Stimmt unsere Wahrnehmung überhaupt?
20.10.2010

Wenn ich mich als Frau der Kirche für den Frieden einsetze, wird mir oft die Kirchengeschichte entgegengehalten. Wie war das mit Kreuzzügen, Hexenverfolgung, Inquisition ­ schürt das Christentum, ja Religion insgesamt nicht geradezu Konflikte?

Meist geht es um politische Konflikte, die Religion ist nur das Öl im Feuer

Denken wir an den Nordirlandkonflikt, der unter dem Vorzeichen "Katholiken ­ Protestanten" geführt wird. Denken wir an den Krieg im ehemaligen Jugoslawien: Auf einmal ging es um katholische Kroaten, orthodoxe Serben und muslimische Bosnier. In der Ukraine tobt ein Konflikt zwischen der orthodoxen Kirche und der griechisch-katholischen. Denken wir an die religiösen Komponenten im Nahostkonflikt, an die antijüdischen Parolen des iranischen Staatspräsidenten, an Sunniten und Schiiten, an Christen in Angst vor Muslimen in Indonesien oder an hinduistische Konversionsverbote in Indien. Trotzdem halte ich die Analyse für vorschnell. In der Regel geht es um politische oder kulturelle beziehungsweise machtpolitische Konflikte, in denen Religion gezielt genutzt wird, um Öl in das Feuer zu gießen. Und manches Mal lässt sich Religion verführen, dies zu tun.

Ich bin überzeugt, dass die Kirche in die Irre gegangen ist, wann immer sie Gewalt legitimiert hat. Jesus Christus war kein Revolutionär mit der Waffe in der Hand. Er hat Frieden gepredigt, nicht Krieg, Feindesliebe, nicht Hass. Und: "Das Friedenspotential von Religionen", so auch der Titel einer neuen Studie von Markus Weingardt, wird viel zu selten wahrgenommen. In dieser Studie wurde gerade gezeigt, dass religiös motivierte Akteure zur Verminderung von Gewalt in politischen Konflikten beitragen. An nicht weniger als vierzig Beispielen, so am Konflikt zwischen Argentinien und Chile, den Friedensverhandlungen in Kambodscha oder dem Osttimorkonflikt, wird deutlich, was solche Vermittler leisten. Ihre Glaubwürdigkeit, die Verbundenheit mit der Bevölkerung und ein Vertrauensbonus sind entscheidend dafür, dass sie erfolgreich in gewaltsamen Konflikten vermitteln.

Religion kann den langen Atem für den Frieden schenken

Es zeigt sich, dass wir viel zu sehr fixiert sind auf Selbstmordattentäter, die ihr grauenvolles Tun religiös begründen, auf Fundamentalisten, die meinen, im Namen Gottes sei Gewalt zu rechtfertigen, und auf Kriegstreiber mit Kreuzzugsmentalität. Die Öffentlichkeit muss endlich auch sehen, was an mühseliger Friedensarbeit geleistet wird, oft ohne finanzielle Mittel, allein mit der Kraft der Überzeugung und dem langen Atem, den Religion schenken kann. Die "emotionale Konfliktbearbeitungskompetenz", wie sie Markus Weingardt so schön nennt, zeigt sich aufseiten der religiös motivierten Vermittler in kleinen Gesten wie dem Besuch eines Flüchtlingslagers, der Teilnahme an einer Demonstration, der Kontaktaufnahme mit Rebellenführern, dem Gebet im Minengebiet, der Bereitschaft, für den eigenen Friedenswillen ins Gefängnis zu gehen oder gar das eigene Leben zu riskieren.

Wir sollten diese Kompetenz entwickeln, uns als Christinnen und Christen ausbilden lassen in gewaltfreien Formen der Konfliktbewältigung und als Kirchen in zivile Friedensdienste investieren. Hier liegt ein gewichtiges Potenzial der Religionen, das viel bewusster ausgeschöpft werden kann. Wenn wir nur einen Bruchteil der Milliarden US-Dollar, die Monat für Monat für den Irakkrieg ausgegeben werden, in zivile Konfliktbearbeitung, Prävention und Mediation investieren würden, das wäre ein spürbarer Fortschritt für den Frieden.

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