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„Wenn ich liebe, liebe ich uneingeschränkt.“
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
22.02.2018

Auf meinem Schreibtisch ist eine neue Biographie von Hans Scholl gelandet. Haben wir nicht schon genügend Bücher über die „Weiße Rose“? Auf diese berechtigte Frage gibt es eine Standard-Antwort: Der Autor hat neue Dokumente gefunden. Doch das überzeugt nur, wenn die bisher unbekannten Quellen ein neues Licht auf das Thema werfen und wenn der Autor mit ihnen etwas anzufangen weiß.

Beides ist hier zum Glück der Fall. Der Hamburger Theologe Robert M. Zoske hat viele Gedichte von Scholl gefunden und kann mit ihrer Hilfe einen intimen Blick in dessen innere Entwicklung werfen. Die Verse, über deren literarischen Wert man nicht mehr streiten sollte, lassen sich als Zeugnisse eines ruhelos Suchenden, radikal Sehnsüchtigen und verzweifelt Liebenden lesen. In ihnen äußert sich eine christliche Frömmigkeit, die anrührt und zugleich befremdet.

Dieses Befremden hat seinen Sinn. Im heutigen Gedenken an die Zeugen des Widerstands kommt es gelegentlich zu gut, manchmal aber auch schlecht gemeinten, in jedem Fall übergriffigen Aktualisierungen. Man wünschte sich mehr Distanzbewusstsein. Da wird eine sentimentale Identifikation mit diesen Märtyrern angestrebt, wo es doch darum gehen müsste, sie in ihrer historischen Individualität zu verstehen und ernst zu nehmen. Wer dies versucht, bemerkt schnell, wie fremd die Widerstandskämpfer von damals heute erscheinen. So ist es bei Bonhoeffers theologischen Schriften, aber auch bei Scholls Gedichten.

Noch etwas Zweites zeichnet Zoskes Scholl-Biographie aus: eine neue Unverklemmtheit. Mit nüchterner Präzision, aber auch mit sensibler Empathie, schildert der Autor die Homosexualität seines Helden. Man sollte sich hüten, Hans Scholl im heutigen Sinne als „schwul“ zu bezeichnen. Nicht nur seine Frömmigkeit, sondern auch seine Sexualität gehört einer weit entfernten Zeit: der Kultur der bündischen Jugend. Aber kein Zweifel kann darüber bestehen, dass hier eine Wurzel seines Wegs in den Widerstand lag. Dass er für seine sexuelle Beziehung zu einem anderen Jungen strafrechtlich verfolgt, inhaftiert und vor Gericht gestellt wurde (§ 175!), gab seinem Leben einen Riss und eine andere Richtung. Dieser Aspekt wurde bisher eher verdrängt oder unterbelichtet. Als gewissenhafter und – wie gesagt – unverklemmter Biograph gibt Zoske ihm endlich sein Recht.

Widerstand zu leisten, ist eine persönliche Entscheidung. Diese bildet das Geheimnis einer moralischen Person. Man kann versuchen, es zu deuten und einzuordnen. Ganz auflösen wird man es nicht. Starke Kräfte wirken im Fall von Hans Scholl zusammen: Freiheitsdurst, Rechtsbewusstsein, christliche Frömmigkeit, aber auch sexuelles Außenseitertum. All dies in den Blick zu nehmen, wäre ein Zeichen dafür, dass man eines Märtyrers wie Scholl wirklich mit Respekt vor seiner ganzen Person gedenkt. Es wäre an der Zeit, dass man auch andere – wie zum Beispiel Jochen Klepper und Dietrich Bonhoeffer – so betrachtete.

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Die kurze Vorstellung der Biographie anlässlich des Jubiläums ist sehr erfreulich und lobenswert. Es wird Zeit, sich auch mit der zweiten Hälfte des Geschwisterpaares zu befassen, und nicht Hans Scholl, wie seit Jahrzehnten aus Homophobie geschehen, hinter seiner Schwester zu verstecken. Es gibt m. W. keine Straße, keinen öffentlichen Platz und keine Schule, die nach ihm benannt ist, aber nicht wenige Benennungen im öffentlichen Raum, die an Sophie erinnern! Das ist unfair und wird seiner Person und historischen Bedeutung keinesfalls gerecht! Es wäre doch eine tolle Sache, wenn die evangelische Kirche, die sich in diesen Tagen (vielleicht zurecht?) mit den Geschwistern schmückt, auf diese Leerstelle im kulturellen Gedächtnis und öffentlichen Raum reagierte und ihn als Namenspatron für eine Einrichtung heranzöge beispielsweise für eine Einrichtung für verfolgte oder geflüchtete Homosexuelle oder einfach mal für eine Kita, eine Schule oder ein Seminargebäude. Ignoranz und Totschweigen sowie verweigertes Erinnern wiederholt die Schreckenstaten des NS-Regimes gegenüber Homosexuellen und tradiert Greultaten. Erinnern wir also an Hans Scholl und geben der Erinnerung einen Platz, der über die Letüre der neuen Biographie hinausgeht, hinaus in den Raum, wo Menschen sind, hinaus, wo Hoffnung fehlt, die Erinnern stiftet.

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