Tim Wegner
14.10.2011

Der Niedergang des Rucksacks ist nicht mehr aufzuhalten. Er beginnt auf 3210 Höhenmetern, beim Tisenjoch in den Ötztaler Alpen. Er hat ein Zwischenhoch beim Euro-Sondergipfel. Und er endet in den Niederungen von Gewerkschaftsdemos und Kirchentagen.


Auf dem Tisenjoch wurde am 19. September 1991 der Ötzi gefunden, eine 5300 Jahre alte Mumie aus dem Spätneolithikum. Neben dem gefriergetrockneten Wandersmann fand man eine Rückenkraxe, also den Vorläufer des Rucksacks. Ebenfalls in den 90ern trat er seinen Sieges­zug in der Mode an. Nicht nur kernige Bergfexe, sondern auch blasse Handelsvertreter und IT-ler tragen seither ihren Überlebensproviant auf dem Rücken. Gerne schleudern sie einem zum Beispiel im ICE ihr Gepäck ins Gesicht, wenn man am Mittelgang des Großraumwagens sitzt.


Im Lauf der Jahre schrumpfte der Rucksack fast so dramatisch wie einst die Eismumie. Mancher Minirucksack auf dem Rücken einer tapferen Großstadtmama fasste nur noch Handy und Lippenstift. Gerade wollte er peinlich werden, der Rucksack, da trat  auf einem Finanzgipfel Anshu Jain auf, der indische Investmentbanker, der Deutsche-Bank-Chef werden soll. Der trägt immer einen Rucksack, meditiert, lebt vegan, raucht nicht und trinkt keinen Alkohol. Damit wird er vermutlich 5400 Jahre alt.

Droht ein neues Neolithikum?


Wahnsinnig cool, der Inder, und fast könnte man jetzt wieder Rucksackaktien kaufen, wenn nicht eines blöd wäre. Der Rucksack trägt neuer­dings auch alle Sorgenpäckchen dieser Welt. Auf dem Stuttgarter Schlossplatz packen arbeitslose Lehrer der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ihren Rucksack. Bei Firmenfusionen bekommen Mitarbeiter einen Rucksack, um „den neuen Weg gut gerüstet gehen zu können“. Und in Mannheim sollen Katholiken all ihre „Last und Belastung“ in einen roten Rucksack packen für den Katholikentag 2012, ein Zeichen für den „Aufbruch zu einer Kultur der Verantwortung angesichts des Klima­wandels und des Hungers in der Welt“.

Ein Rucksack für den Klimawandel. Droht ein neues Neolithikum? Ötzi, kannst du uns hören?

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Sehr geehrte Frau Ursula Ott, Sie nannten nicht den dramatischsten Aufruf an das Deutsche Volk der letzten Jahrzehnte: „Durch Deutschland muss ein RUCK(sack) gehen“ (Bundespräsident Roman Herzog 1997)

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