Lena Uphoff
15.11.2010

"Moltke" nannte unser Großonkel Josef meinen jüngeren Bruder. Der Name eines preußischen Generals als Spitzname für einen fünfjährigen Jungen ­ das bleibt erklärungsbedürftig. Josef B., Soldat des Ersten Weltkrieges, Sozialdemokrat, Gewerkschafter und Hobbyhistoriker, dachte bei dieser Zueignung nicht an die strategischen Fähigkeiten des Grafen. Nein, er würdigte damit das besondere Talent des kleinen Pit, nichts zu reden. Denn Helmuth Graf Moltke, geboren 1800 und gestorben 1891, trug den Beinamen "der große Schweiger". Moltke redete selten und wenn, dann kurz. Seine legendäre Tischrede zum 150. Stiftungsfest der Feldjäger dauerte exakt 30 Sekunden.

Pit war Moltke. Mich nannte Onkel Josef Demosthenes, nach dem griechischen Politiker, der gemeinhin als Erfinder der modernen Kampfrede gilt. Vor knapp 2400 Jahren profilierte sich Demosthenes durch seine polemischen Tiraden gegen den Mazedonenkönig Philipp, den Vater des großen Alexander ­ für die einen der Einiger der Nation, für die anderen der barbarische Unterdrücker der griechischen Stadtstaaten.

Ein großer Schweiger zu sein, das konnte ich schon damals nicht von mir behaupten.

Gleichwie: Mit zehn fand ich Moltke allemal interessanter als den ollen Hellenen. Aber ein großer Schweiger zu sein, das konnte ich schon damals nicht von mir behaupten. Und daran hat sich eigentlich wenig geändert. Ich fülle spielend jede Gesprächspause. Ja, ich empfinde es als regelrecht unangenehm, wenn sich eine Runde von Menschen nichts mitzuteilen hat, sich anschweigt, stumm bleibt. Ich bin dann regelmäßig der Erste, der die Worte nicht halten kann, der ein Stichwort liefert und ein Gespräch in Gang bringen will. Auf den friesischen Inseln, wo man wahrscheinlich schweigt, weil es keinen Sinn hat, gegen den Sturm anzubrüllen, bleibe ich ein Fremdling. Mag Schweigen Gold sein ­ ich liebe Silber. Zu Hause fühle ich mich in den Bars von Bologna, in den Cafés von Arezzo, auf dem Markt von Cortona. Vielleicht habe ich deshalb rasch und leicht Italienisch gelernt. Mein Name sei Jimmy Parlando, stellte mich ein italienischer Kollege seiner Familie vor, "kein wirklicher Deutscher!" Klang nach Kompliment. Wo hingegen der Ton der Missbilligung nicht zu überhören war, als mich der Norddeutsche Jürgen beim Bier nach dem gemeinsamen Sport anpflaumte: "Du bist 'n echter Schnacker!"

Ob Rheinland, Irland oder Italien ­ dort, wo die Redenden ihre Zuhörer an den Gedankengängen teilhaben lassen, fühle ich mich wohl. Meine Welt endet dort, wo man einander nach längerem, stillem Nachdenken nur knapp das Ergebnis mitteilt. Würden Sie nun ausgerechnet von einem wie mir erwarten, dass er den Verlust der Stille beklagt? Aber genau das tue ich.

Das Endlosband mit Akustikschrott

Ja, ich als einer, der gerne und viel redet, bedaure, dass es die Schaltpause im Radio nicht mehr gibt, nach der sich die angeschlossenen Funkhäuser wieder melden. Ich ärgere mich über das Endlosband mit Akustikschrott, das ich ertragen soll, während ich in der Hotline auf den nächsten freien Mitarbeiter warte, "der für Sie reserviert ist". Das ewige Hintergrundgedudel erregt meinen Zorn. Im Supermarkt und im just gelandeten Flugzeug sind wir es schon leid: Dass nun auch der Patron jenes Gourmetlokals bei mir um die Ecke den weich gespülten Musikmüll zwischen die Gänge schwallen lässt, ist nur als heimlicher Aufruf zum Boykott seines Hauses zu verstehen.

Wer miteinander reden will, braucht den musikalischen Nieselregen nicht. Wer das Schweigen liebt, kann ihn auch nicht wirklich wollen. Und echten Musikliebhabern müssten bei dem Gedudel Geschwüre in den Ohren wachsen. Lasst uns also alle zusammen die Pausen retten, einen Rest von Stille ­ um ein Gespräch anfangen zu können. Ein Stückchen Schweigen, um es einfach auszuhalten oder wortlos auszukosten meinetwegen auch.

 

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