Foto: Elias Hassos
Aber ich weiß jetzt, warum du es trägst. Toleranz ist eine Herausforderung – und nicht zu verwechseln mit Gleichgültigkeit
12.10.2012

Jessica überrascht ihre Eltern beim Abendessen mit einem nagelneuen Piercing. Nicht nur Nasenflügel, Bauchnabel und Ohrläppchen funkeln metallen – auch ihre Zunge und die Lippen hat sie sich jetzt verzieren lassen. Ihre Eltern sind entsetzt. Aufseufzend beschließen sie, das Modebewusstsein und den Anblick ihrer Tochter zu tolerieren – wörtlich: auszuhalten. Toleranz ist nämlich die Fähigkeit, zu dulden und zu erdulden, was einem selber eher nicht entspricht. Sich mitschleppen zu lassen in die Sushibar zum Beispiel, wenn man doch sonst der Wirtshaustyp ist. Oder dass die Schwiegermutter immer in diese Piratengebiete reisen muss in ihrem Urlaub. Toleranz verlangt einem viel ab an Respekt und Hochachtung vor anderen, vor ihren Haltungen und Ein­stellungen. Und: Man muss wissen, wann Toleranz angebracht ist und wann es nötig ist, zu widersprechen, ein klares Nein zu sagen. Das funktioniert nur, wenn man Werte hat, die man überzeugend vertreten kann.

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Susanne Breit-Kessler im Interview

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Eine Freundin, jung und mit weltweiten Berufsaussichten, lebt mit einem traditionsbewussten Inder zusammen, der sie nicht gern in einem Büro sehen will, auch nicht als Chefin. Sie fügt sich in ihrer grenzenlosen Verliebtheit, gibt ihre Karriere auf und wird nicht etwa zur leidenschaftlichen Hausfrau und Mutter, was ja auch schön wäre. Nein, sie mutiert zum angepassten Weibchen ohne eigene Meinung. Soll man das kommentarlos tolerieren? Oder ist es erlaubt, behutsam eigene Beobachtungen mit der Freundin zu teilen, ohne sie zu belehren und über eine andere Kultur herzuziehen? Lars, ein künstlerisch außerordentlich begabter junger Mann, macht sich mit Spray­dosen auf, um nachts langweilige öffentliche Gebäude zu ver­zieren. Aber Sachbeschädigung ist kein Spaß – keine nette, tolerierbare Sache. Da hilft es nichts, dass seine Kunstwerke sensationell sind und Lars sich mit den Größen der Zunft messen kann. Wenn er erwischt wird, droht ihm mindestens eine Geldstrafe. 


Toleranz bedeutet, zuzuhören und einen anderen Standpunkt nachzuvollziehen, ohne ihn zu teilen


Toleranz ist eine echte Herausforderung. Auf der einen Seite muss man hinhören, sich einfühlen und auf der anderen Seite vermitteln, was man denkt und empfindet. Wenn mir der ge­bildete Freund, dessen Rücken komplett tätowiert ist, erklärt, dass er eine alte ästhetische Tradition hochhält, verstehe ich ihn besser. Ich werde mir deswegen keine Nasenringe und „Geweihe“ stechen lassen, aber ich verteidige ihn jetzt sogar gegen Kritik, weil ich weiß, was er ausdrücken möchte. Ich poche auf Gleichberechtigung, dennoch kann ich begreifen, dass die Freundin das, was unter Geld und Karriere verstanden wird, inzwischen bedeutungslos findet. Toleranz wird daran offenbar, dass ich zuhören und einen anderen Standpunkt nachvollziehen kann, ohne ihn zu teilen. Ich lerne, Sichtweisen zu verstehen, die nicht die meinen sind – und verzichte darauf, mich darüber zu mokieren oder sie anzugreifen.

Klar ist: Neonazi-Umtriebe, rassistische Parolen, Hetze gegen andere Religionen, frauenfeindliche Witze, Missbrauch von Kleinen und Großen – alles, was Menschen ihrer Würde, ihrer seelischen und körperlichen Gesundheit berauben will, ist nicht zu dulden: Zero Tolerance! Denn wer alles toleriert, ist letztlich genauso gefährlich wie der vollkommen gleichgültige Mensch. Umgekehrt: Wer tolerant ist, bezieht eine eigene Position, versucht, andere zu begreifen, dazuzulernen und selber Wissen weiterzugeben. Toleranz bedeutet nicht, immer umwerfend gut zu finden, was man toleriert – aber es immerhin aushalten zu können.

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Im Falle von Tattoos ist die Toleranzfrage relativ schnell gelöst. Wer sie nicht mag, braucht sich ja keins stechen zu lassen. Wer sich durch den bloßen Anblick von tätowierten Personen schon belästigt fühlt, dem ist zumutbar, in eine andere Richtung zu schauen.

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Chrismon 11-2012

Toleranz ist ein komplexes und oft unterschätztes Thema, Frau Breit-Keßler hat in diesem kurzen Text wichtige Denkanstöße gegeben.

Überhaupt kein Verständnis kann ich allerdings für einen Punkt in der Auflistung der Themen aufbringen, bei denen es überhaupt keine Toleranz geben dürfe: Frauenfeindliche Witze. Und was ist mit Männerfeindlichen Witzen, die es auch gibt? Hier wird wieder einmal impliziert, daß Männer immer Täter sind und Frauen Opfer, daß Männer - auch in seelischem Sinn - stark und robust seien und Frauen schwach und schutzbedürftig. Im Sinn der Gleichstellung hätte Frau Breit-Keßler schreiben müssen "Witze die Geschlecht, Alter oder Herkunft diffamieren" Nur wer kann definieren, wo Humor endet? Ein Witz kann in Bayrischer Mundart humor- und liebevoll klingen, der selbe Witz in Hochdeutsch diffamierend. Auch die Wertigkeit neben Rassismus und Neonazi-Umtrieben ist völlig unangemessen. Ich kann beruflich wie privat leider immer wieder nur feststellen, daß die Diffamierungen zwischen Frauen mindestens ebenso, eher aber verletzender - weil subtiler - sind als billige Macho-Witze, die sich wenigsten einordnen lassen.

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