Margot Käßmann zum Notstand in Pflegeeinrichtungen
15.11.2010

"Pflegeheim von Schließung bedroht." - "Mitarbeiter zum Lohnverzicht aufgefordert! " - "Insolvenz droht ..." Solche Schlagzeilen künden vom wachsenden Unheil in der Pflege. Dabei erlebe ich bei meinen Besuchen engagierte Pflegende, die sich bemühen, zum Beispiel Demenzkranken oder Komapatienten ihre Würde zu erhalten. Pflegende, die aus christlicher Haltung, christlichem Ethos heraus denen begegnen, die auf Hilfe und Zuwendung angewiesen sind.

Wer will urteilen, wer lebenswert lebt?

Ich denke an eine Szene in einem Altenheim. Mädchen und Jungen einer Kindertagesstätte besuchen mit ihren Erzieherinnen und Erziehern wöchentlich dieses benachbarte Heim. Ein kleiner Junge warf bei einem der Besuche einer sehr alten Dame einen Ball zu. Doch diese konnte ihn einfach nicht fangen. Der kleine Junge rief ermutigend: "Macht nichts, Ilse, du schaffst das schon! " Und die alte Dame juchzte wie ein junges Mädchen. Sie war glücklich in diesem Moment, es war ihr anzusehen. Wer will urteilen, ob diese Dame lebenswert lebt? Für sie war es in diesem Moment gut so, wie es war.

Aber damit es gut sein kann, brauchen wir gut bezahlte Pflegekräfte! Eine Pflegefachkraft mit einer Vollzeitbeschäftigung verdient im Monat oft nur 1500 Euro netto. Kostenträger dürfen nicht zulassen, dass Beschäftigungsverhältnisse konstruiert werden, in denen Mitarbeitende noch weniger verdienen. Zugleich steigen die fachlichen und persönlichen Anforderungen an Mitarbeitende in der Altenpflege ständig - mehr Leistung für weniger Lohn.

In der Pflege beobachten wir ein Lohndumping

In der Pflege beobachten wir ein Lohndumping zulasten der Menschen, die Zuwendung geben, und jener, die darauf angewiesen sind und keine politische Lobby bilden können. Ein Mindestlohn in der Pflege könnte schlimmsten Missständen wehren. Kirchliche Einrichtungen zahlen in der Regel deutlich mehr als den jetzt geforderten Mindestlohn. Was aber, wenn argumentiert wird: "Andere können das billiger, orientieren Sie sich in Zukunft am Mindestlohn, der deutlich unter Ihren Löhnen liegt! "? Ich plädiere für einen Mindestlohn in der Pflege, der aber auf einem angemessenen Niveau liegen muss und sich nicht an den billigsten Anbieter anlehnt.

Die Mitarbeitenden in Kirchen, Diakonie und Caritas ringen seit Jahren um eine Verbesserung der Altenpflege. Aber die Kranken- und Pflegekassen weigern sich seit langem, ausreichend für die Pflegeleistungen zu zahlen. Und so wird an den Personalkosten gekürzt: kürzere Pflegezeiten, dünnere Personalpläne, kleinere Schichtmannschaften. Viele Pflegekräfte arbeiten an der äußersten Grenze ihrer Belastbarkeit. Sie erleben hautnah den Widerspruch zwischen dem Ziel einer würdigen Pflege und dem Kostendruck. Ihnen muss unsere Solidarität gelten. Denn sie leisten etwas, was zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft beiträgt. Wir werden alle alt werden. Wem wollen wir uns anvertrauen?

Es geht nicht einfach um Dienstleistung, sondern Würde und Mitmenschlichkeit

Pflege ist nicht einfach eine Dienstleistung. Es geht um Würde und Mitmenschlichkeit, um die Haltung unserer Gesellschaft insgesamt. In der Bibel steht: "Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren und sollst dich fürchten vor deinem Gott" (3. Mose 19,32). Diese Aufforderung ist wieder hochaktuell! Gottesfurcht und Respekt vor den alten Menschen gehören zusammen. Heute gilt es, für angemessene Löhne in der Pflege einzutreten - um der Mitarbeitenden und der Gepflegten, aber auch um der Würde unserer ganzen Gesellschaft willen.

Permalink

Was ist aus der Unterstützung(Margot Käßmann) geworden?

Es wird viel Geredet über das Thema, passieren tut sich nichts.

Permalink

Ihre Beschreibung entspricht den Tatsachen:
Man kann nur dort höchste Arbeitsqualität erwarten, wo man den entsprechenden Preis dafür bezahlt. Besonders, wenn es um Menschlichkeit und den professionellen Umgang mit Hilfsbedürftigen geht, muss die Bezahlung dementsprechend sein. Diese Denkweise darf nicht bei der medizinischen Versorgung durch Ärzte aufhören.

Permalink

Was ist gegen eine Nettogehalt von "nur" € 1.500,00/Monat zu sagen. Dies sind für den Arbeitgeber (abhängig von der Lohnsteuerklasse des Arbeitnehmers) Kosten von ca. € 2.500,00/Monat (brutto-brutto) ! . Kann es sein, dass Frau Käßmann zwischenzeitlich etwas den Bezug zur Realität verloren hat ?

Ralf schrieb am 18. Juli 2015 um 18:06: "Was ist gegen eine Nettogehalt von "nur" € 1.500,00/Monat zu sagen." Dagegen ist zu sagen, dass daraus ein ziemlich eingeschränktes Leben folgt. Und dass der Hinweis, dass viele mit noch weniger auskommen müssen, ebenso zutreffend ist wie auch keinerlei Empörung auf Seiten der Betroffenen nach sich zieht, zeigt, welch widerwärtigen Laden die gepriesene moderne Gesellschaft darstellt.

Antwort auf von Iwan der Schre… (nicht registriert)

Permalink

Danke für den Hinweis lieber Iwan. Ich feile noch etwas an meinem christlich-sozialistischen Bewußtsein, befürchte aber, dass ich für den Fall, dass hier doch der christliche Sozialismus um sich greift zunächst in der Produktion oder in der Umerziehung zum richtigen Einstellung lande (muss leider immer rumrechnen und hänge an den Grundrechenarten). Muss aber als alter Zweifler doch nachfragen, welchen Nettolohn die Gerechtigkeitskommission unter Führung von Frau Kässmann dann als angemessen ansehen wird, T€ 2 oder 3 netto (zur Berechnung des Brutto siehe oben) ? Dann nähern wir uns so langsam den Einstiegsgehältern im höheren Dienst. Wie soll das ganze gegenfinanziert werden, Umsatzsteuer zwei Prozent nach oben, Einkommenssteuer rauf, Angehörige belasten oder sparen wir uns die Kirchensteuer und finanzieren damit den höheren Aufwand (bitte immer davon ausgehen, dass sich die wirklich reichen Menschen ihren Wohnsitz längst in der Schweiz haben und dort versteuern). Bitte um Erhellung.

Ralf schrieb am 1. August 2015 um 19:00: "muss leider immer rumrechnen und hänge an den Grundrechenarten". Diese Mühe können Sie sich gerne sparen. Der Taschenrechner kann in der Schublade bleiben. Das Volk ist immer zu teuer für die soziale Marktwirtschaft. Das liegt nicht am kleinen Einmaleins. Es liegt daran, dass jeder Euro, den die Unternehmerseite als Lohn oder Gehalt oder sogenannte Nebenkosten für die zweibeinigen Unkostenfaktoren wegdrücken muss, ein Euro zuviel ist. Jede Kost, egal ob für Vorprodukte, Rohstoffe, Energie, den Brandschutz oder die Arbeitskraft der Belegschaft, muss ständig und mit aller Zielstrebigkeit darauf überprüft werden, ob es nicht auch billiger geht. Sonst geht es nämlich mit dem Gewinn nicht aufwärts. Und vom langfristigen Geschäftserfolg der Firmen in der Konkurrenz hängt in dieser glorreichen Gesellschaft alles ab. Wer dann seinen Lebensunterhalt vom Lohn oder Gehalt bestreiten muss, hat eben Pech gehabt.
______________________________________________
Zitat: "Muss aber als alter Zweifler doch nachfragen, welchen Nettolohn die Gerechtigkeitskommission unter Führung von Frau Kässmann dann als angemessen ansehen wird". Von fürchterlich gerechten 1500 Euro kann sich der Gehaltsempfänger genau so viel oder wenig leisten wie von ungemein ungerechten 1500 Euro. Wer also gerechten statt höheren Lohn will, ist schon angeschmiert. Dass die kirchlichen Moralisten darauf abfahren, ist nicht anders zu erwarten. Dass auch Gewerkschaftler und die Normalverdiener selber nach Gerechtigkeit statt nach mehr Kröten trachten, ist allerdings ein Schnitt ins eigene Fleisch, über den die Gegenseite nur jubilieren kann. Daher rührt ja auch das hohe Ansehen der Gerechtigkeit hierzulande.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.