15.11.2010

Es ist eine meiner Lieblingsstellen aus Vladimir Nabokovs großem Roman "Lolita": "In Kasbeam verpasste mir ein sehr alter Friseur einen recht mittelmäßigen Haarschnitt: Er brabbelte von einem Sohn, der Baseball spielte, spuckte mir bei jedem Plosivlaut ins Genick, wischte seine Brillengläser hin und wieder an meinem Friseurumhang sauber oder unterbrach seinen zittrigen Scherenschnitt, um mir vergilbte Zeitungsausschnitte zu zeigen, und so unaufmerksam war ich, dass es mir einen Stoß gab und ich plötzlich erschrak, als er auf ein zwischen den alten grauen Haarwassern stehendes Photo deutete und ich begriff, dass der schnurrbärtige junge Baseballspieler seit dreißig Jahren tot war."

Für Nabokov sind die Merkmale eines guten Künstlers: Neugier, Zärtlichkeit, Freundlichkeit und Ekstase. Wo diese Eigenschaften vorliegen, registrieren Schriftsteller sehr viel früher und genauer die subtilsten Formen zwischenmenschlicher Gewalt, Grausamkeit und Demütigung. Viele Schriftsteller sind daher eine Art Seismograph menschlicher Brüchigkeit und Abgründe. Sie sensibilisieren den Leser für die ganze Bandbreite menschlicher Existenz: Schnurren, Spleens, Winkelzüge, Maßlosigkeiten, Borniertheiten, Ambitionen, Aufschneidereien, Illusionen, Traurigkeiten oder Sehnsüchte. Das unterscheidet den Künstler von anderen Menschen und - wie bei Vladimir Nabokov - auch von den Hauptfiguren ihrer Romane. Etwa Humbert Humbert, die männliche Hauptfigur aus "Lolita". Er ist nicht aufmerksam und neugierig, weil seine Aufmerksamkeit und sein Interesse nur auf die zunächst zwölfjährige Lolita gerichtet bleiben, der er verfallen ist.

Der Umweg über Nabokov erlaubt einen neuen Blick auf mein Anliegen: die Sakralität der Person. Sie ist eine der großen Errungenschaften der jüdisch-christlichen Tradition. Menschen aufmerksam wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen, nicht etwa "nur" gewaltfrei und distanziert-respektvoll, ist ein zentrales Ziel des Christentums. Welche Brisanz das für unser Zusammenleben hat, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Selbst für Nabokovs zwiespältige Hauptfigur Humbert gilt: Ein Schriftsteller muss seine Figuren lieben, ohne sie zu verklären, vorführen darf er sie nicht. Auch wenn er Intimes enthüllt, darf er seine Figur nicht bloßstellen. Genau dadurch ist der Schriftsteller ein leiser anthropologischer Optimist - und möglicherweise ein Ratgeber für unseren Umgang mit schwierigen Situationen.

Literatur (auch Film, Theater) leistet Ungeheuerliches: Sie macht aufmerksam für subtile Gefährdungen der Menschenwürde, indem sie den Leser dazu bringt, die geschilderten Abgründe in sich selbst zu entlarven und vor sich selbst zu erschaudern. Erzählungen inszenieren häufig verfehltes Begehren, das in eine Lebenskatastrophe führt, und helfen so gleichzeitig, die Affekte zu kontrollieren. Sie machen damit aufmerksam auf eine mögliche Wende zu einem guten Ende. Der Leser erlebt sowohl Ekel wie Verständnis für eine Figur und ihre Abgründe. Daraus erwachsen Strenge und Milde gegenüber den Abgründen in sich selbst. So festigen sich Werte, so entwickelt sich das Gefühl für die Würde des Menschen. Weil bei Werten Gefühle und große Leidenschaften im Spiel sind, lassen sich Werte nicht umstandslos rational begründen. Vielmehr müssen sie, wie der Soziologe Hans Joas gezeigt hat, durch erzählte Geschichten einstudiert und eingeübt werden.

Nicht zufällig war der Stifter der christlichen Religion, Jesus von Nazareth, ein großartiger Geschichtenerzähler. Und nicht zufällig stammt das Gebot der Nächstenliebe aus dem Mund dieses Erzählers und der Tradition, der er entstammte. Schriftstellerei und Christentum wohnen seit jeher eng beieinander. Beide erzählen Geschichten über die Sakralität oder Heiligkeit der Person.

Der in Israel lehrende Philosoph Avishai Margalit hat in seinem großen, in Deutschland viel zu wenig beachteten Buch "Politik der Würde" den Anstand als Leitlinie der (politischen) Kultur ausgegeben. Eine anständige Gesellschaft zeichnet sich nicht nur durch die Vermeidung physischer Grausamkeit aus, sondern definiert sich auch durch die Vermeidung von Demütigung. Der Wert der Sakralität der Person muss daher in allen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens geschützt werden.

Dieser Respekt sollte eigentlich verhindern, in aufgeregten Diskussionen Harz-IV-Empfängern a priori Faulheit zu unterstellen. Politiker geben sich hier leider nicht selten als anthropologische Pessimisten zu erkennen, die, gewollt oder nicht, damit die Mehrzahl der Empfänger von Sozialleistungen demütigen. Natürlich gibt es auch viel Missbrauch, den man nicht rosarot überblenden darf, aber es geht um eine grundsätzliche Einstellung zu den Menschen. Die (manchmal vorgeschobene) Idee der Gerechtigkeit darf nicht durch Demütigung erkauft werden.

Taugen diese Einsichten für die ethische Praxis, zum Beispiel im Hinblick auf die Erziehung oder auf die schwierige Frage der Sicherungsverwahrung? (Siehe dazu die Titelgeschichte: S. 14-23, die Red.) Auch die Erziehung konfrontiert uns ja mit unserer Haltung zum Optimismus. Auf den Bestsellerlisten tauchen verstärkt markige Erziehungsfibeln auf, Indiz für überforderte und ratlose Eltern. Nimmt man die Literatur als Gefährdungsgradmesser, dann relativieren sich die apokalyptischen Warnrufe: Die Romane über die beiden Schulverweigerer in "Der Fänger im Roggen" von J. D. Salinger (1951) und "Axolotl Roadkill" von Helene Hegemann (2010) liegen dichter beieinander als gemutmaßt. Natürlich: Das Bild des Lehrers hat sich gewandelt, er ist heroischer Sozialarbeiter und Wissensvermittler in einer Person. Drogen sind schneller verfügbar, der Sex anonymer und vielleicht auch abgestumpfter, die Sehnsüchte, Hoffnungen und die empfundenen Demütigungen aber erstaunlich verwandt. Darüber könnte man reden. Die einen verstünden, dass das Gerede über den moralischen Verfall extrem spießig ist, die anderen, dass ihre Probleme auch nicht so ganz exklusiv sind wie gefühlt. Salinger wurde über 90 Jahre alt. Grund genug für einen milden Optimismus.

Die Sakralität der Person, die Würde des Menschen, steht heute in einem besonders schwierigen Zieldilemma: Wird die Würde eines Menschen durch die massive Freiheitseinschränkung der Sicherungsverwahrung verletzt? Wer Wiederholungstäter von Eigentumsdelikten mit Sicherungsverwahrung belegt (auch solche Urteile hat es gegeben), geht zu weit und verschließt die letzten Chancen der Resozialisierung und unterschätzt die Fähigkeit des erwachsenen Menschen, sich zu entwickeln. Eine Gratwanderung ist die Diskussion um Sexualstraftäter, deren Therapierbarkeit fraglich und umstritten geblieben ist. Häufig haben sich die gerichtlich bestellten Gutachter in ihrer Prognose massiv getäuscht. Auch in der Forschung gibt es keinen klaren Konsens über Ursachengeflecht, Motivlage, Triebhaftigkeit und Behandelbarkeit dieser Menschen. Der anthropologische Optimismus erfährt an dieser Stelle einen kräftigen Dämpfer.

In solchen Fällen ist eine Orientierung an der Sakralität der schwächsten Glieder, also der Kinder, notwendig. Ihr Schutz hat die oberste Priorität. Die Würde des Straftäters, die ihm nicht abzusprechen ist, wird der Staat nur in einem eingehegten Raum schützen können. Nicht die Einschränkung seiner Freiheit verletzt seine Würde, sondern eine mögliche soziale Isolation.

Um Isolation zu verhindern, muss ein soziales Netzwerk geknüpft werden, eine institutionalisierte Form der christlichen Nächstenliebe. Sie fordert, dass Christen auch privat durch Besuche oder Briefe die Sozialität der Sicherungsverwahrten aufrechterhalten. Heinrich Böll, Helmut Gollwitzer, später Antje Vollmer und Christa Nickels übten diese Sozialität gegenüber den RAF-Gefangenen, ohne selbstredend deren Taten zu billigen.

"Es zahlt der Mensch mit der Moral den Preis, dass er so viel von Menschenschönheit weiß", zitiert der alternde Humbert Humbert einen antiken Dichter, als er über seine "schmutzige Lust" in einer Mischung aus Selbstmitleid und Entsetzen über sich selbst Rechenschaft gibt. Das ist ein heiterer Satz des Schriftstellers Nabokov, ist doch dieser oft gescholtene und missverstandene Roman nichts weniger als eine Erzählung, die vorführt, wie die Sensibilität für Grausamkeiten und Demütigungen und die Affektkontrolle des Lesers eingeübt wird. Große Literatur kämpft gegen die Indifferenz und glaubt an eine Freiheit und

Wende zum Guten. Deshalb bleibe ich ein milder Optimist.

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