erzogenen Kinder müssen erst mal älter werden, damit sich die Folgen einer Pendelkindheit untersuchen lassen. Bis dahin gibt es auch für Helga Lutz immer mal wieder Anlässe, sich Gedanken zu machen über die Entwicklung ihrer Kinder. Manchmal befürchtet sie, Jon und Antonin könnten sich zu konfliktunfähigen Autisten entwickeln. Schließlich fehlen all die Streitigkeiten mit gelungenen Versöhnungen am Abendbrottisch einer klassischen Familie, die den zuschauenden Kindern vermitteln, wie anstrengend und zugleich glücklich die gewöhnliche Alltagsliebe sein kann. "Was wir hier haben", beschreibt Helga Lutz ihr Leben mit Jon und Antonin, in dem sie allein die Struktur vorgibt, "ist eine sehr intime Dreierbeziehung."

Früher, in den Zeiten vor ihrer Trennung, gab es zwischen Helga Lutz und Ralph Amann auch Zoff ­ obwohl sie sich alle Aufgaben gut aufgeteilt hatten, blieb bei beiden das Gefühl, mehr Zeit für sich zu brauchen. Eine Hochschullehrerin, die der Kinder wegen drei Tage fehlt, fühlt sich schnell im Nachteil gegenüber ihren Konkurrenten. Wer bekommt die Professorenstelle ­ sie oder der komplett flexible Normalakademiker mit Hausfrau zu Hause? Das ist struktureller Stress, der sich, so erinnert sich Ralph Amann, vehement im Alltag niederschlägt: "Wann immer man den anderen vergnügt Zeitung lesen sieht oder das Gefühl hat, der war jetzt zu lang im Café, denkt man: Ich hätte die freie Zeit so gut nutzen können. Wenn die Zeitnot so ein Thema wird, geht es gar nicht anders, als die Arbeit paritätisch zu trennen. Wir hätten uns sonst die Augen ausgekratzt."

Seit Helga Lutz jeden Mittwoch bis zum Wochenende nach Erfurt pendelt, ist der Wochenrhythmus für Antonin und Jon klar und einfach geworden. Jon freut sich auf die schrammelige Küche beim Vater, die über und über mit Kinderzeichnungen gespickt ist, und Antonin freut sich auf die Kammer bei Mama, wo er aus dem Fenster sehen kann, wer gerade im großen Hofgarten spielt.

Hin und wieder gibt es gerade bei der Übergabe der Kinder noch heikle Momente. Dann kommt schon mal eine pampige Bemerkung über dunkle Augenringe bei den Kindern, wenn Helga Lutz vermutet, sie hätten bei ihrem Vater zu viel unternommen und seien deswegen jetzt zu müde. "Aber mittlerweile sind wir beide verantwortlich genug, um dann drei Schritte zurückzugehen und zu sagen: Okay, das ist so, das war immer so, das wird sich nie ändern ­ und den Kindern geht's gut. Sie fühlen sich an beiden Orten wohl, und das ist das Wichtigste."

Lange Zeit haben Helga Lutz und Ralph Amann auf den direkten Kontakt miteinander weitgehend verzichtet. Der Therapeut Robert Hagen rät Eltern in der ersten Zeit der Trennung manchmal, Telefonate und Treffen zu vermeiden und lieber eine E-Mail zu schreiben, das mildert die Brisanz. Erst jetzt, nach knapp vier Jahren Trennung, enden die unangenehmen Übergabesituationen auf den Treppenstufen manchmal mit einer beiläufigen Einladung. "Willst du noch etwas mitessen", fragt Helga Lutz dann den Vater ihrer Kinder. "Ich habe sehr lange gebraucht, um dafür bereit zu sein. Aber an den Punkt muss man irgendwann mal kommen." Auch Ralph Amann findet das Verhältnis deutlich entspannter. "So, wie wir das aufgeteilt haben, finde ich es wunderbar. Ich habe wieder drei Junggesellentage, an denen ich mental weit wegrücke. Der Kampf um Zeit und um Arbeitsmöglichkeit kann unheimlich schmerzlich sein und viel kaputt machen ­ das ist jedenfalls besser geworden mit der Trennung."

"Spannender ist die Frage, wie sie in dreißig Jahren über ihre Kindheit denken"

Die Eltern von Jon und Antonin befürchteten nach der Trennung einen Riss, deutliche Verhaltensauffälligkeiten, Wut oder andere Gefühlsausbrüche. Aber beide Jungen blieben weiterhin die freundlichen, aufgeweckten, einander sehr zugetanen Kinder, die sie zuvor gewesen waren. Irgendwann im Sommer letzten Jahres gab es sogar einen gemeinsamen Ausflug. Die Eltern dachten, das sei sicher eine ganz besondere Situation für Jon und Antonin. Die beiden aber spielten im Sand am Ufer des Sees, ohne ihren ausnahmsweise vereinten Eltern mehr Aufmerksamkeit als sonst zu schenken. "Viel spannender ist ja auch die Frage, wie sie in zwanzig, dreißig Jahren über ihre Kindheit denken", meint ihr Vater. 

 

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2013 sieht es auf jeden Fall anders aus als 2007, dem Erscheinungsjehr dieses lesenswerten Beitrags.
Denn inzwischen ist das Buch "Wechselmodell: Psychologie - Recht - Praxis" von Prof. Hildegund Sünderhauf erschienen, ein Buch, mit dem sich dringend alle getrennt lebenden Eltern, alle Familienrichter und -berater und alle im Jugendamt befassen sollten - und natürlich auch CHRISMON!

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