15.11.2010

"Ich brauch' dich. Ruf mich bitte an." Alexandra weiß: Wenn ihre Freundin Julia so knapp auf den Anrufbeantworter spricht, ist etwas passiert. Die beiden verabreden sich noch für denselben Abend. Alexandra macht eine Flasche Wein auf, doch Julia winkt ab. "Für mich nicht. Du weißt doch, ich bin schwanger. Obwohl ..."- "Was ist los?", fragt Alexandra, "freust du dich denn nicht mehr darüber?" Eine lange Pause entsteht. "Soll ich ehrlich sein? Nein." Julia ist Architektin und bekam in letzter Zeit Angebote aus den USA und den Golfstaaten. Eine internationale Karriere winkt. Sie hat lange mit sich gerungen, ob ein Kind in ihr derzeitiges Leben passt. Und sich dann für das kleine Lebewesen entschieden.

Alexandra hatte sich riesig gefreut. Natürlich wird dieses Kind den Alltag der Freundin komplett umkrempeln. Na und? Ist das Leben nicht gerade deswegen so schön, weil es neben Problemen auch mit angenehmen Überraschungen aufwartet? Und ein Kind zu bekommen, ist ja wohl allemal ein freudiges Ereignis. Sie selber könnte Patentante werden und mit anderen zusammen eine Art Netz aufspannen, damit Julia Kind und Beruf unter einen Hut bringen kann. Aber irgendetwas ist passiert. Alexandra ahnt, dass die Freundin wieder mit dem Gedanken einer Abtreibung spielt.

"Was ist los? Weiß Olaf Bescheid?" Olaf ist Julias Lebensgefährte. Ihr Traummann.

"Das ist es ja eben. Er hat mir noch mal klipp und klar gesagt, dass er keine Kinder will. Jedenfalls nicht in den nächsten fünf Jahren. Und ich habe keine Lust darauf, alleinerziehende Mutter zu sein - das habe ich zur Genüge in meiner Familie erlebt." Alexandra spürt, wie Wut auf diesen Olaf in ihr aufsteigt. Und warum will Julia deswegen dem Kind die Möglichkeit nehmen, zu leben - andere kriegen das doch auch hin, allein erziehen. Aber Alexandra zügelt ihren Ärger. Das biblische Wort "Ein jeder Mensch sei schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn" (Jakobus 1,19) hilft, wenn man andere mit der eigenen Überzeugung liebend gern über den Haufen rennen würde, statt sachte um ihn oder sie zu werben.

Reden dürfen, ohne mit Kommentaren und Ratschlägen zugeschüttet zu werden

Alexandra ist klar dafür, dass ihre Freundin auch ohne den Erzeuger das Kind zur Welt bringt. Aber zunächst muss sie hören, verstehen, welche Gefühle, Ängste und Erfahrungen die Schwangere beschäftigen. Das, was ihr durch den Kopf geht, was ihr auf der Seele lastet, braucht Raum. Sie soll reden dürfen, ohne mit Kommentaren und Ratschlägen zugeschüttet zu werden, seien sie noch so gut gemeint. Nur so kann man miteinander anschauen, erspüren, was für Julia das Richtige wäre. Alexandra spielt behutsam mit der Freundin alle Szenarien durch. Wie würde es sein, mit Olaf und beruflichem Erfolg - in dem Wissen, dass eine Abtreibung zur gemeinsamen Geschichte gehört?

Wie könnte es aussehen - ein Leben ohne den Vater, mit quirligem Kind und einer Arbeit, die einem auch eine Menge abverlangt? Die beiden Freundinnen reden die halbe Nacht lang. In den frühen Morgenstunden fährt Julia nach Hause. Während der nächsten Tage meldet sie sich nicht. Alexandra wird unruhig. Soll sie anrufen? Soll sie in die Freundin dringen, das Kind zu behalten? Sie wählt Julias Nummer. "Wie geht es dir?" Die Freundin redet und redet. Tränen fließen. "Ich weiß immer noch nicht, was ich tun soll." Noch ein paar Mal treffen sich die zwei. Reden, hören. Hören, reden.

Dann, nach zwei Wochen, ist Julia wieder am Telefon. "Magst du zu mir kommen? Ich mache etwas zu essen. Einen guten Roten aus der Toskana gibt es auch. Für dich."

 

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