Ja, aber wer ist es, der sich dann um einen kümmert? Susanne Breit-Keßler über verlässliche Freunde und wie man sie findet
16.12.2010

Renate bekommt eine Rundmail. „Es ist ganz wichtig“, steht darin, „im eigenen Handy die Nummer von Partner, Eltern oder Kindern unter dem Namen ICE einzugeben. Im Notfall ­(In Case of Emergency) müssen andere Menschen nicht lange überlegen, wen man informieren soll. Sie brauchen nur die ICE-Nummer zu wählen und haben dann gleich die nächsten Ange­hörigen am Apparat.“ Renate findet die Idee gut. Sie nimmt ihr Handy zur Hand und überlegt. Wer soll es als Erster wissen, wenn ihr etwas passiert? Ihre Eltern sind schon lange tot. Geschwister hat sie keine, Kinder auch nicht. Seit fünfzehn Jahren ist sie Single.

Renate wird richtig melancholisch. Man könnte einen Verkehrsunfall haben, mit einem Herzinfarkt zusammenbrechen – und niemand ist da, der benachrichtigt werden müsste. Ihre Patien­tenverfügung ist auch schon seit Monaten fertig, aber sie muss noch jemanden bevollmächtigen, der dann für sie sprechen soll. Einen Menschen, der für sie und in ihrem Sinn entscheidet, wenn sie nicht mehr in der Lage ist, ihren Willen zu äußern. Sie zündet die Kerzen am Adventskranz an. Wenigstens muss sie Weihnachten nicht alleine verbringen. Sibylle, ihre alleinstehende Freundin, und Renate laden sich wechselseitig ein, manchmal noch ein paar andere Freunde dazu.

Aber komisch – sie hat mit Sibylle noch nie über den Ernstfall gesprochen, über Leiden und Tod. Warum eigentlich nicht? Mit wem redet die Freundin darüber – mit ihren Geschwistern? Oder liegt es daran, dass die Freundschaft eben doch nicht so tief geht und die „schweren“ Themen ausgespart werden? Man spricht ja nicht mit jedem über die letzten Dinge. Es ist offenbar nicht so leicht, eine Alternative zu dem einen geliebten Menschen an der eigenen Seite oder zu Familienmitgliedern zu finden, die mit einem durch dick und dünn gehen. Und denen man anvertrauen kann, wie man gerne leben und vor allem sterben würde.

Also nichts eintragen unter „ICE“, die Spalte „Im Notfall zu benachrichtigen“ im Kalender leer lassen, niemanden benennen? Doch. Es lohnt sich, nachzudenken: Wem vertraue ich, welchem Menschen würde ich sogar mein Leben anvertrauen? Kann schon sein, dass einem nicht gleich jemand einfällt. Aber daran lässt sich arbeiten. „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, heißt es in einem Psalm (Psalm 90,12). Leben vom Ende her bedenken macht weise. Leben und Sterben ist nichts, was einen nur allein betrifft – es geschieht immer auch in der Gemeinschaft. Sie hat Anteil an dem, was einem selber geschieht.

Wer diesen Gemeinschaftscharakter spürt, sollte nicht nur atemlos arbeiten und konsumieren, sondern Beziehungen, Freundschaften pflegen. Er oder sie könnte mit anderen intensive Gespräche über Gott und die Welt, über Diesseits und Jenseits, über Tod und Leben führen: Abends, nachts, bei einem Spaziergang im Schnee. Da stellt sich schnell heraus, wer einen versteht, auf wen man sich verlassen darf, mit wem man Glauben und Skepsis teilt. Eine Diskussion zu mehreren, ein Adventssonntag zu zweit, mit „Fortsetzung folgt“ – daraus kann eine Nähe und Tiefe entstehen, die auch durch schwere Zeiten hindurch trägt.
Renate schreibt sich eine Handvoll Namen auf. Ja, mit diesen Menschen kann sie sich vorstellen, über die wirklich wichtigen Fragen zu reden. Es wird sich lohnen, etwas von sich selbst preiszugeben, Ängste vor schwerer Krankheit etwa und einem bitteren Tod. Oder geheime Hoffnungen auf ein anderes, vielleicht ewiges Leben endlich einmal auszusprechen. Und zuzuhören, wie andere das sehen.

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