Lena Uphoff
15.11.2010

Einige Leserinnen und Leser haben es als respektlos empfunden, dass der Romanautor Martin Suter in chrismon mit dem Satz zitiert wurde, er habe mit Gott, falls es ihn gebe, "noch ein Hühnchen zu rupfen". Er nehme ihm nämlich den Tod seines dreijährigen Sohnes übel. So könne man nicht mit Gott reden, klagten die Schreibenden, wo bleibe der Respekt, wo die Ehrfurcht?

Diese Klage wiederum kann ich nicht nachvollziehen. Ich halte es für ein Zeichen des Glaubens, ja einer innigen, ganz persönlichen Beziehung, einer großen Intimität, dem allmächtigen Gott auf Du und Du seine Verzweiflung, seinen Zorn entgegenschreien zu können. Es ist der Vater, mit dem ich rede, der liebende Vater, dem ich zeigen kann, dass ich mich sauschlecht fühle, ohne dass er mir das übelnimmt. Es ist der Gott des Bruders Jesus, dem ich genau jene Fragen ins Gesicht schleudern kann, die mir kein Mensch beantworten kann. Warum-Fragen sind es, wie sie Jesus selbst am Kreuze hängend ausstieß: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

Der hannoversche Altbischof Horst Hirschler erzählt zu dem Thema gerne eine kleine Geschichte: "Sie sind mit dem Fahrrad unterwegs. Auf freier Strecke springt die Kette ab. Sie versuchen, sie wieder aufzuziehen, und schimpfen vor sich hin: Scheißding! Mit wem reden Sie? Mit dem Fahrrad? Tote Materie - das wissen Sie. Mit sich selbst? Sie sind doch das Opfer des Missgeschicks. Weit und breit ist niemand anderes zu sehen. Mit wem reden Sie? Deshalb sage ich, schimpfen ist eine Vorform des Betens."

Mein Gott kann das ab. Er sieht in die Herzen. Und er weiß, dass die Einsicht "Dein Wille geschehe" manchmal schwerfällt. Er ist ein Gott, der mich versteht, selbst dann, wenn ich ihn gar nicht verstehe. Und er ist ein Gott, der mich liebt, selbst dann, wenn ich meine, ihn gerade nicht lieben zu können.

Wer mit Gott ein Hühnchen rupfen will, ist mir sehr nahe

Vor allem aber ist er großzügig. Wenn ihn ein Suter oder Brummer oder sonst wer anpflaumt: "Mit dir habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen" - wird er nicht wüten und strafen, sondern lächeln. Und Brummer oder Suter oder sonst wer wird ihn, müde vom Zetern, bitten können wie Joseph von Eichendorff: "Was ich wollte, liegt zerschlagen, / Herr, ich lasse ja das Klagen, / Und das Herz ist still. / Nun aber gib auch Kraft, zu tragen, / Was ich nicht will! "

Noch ein anderer Zeuge gefällig? Der große Religionsphilosoph Romano Guardini hält das Sprichwort "Not lehrt beten" höchstens für die halbe Wahrheit. "Ebenso wahr ist, dass man in der Not das Gebet verlernt." Es gebe eine Not, die stumm mache, die das Beten verhindere.

Ich halte es für vermessen, den Hadernden und vom Schmerz Gepeinigten vorzuschreiben, wie sie sich an Gott zu wenden haben. Ein Gott, der nur Anträge entgegennimmt, die formal die nötigen Ehrfurchtsgesten enthalten, kann kein Gott der Liebe sein. Er hätte sich erbost abgewandt zum Beispiel von jenem, der im 69. Psalm bekennt: "Ich habe mich müde geschrien, mein Hals ist heiser. Meine Augen sind trübe geworden, weil ich so lange harren muss auf meinen Gott." - "Tut mir leid", hätte der Gott der Etikette und des anständigen Tons geantwortet, und zwar per Sie, "ich hätte Ihnen geholfen, wenn sie nicht so rumgeschrien hätten. Aber nun müssen Sie eben sehen, wie Sie zurechtkommen." Puuuh, grauslig!

Der Zweifel, das Hadern sind Formen des Glaubens. Und für mich sind sie etwas zutiefst Menschliches. "Ich wusste doch, dass ich einen Sterblichen gezeugt habe", soll ein Stoiker knapp geantwortet haben, als ihm der Bote die Nachricht vom Tod seines Sohnes überbrachte. Sprach's und machte sich wieder an die Arbeit. Wem solche Kühle imponiert, braucht keine Adresse für "die Stimme seines Flehens". Entweder ist er bereits erlöst oder vollständig gefühlskalt, oder er wird irgendwann einen Preis für selbstzerstörerische Verdrängungsversuche bezahlen. Mir ist der Hühnchen rupfende Martin Suter sehr nahe. Und meinem Gott ist er es wahrscheinlich auch.

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