Lena Uphoff
15.11.2010

Also mal ganz ehrlich: Mir fehlt es oft am nötigen Ernst. Und das macht mich manchmal ganz traurig. Es muss schön sein, wenn man sich ständig empören kann. Warum nur verfüge ausgerechnet ich nicht über diese Gabe?

Die Verzweiflung über meine Unfähigkeit, in Wallung zu geraten, erfasst mich regelmäßig, wenn ich die Praxis meiner Zahnärztin verlasse. Birgit und ich kennen uns lange. Aufopferungsvoll ficht sie seit Jahren einen meines Erachtens aussichtslosen Kampf gegen den totalen Zerfall meines Gebisses. Ja, sie ist eine beeindruckende Kämpferin.

Warum kann ich mich nicht empören?

Jedes Mal wenn ich auf ihrem Stuhl sitze und sie mit all ihren Waffen und Instrumenten in die Brummer'sche Ruinenlandschaft einmarschiert, ich also zum Schweigen verdammt bin, beginnt ein großer Monolog.

"Empörend!", zischt sie. Das ist mein Stichwort. "Uasch?" Mehr als dieses "Uasch" kann ich mit gespreiztem Maul nicht zum Dialog beitragen. Aber es genügt auch völlig. "Empörend", bellt Birgit noch mal. Pause. "Gestern Morgen hatten wir eine Sitzung bei der Zahnärztekammer. Die haben wir extra auf halb acht vorverlegt wegen eines bestimmten Kollegen. 7.30 Uhr ­ das musst du dir vorstellen! Und dann kommt der nicht!" Sie reicht mir ein Glas Wasser zum Ausspülen. "Nach einer halben Stunde ruft der Vorsitzende bei ihm an. Liegt der noch im Bett! Sagt, er sei quasi auf dem Weg! Um neun ist er aufgetaucht. Keine Entschuldigung! Nichts. Nur: Tach zusammen." In meiner Zwangslage mit nach hinten gedrücktem Kopf kann ich nur "Hmm" von mir geben, was sie als milde Zustimmung deutet.

Diese Rücksichtslosigkeit. Überall. Die macht sie fertig. Diese Taxifahrer. Die kriegen den Mund nicht auf. Sie war bei einem Kongress in Düsseldorf, stieg am Bahnhof ein. Es war ihr nach Reden zumute. "Ich sag: Schön, mal wieder in Düsseldorf zu sein. Der Typ: Hmm. Ich: Die Baustelle raus nach Kaiserswerth ist ja gar nicht mehr da. Er: Ja. Auf jede Frage nur Ja oder Nein oder Hmm. Einsilbig. Frech. Empörend!"

Dann kommt die Reinigung dran, die keine Flecken mehr rausmacht, sondern nur noch Zettel auf die Klamotten steckt, dass sie den Fleck leider nicht entfernen konnte. Die Patienten, die ihre Rechnungen erst bezahlen, wenn man ihnen mit dem Gerichtsvollzieher droht. Und erst die Kassen! Empörend! Die Zahnärzte seien zu teuer. "Die haben sie doch nicht alle!" Apropos Preise. Birgit war mit ihrem Mann im Kino. Die Preise! Unglaublich!

Mir fehlt es einfach am nötigen Ernst.

Beim Fleischer ist es ja nicht anders. Voll teuer, das Fleisch! Und Qualität gibt's wohl gar nicht mehr! "Jetzt darfst du ausspülen. Was machst du Weihnachten? Also ich überlege mir diesmal wirklich, ob ich einen Baum kaufe. Der letzte hat schon vor Neujahr genadelt wie blöd. Wer weiß, wann die den gefällt haben! Wahrscheinlich schon im September. Überall wird nur gelogen und betrogen!"

Nach einer halben Stunde ist sie fertig. Mit meinem Gebiss und mit der Welt. Jedes Mal. Seit mindestens acht Jahren. Ich geh hin, weil sie eine gute Ärztin ist. Und machmal frage ich mich, ob diese Zornesarien nur mir zuteilwerden oder ob sie Bestandteil von Birgits zahnmedizinischem Konzept sind: Auch Ihre Zahnärztin ist ein leidender Mensch! Vielleicht will sie ihren Patienten die Angst nehmen? Ich hoffe mal, dass es so ist, dass sie sich nicht wirklich über diesen ganzen Alltagsquatsch immer und fortwährend ärgert. Sonst müsste sie mir ja wirklich leidtun. Andererseits: Was hat sie möglicherweise für ein reiches Leben. Überall Schurken, Verbrecher, Betrüger. Überall Heimtücke und Verrat. Da muss man keine Krimis sehen und nicht in die Oper. Und das köstliche Stresshormon Adrenalin hält den Kreislauf oben. Ich beneide sie. Mir fehlt es einfach am nötigen Ernst. Warum nur? Eigentlich empörend, lieber Gott!

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